ed 04/2016 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


spanien: Cáceres - lebendiges Mittelalter-Museum als Weltkulturerbe
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Der Methusalem des brasilianischen Fußballs lässt sich in die Karten schauen
15 Fragen an Zé Roberto
THOMAS MILZ
[art. 2]
uruguay: Vom Ex-Sträfling zur Kultfigur – der Gaucho
LARS BORCHERT
[art. 3]
brasilien: Alles ist im Fluss
Die Basilika von Aparecida am Shopping-Center des Glaubens
THOMAS MILZ
[art. 4]
hopfiges: Ceriux aus der Rioja
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
sehen: Schätze aus der Unterwelt (Terra X)
Funkelnde Tunnelanlage in Teotihuacán / 07. Mai auf arte
[kol. 2]
lauschrausch: Guinga & Maria João
Mar afora und Roendopinho
TORSTEN EßER
[kol. 3]





[art_1] Spanien: Cáceres - lebendiges Mittelalter-Museum als Weltkulturerbe
 
Cáceres, die heimliche Metropole der Extremadura (mit nur 80.000 Einwohnern eher ein Metropölchen) ist heute eine lebendige Universitätsstadt, deren Ortszentrum schon 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Gegründet wurde Cáceres 78 v.C. als römisches Heerlager Castra Caecilia, aus dem um 35 v.C. die Stadt Colonia Norba Caesarina entstand. Als die Araber die Stadt im 8. Jahrhundert eroberten, gaben sie ihr den Namen Hizn Qazris; allerdings blieb sie während der arabischen Epoche eine unbedeutende Provinzstadt. Erst im 11. und 12. Jahrhundert, nach der Besetzung durch die Almoraviden und Almohaden, deren Herrscher von Sevilla aus regierten, wurde Cáceres zu einer wichtigen Stadt im Westen der Iberischen Halbinsel.

[zoom]
[zoom]

Im 12. Jahrhundert, im Lauf der Reconquista-Kriege, wechselte in Cáceres mehrfach die Herrschaft zwischen den almohadischen Kalifen und den katholischen Königen von León und Kastilien, bis schließlich 1229 König Alfons IX. die Stadt endgültig in Besitz nahm.

Aus der Zeit vor der kastilischen Eroberung stammen die almohadischen Stadtmauern und der wuchtige Torre de Bujaco. Der Name des Turms geht zurück auf den Kalifen Abu Yakub, der Cáceres ein letztes Mal für die Almohaden zurück eroberte und die christlichen Ritter, die den Turm bis zuletzt verteidigten, hier köpfen ließ. Jedenfalls hatten sie im Augenblick vor ihrem Tod eine grandiose Aussicht über die weite Landschaft der Extremadura. Heute breitet sich unterhalb des Turms der Renaissance-Platz (Plaza Mayor) von Cáceres aus.

[zoom]
[zoom]

Wenn man von der im 16. Jahrhundert (um 1577) gebauten und weiß getünchten Plaza Mayor durch den Sternen-Torbogen schreitet, gelangt man jenseits der almohadischen Mauern in eine andere Welt. Man ist gefangen in einem stillen Labyrinth düster-geheimnisvoller Mauern des Mittelalters, in einer Szenerie, die dominiert wird von 15 mächtigen Wehrtürmen alter Adelspaläste aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Es gab mehr als doppelt so viele von diesen Türmen, aber Königin Isabella von Kastilien befahl 1479 allen Adelsfamilien, die beim Kampf um die Krone Kastiliens nicht auf ihrer Seite gestanden hatten, zum Zeichen der Demütigung, ihre Türme zu verkürzen oder ganz zu schleifen. Der höchste Turm von Cáceres ist der des "Storchen-Palastes" Casa de las Cigüeñas. Er gehörte dem Adligen Diego de Ovando, der den richtigen Riecher hatte und wusste, dass mit der gestrengen Isabella nicht zu spaßen war und sich beizeiten im Thronkampf auf ihre Seite schlug.

Im Laufe des 16. Jahrhunderts, ausgelöst durch den unverhofften Reichtum, den viele mitbrachten, die von hier als Habenichtse den weiten Weg über den Atlantik wagten und mit Gold, Sklaven und indianischen Ehefrauen aus Amerika zurück kamen, wurde das Mittelalter-Puzzle aus maurischen und gotischen Bauten durch Elemente der Renaissance ergänzt. So erhielt die frühgotische Kathedrale Santa María einen wunderbaren Renaissance-Hochaltar aus Zedernholz, geschaffen vom Bildhauer Roque Balduque um 1551.

[zoom]
[zoom]

Und die mittelalterlichen Paläste wie Casa de los Golfines, Casa de los Sande und Casa de las Veletas (beherbergt heute das Archäologische Museum) wurden mit modischen Renaissance-Balkonen und Portalen ausgestattet. Dazu kam noch eine Reihe neuer Paläste im Renaissancestil. Der größte und mächtigste von ihnen trägt den klangvollen Namen Palacio de los (Toledo-)Moctezuma. Er wurde erbaut von einem Konquistador, der eine aztekische Prinzessin heiratete und mit nach Cáceres brachte (die Tochter von Moctezuma II.). Heute ist hier das Historische Archiv untergebracht.

[zoom]
[zoom]

Nicht nur die unzähligen Storchennester, sondern auch eine spektakuläre Pflanzenwelt ergänzen das harmonische Gesamtbild der intakten Altstadt von Cáceres. Besonders beeindruckend sind der völlig mit Efeu überdeckte, gotische Torre de los Sande, die Bougainvillea-Lawine neben dem Arco de las Estrella und die gewaltige Rotbuche am Jardín de Doña Ulloa. Empfehlenswert ist in jedem Fall ein Aufstieg auf den Turm der Kathedrale und die Türme der barocken Jesuitenkirche San Francisco Javier. Beide sind etwa doppelt so hoch wie der Torre de Bujaco und entsprechend gut ist der Ausblick auf die Altstadt und das Umland. Zudem steht man dabei direkt unter den Glocken, die zur vollen und halben Stunde schlagen (Vorsicht - so ein Glockenschlag ist sehr laut und kann Unvorbereiteten einen gewaltigen Schrecken einjagen.)

[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]

Die doppeltürmige Jesuitenkirche aus dem 18. Jahrhundert mit ihren vergoldeten Altären ist übrigens eines der wenigen "neueren" Bauwerke im ummauerten Mittelalterbezirk von Cáceres und beherbergt heute eine sehr interessante und kritische Ausstellung zur Kirchengeschichte.

Der Besuch von Cáceres gleicht einer Zeitreise voller Impressionen aus einer längst vergangenen Welt der Ritter und Konquistadoren, in der vorübergehend nichts an die Moderne erinnert. Und wem es im mittelalterlichen Gassen-Labyrinth und im Schatten düsterer Türme zu still wird, der kann zurück kehren auf die helle, von Licht überflutete Plaza Mayor, seit dem 16. Jahrhundert das Wohnzimmer von Cáceres, wo man schon seit Generationen die Köstlichkeiten der Extremadura genießt: Schinken und Braten der schwarzen Schweine, die fast nur Eicheln fressen, Forellen aus dem Fluss Jerte, Kirsch-Törtchen. Und auf jeden Fall empfiehlt sich abends zur Dämmerung oder zum Sonnenuntergang ein Ausflug zum Heiligtum von La Montaña (1 Kilometer südöstlich von Cáceres).

[zoom]
[zoom]

Vom Plateau der hoch gelegenen Wallfahrtskapelle hat man einen grandiosen Blick auf das Lichtermeer von Cáceres und kann bei "Miguel" einkehren (Restaurant mit großer Terrasse und sehr freundlicher Bedienung). Auch die Santiago-Pilger, die auf der Vía de la Plata durch Cáceres kommen (hier ist ca. ein Drittel des Weges nach Santiago geschafft), sollten Cáceres mindestens zwei Tage widmen - es lohnt sich!

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Unterkunft in Cáceres:
4-Sterne-Hotel NH Palacio de Oquendo, Plaza San Juan 11, 10003 Cáceres, Telefon:+34 927 21 58 00
http://www.nh-collection.com/es/hotel/nh-collection-caceres-palacio-de-oquendo
Renaissance-Palast mit schönem Patio, edlem Ambiente und gutem Restaurant

Verpflegung in Cáceres:
Die Restaurants / Tapas-Bars an der Plaza Mayor bieten alle gute Standards, sind jedoch nicht unbedingt günstig; da bezahlt man den Platz halt mit. Innerhalb der Mauern sind die Restaurants tendenziell allerdings noch teurer.

Bestes Restaurant an der Plaza Mayor, Küche moderner und innovativer als bei den anderen, günstiges Mittags-Menü mit großer Auswahl und exzellenter Weinkarte und vielen Gerichten mit dem besten Käse Spaniens (Torta del Casar) aus der Provinz Cáceres:
Cayena - Restaurante y Kitchen Club - Plaza Mayor, 9 - Cáceres
Tel.: 927 24 54 97
info@restaurantecayena.com

Auch nicht günstig, dafür aber alles vom Feinsten: Mesón San Juan, an der Plaza de San Juan, neben Hotel Palacio de Oquendo (s.o.) bietet Spezialitäten der Region und gute Weine wie den legendären Rotwein "Habla del Silencio", Tel. 927-626648

Kirchen:
Kathedrale Santa María: geöffnet 10.00 bis 12.00 Uhr sowie 13.00 bis 19.30 Uhr, Eintritt inkl. Turmbesteigung: 1 Euro
Jesuitenkriche San Francisco Javier: geöffnet 10.00 bis 14.00 Uhr sowie 16.30 bis 19.30 (Sommer von 17.00 bis 20.00 Uhr), Eintritt inkl. Turmbesteigung: 1 Euro

Casa de las Veletas / Archäologisches Museum: geöffnet Di. - Sa. 9.00 - 14.30 und 16.00 - 19.00 Uhr (Sommer 17.00 - 20.00 Uhr), montags geschlossen, So. 10.15 - 14.30 Uhr, Eintritt frei

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Der Methusalem des brasilianischen Fußballs lässt sich in die Karten schauen
15 Fragen an Zé Roberto

Mit 41 Jahren ist Zé Roberto noch immer einer der besten Fußballer der brasilianischen Liga. Der ehemalige Spieler der Seleção, Bayern Münchens, Bayer Leverkusens und des HSV plant seine erfolgreiche Karriere noch dieses Jahr bei Palmeiras ausklingen zu lassen. Wir haben Zé 15 Fragen gestellt:

Caiman: Im Jahr 2016 werde ich...
Zé Roberto: ...noch ein Jahr spielen.

Caiman: Um mit 41 noch in Form zu sein, sollte man nicht....
Zé Roberto: ...trinken und rauchen...

Caiman: Stattdessen sollte man....
Zé Roberto: ...sehr diszipliniert sein.

Caiman: Wo bin ich berühmter, in Deutschland oder Brasilien?
Zé Roberto: ...jetzt hast Du mich erwischt. In beiden Ländern gleich. Aber ich hab in Deutschland die längste Zeit meiner Karriere gespielt, 12 Jahre. Nach Brasilien bin ich erst 2012 zurückgegangen. Also sagen wir mal Deutschland, weil ich da länger gespielt habe.

Caiman: Mein glücklichster Moment im Fußball war...
Zé Roberto: ...meine erste Einladung zur Seleção Brasileira im Jahr 1995.

Caiman: Mein traurigster Moment im Fußball war...
Zé Roberto: ...nicht für die WM 2002 nominiert zu werden, obwohl ich da gerade super in Form war.

Caiman: Bei der WM 2006 fehlte es der Seleção Brasileira an...
Zé Roberto: ...Einsatz, an Organisation. Denn vom Fußball her hatten wir alles. Ich war 100% fokussiert, und wenn alle mehr Einsatz gezeigt hätten, wäre die Chance auf den Titelgewinn groß gewesen.

Caiman: Wenn ich an Deutschland denke, vermisse ich besonders...
Zé Roberto: ...meine Freunde, die ich dort habe. Sehr gute Freunde.

Caiman: Was vermisse ich überhaupt nicht an Deutschland?
Zé Roberto: ...den Winter. Meine Füße waren tiefgefroren, es gab Tage mit 18 Grad unter Null. Daran erinnere ich mich nicht gerne...

Caiman: Mein Lieblingswort / -satz auf Deutsch ist...
Zé Roberto: ...Du bist mein Schatz.

Caiman: Das beste Team in dem ich je gespielt habe war...
Zé Roberto: ...die Seleção von 2006. Obwohl wir im Viertelfinale verloren haben. Sie war die beste Mannschaft überhaupt, aufgrund der Qualität der Spieler.

Caiman: Und welche Klubmannschaft?
Zé Roberto: Bayern München der Saison 2009 / 2010.

Caiman: Du wärst gerne noch länger bei Bayern geblieben?
Zé Roberto: Ich bat Bayern damals um einen neuen 2-Jahres-Vertrag, doch sie wollten mir nur ein Jahr geben. Dann kam der HSV und bot mir zwei Jahre an – deswegen bin ich nach Hamburg gegangen.

Caiman: Wer gewinnt die WM 2018?
Zé Roberto: Mann, das ist schwierig.... Da gibt es Mannschaften, die schon fertig, und andere, die gerade in der Entstehung sind. Ich sag mal: Brasilien, Deutschland, Argentinien oder Spanien.

Caiman: Hat das 7:1 wehgetan?
Zé Roberto: Sehr! Denn ich habe damit nicht gerechnet. Gut nur, dass ich danach nicht mehr nach Deutschland gereist bin. Man hätte mich dort damit wohl richtig aufgezogen.

Caiman: Das ist anzunehmen. Wir danken für das Interview.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Uruguay: Vom Ex-Sträfling zur Kultfigur – der Gaucho
 
Oft heißt es, der echte, der urtümliche, der wahre Uruguayo sei der Gaucho. Dabei gibt es viele Mythen um die Entstehung dieser Berufsgattung – denn „gaucho“ bedeutet nichts anderes als Viehhirt bzw. Landarbeiter.

Die Gauchos waren (ähnlich wie die Cowboys in den USA) vor allem für die Erschließung des Landes zuständig. Das Landesinnere Uruguays, „El Interior“, war von der spanischen Kolonialherrschaft relativ unberührt geblieben und nach der Unabhängigkeit nur sehr dünn besiedelt. Auch in den darauffolgenden Jahrzehnten, die vor allem von Bürgerkriegen und Gesetzlosigkeit geprägt waren, blieb das Landesinnere vergleichsweise gering entwickelt.

Viehherden und Gauchos streiften gleichermaßen frei durch dieses Niemandsland. Vor allem aus dieser Zeit stammt der Mythos des stolzen Mannes, der mit seinem Pferd ein Nomadenleben führt, niemands Knecht und schnell mit dem Messer zur Hand ist und im Freien auf seiner Matte schläft, wenn die Nacht ihn in der unendlichen Weite des Interior überrascht.

Fakt ist, dass der Gaucho ein Kind zweier Kulturen war: der europäischen Einwanderer und der Ureinwohner des heutigen Uruguay. Aber vor allem war der Gaucho – oftmals ein ehemaliger Sträfling oder ein von den Behörden gesuchter Mann – arm. Ein Pferd, Sattel und Zaumzeug, Messer, Lasso und Bola (Wurfkugel) waren seine kostbarsten Besitztümer. Mit Bola oder Lasso fing er die Tiere, aus deren Leder er mit seinem Messer jene Stücke schnitt, die er zur Herstellung seines Sattels und Zaumzeugs benötigte.



Geld bedeutete dem Gaucho – so heißt es – nichts. Die Silbermünzen, die er an seinen Ledergürtel nähte, brauchte er angeblich vor allem, um damit anzugeben. Viel wichtiger war ihm sein Messer, mit dem er Rinder und Schafe tötete, um sie dann – über dem Lagerfeuer gegrillt – zu essen. Diese Grilltradition lebt bis heute im „Asado“ fort, das aus der Kultur (nicht nur) der Uruguayos nicht wegzudenken ist.

Durch sein ungebundenes Nomadenleben auf dem Land war der (eigentlich europäischstämmige) Gaucho auch in einem sehr viel engeren Kontakt mit den Indígenas als der Rest der uruguayischen Bevölkerung. Er war es, der den Brauch des Matetrinkens der Ureinwohner übernahm und ebenso wie den Asado in der Kultur des Landes verankerte. Im Gegensatz zu einigen der benachbarten Länder waren die Gauchos auch nicht an der Ausrottung der Ureinwohner beteiligt. Der berühmteste von ihnen, der Nationalheld General José Gervasio Artigas, lebte von seinem 16. bis zu seinem 33. Lebensjahr mit Mitgliedern der Charrúa. Als er später sein Volk im Freiheitskampf gegen die spanische Kolonialherrschaft anführte, tat er dies mit der Unterstützung vieler Charrúa. Nicht umsonst werden sie noch heute als das „Rückgrat“ seiner Befreiungsarmee bezeichnet. Auch eine seiner Frauen war eine Charrúa.

Heute gibt es die vagabundierenden Gauchos nicht mehr. Sie verdienen zwar noch immer ihr Geld als Landarbeiter und Viehhüter der großen Estancias. Aber sie sind längst sesshaft geworden und besitzen oftmals auch eigenes Land, das aber oft nicht für ihren Lebensunterhalt ausreicht. Den alten Traditionen sind die meisten von ihnen noch immer verbunden.

Text + Foto: Lars Borchert

Reiseführer Uruguay: Dieser Text ist dem Reiseführer Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken erschienen im Reise Know-how Verlag entnommen. Wer nicht bis zum nächsten Caiman warten, sondern möglichst schnell mehr über Uruguay erfahren möchte, kann sich diesen Reiseführer für 16,95 Euro unter info@larsborchert.com persönlich beim Autor bestellen oder im gut sortierten Buchhandel kaufen.

Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: uruguay]





[art_4] Brasilien: Alles ist im Fluss
Die Basilika von Aparecida am Shopping-Center des Glaubens

Eigentlich waren die drei Fischer Domingos Garcia, Filipe Pedroso und João Alves auf reiche Fischbeute aus. Die Ratsherren des Städtchens Guaratinguetá hatten sie beauftragt, den schlammig-braunen Fluss Paraíba do Sul nach vorzeigbarer Nahrung abzusuchen. Immerhin hatte sich mit Dom Pedro de Almeida e Portugal der Gouverneur der vereinigten Kapitanien von São Paulo und Minas Gerais angekündigt. Doch nichts wollte ihnen an diesem Tag ins Netz gehen.


Fast schon wären die drei unverrichteter Dinge umgekehrt, als João Alves plötzlich eine kleine schwarzfarbige Figur aus dem Wasser zog. Nachdem sie den Schlamm abgespült hatten, wurde ihnen klar, was da buchstäblich aus den Fluten aufgetaucht war: eine Statue der Nossa Senhora da Conceição. Jedoch ohne Kopf. Sogleich warf João noch einmal sein Netz aus. Dieses Mal fischte er den fehlenden Kopf aus dem Wasser. Von nun an füllten sich ihre Netze mit Fischen. Immer mehr wurden es, so viele, dass das kleine Fischerboot zu kentern drohte.

Aparecida heißt der Ort der überraschenden Marien-Erscheinung. Seit jenem bemerkenswerten 12. Oktober 1717 ist hier nichts mehr so wie zuvor. Wer mit dem Auto von São Paulo nach Rio de Janeiro über den Dutra-Highway braust, erblickt nach 160 Kilometern zu seiner Linken ein beeindruckendes Bauwerk. Auf einer Anhöhe thront die zweitgrößte Basilika der katholischen Welt, nach dem Petersdom: 18.000 Quadratmeter Grundfläche, angeblich 7 Millionen Pilger pro Jahr, 45.000 Sitz- plus 25.000 Stehplätze.


Mindestens ebenso beeindruckend sind die mondähnlichen Parkplatzflächen rings um das Monumentalbauwerk. Sie bieten Platz für 4.000 Busse und 6.000 Autos. Alles ist bereit, die Pilger zu empfangen. Wie auch das Shopping-Center des Glaubens, direkt vor dem Haupteingang der Basilika. Bereit, die Menschenströme aufzunehmen, die hungrigen Massen zu verköstigen. Die Speisung der 5.000 in der Betonwüste. Im "Maria Madalena Grill" gibt es reichlich Fleisch zu Live-Country-Musik. "Kaufen Sie meine CD, nur 10 Reais! Die ist wirklich schön!", wirbt die Sängerin zwischen den Liedern.

Auf den Straßen der kleinen Stadt reihen sich mit Plastikfolien überspannte Souvenirstände endlos aneinander. Die heiß begehrten Nachbildungen der Statue gibt es in verschiedenen Größen, und für einen kleinen Aufschlag kommt sie auch noch mit einem Mäntelchen daher. Und Krone. Aber die kostet auch noch mal extra. Ein unbeabsichtigter Ratscher mit dem Fingernagel lässt sofort die Farbe abblättern. "Vorsicht, die sind nur aus Gips", mahnt die Verkäuferin. "Da kann man aber einfach mit schwarzer Farbe nachlackiere"

Direkt neben dem Heiligen-Sortiment kann man Büstenhalter und Unterhöschen erstehen. Oder Plastikgewehre Made in China, nachgemachte Fußballtrikots mit "Bavern Munchvev" Aufdruck. Und knallbunte, 50 Zentimeter hohe Schäferhunde, die auf Knopfdruck bellen. Auch der Liebhaber potenter Stereoanlagen fürs Auto findet hier alles, was das Herz begehrt. Ein dichter Strom von Suchenden wälzt sich durch die schmale Gasse zwischen den Ständen.


Es sind mehr Menschen als in der Basilika, wo an diesem Ostersonntag gerade die Mittagsmesse gelesen wird. Doch die Reihen sind recht leer. "Die Leute nutzen das verlängerte Wochenende gerne, um ans Meer zu fahren", weiß die Dame am Infoschalter zu berichten.

Die wenigen, die trotzdem hier sind, recken ihre Hände empor. Autoschlüssel, Handys, Fotos der Familie werden hochgehalten, um den Segen zu empfangen. Der unachtsame Fotograf bekommt ungewollt eine Ladung Weihwasser auf seine Spiegelreflex.

Alles im Fließen begriffen. Sonntagsausflügler statt auf Knien rutschender Pilger. Immer mehr Kirchgänger würde man in Brasilien verlieren, klagen so manche Priester. Individualisierung der Gesellschaft, sagen die einen. Rückzug in das Private, die anderen. Damit meinen beide wohl das Gleiche. Fische kommen aus der Dose, nicht mehr aus dem Fluss.


Vor einigen Jahren zertrümmerte ein Prediger einer evangelischen Freikirche vor laufenden Fernsehkameras eine Aparecida-Nachbildung. Frei machen müsse man sich von den Bildern, sich auf das Wesentliche besinnen. Nächstes Jahr kommt der Papst nach Aparecida. Dann wird die Basilika zum Bersten gefüllt sein. Die Souvenirverkäufer freuen sich jetzt schon darauf. Und die Country-Sängerin wohl auch.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_1] Hopfiges: Ceriux aus der Rioja

Jetzt wird’s traubig hopfig. Die beiden typisch spanischen Rebsorten Viura (weiß) und Tempranillo (rot) sind neben Hopfen und Malz die Grundbestandteile der Biere der noch jungen Brauerei Ceriux in Nalda, inmitten der Rioja gelegen.



Nach der ganzen Einheitsbrauerei auf Basis diverser US-amerikanischer Citrus-Hopfen hätte ich der spanischen cerveza artesanal (craft beer) schon fast den Rücken gekehrt. Eine glückliche Fügung jedoch geleitete mich nach längerer Abstinenz wieder einmal in den Spirituosen-Supermarkt Wine Palace.

Schon im zweiten Regal ziehen mich unbekannte Biersorten in ihren Bann. Neben den oben beschriebenen Langweilern finde ich Ceriux, ein Bier aus dem Herzen des Weinbaus. Das Etikette verweist bereits in der ersten Zeile auf die Herkunft des Ceriux: La Rioja. Damit ist ein klares Zeichen gesetzt. Dieses Bier hat auf jeden Fall etwas mit Wein zu tun. Auf der Rückseite findet sich unter Zutaten dann auch „Exotisches“: Trauben-Most. Die Spannung wächst.

Der Wine Palace bietet Ceriux in zwei Sorten an: Rubia und Tostada. Ich entscheide mich für das helle Ceriux Rubia. Die kleinere Varianten von 375 ml gegenüber 750 ml soll erst einmal reichen.



Wir schnuppern und trinken vor dem Kamin

Es ist der Abend der Heiligen drei Könige, die in Spanien die Geschenke bringen. Lassen wir uns also von Ceriux beschenken.

Die Flasche ist schwer. Sie erinnert auch durch ihre Form eher an Champán. Diese Assoziation unterstützt das Logo am Flaschenhals. Es zeigt eine Weintraube.

Im Glas schmückt das Ceriux Rubia ein weißer, kleinporiger Schaum, der lange bestehen bleibt. Die Farbe des Bieres ist gelb-orange mit schwacher Trübung – der Jahreszeit geschuldet, passt die spanische Übersetzung besser: ligeramente nebuloso (leicht nebelig).

Wir sind zu dritt, was die Verkostung nicht unbedingt objektiver macht, aber zumindest mehrere subjektive Einschätzungen zulässt.

Sehr fruchtig und heftig prickelnd. Mein Eindruck ist schweres Zitrusobst, etwa Pomelo.

Wie Brause, Waldmeisterbrause. Ich muss unweigerlich an Berliner Weiße denken.

Oder Kambucha.

Das ist mir zu schwer, zu geschmacksintensiv. Allerdings hat es bis auf das Prickeln keinen Nachgeschmack. Hat das Bier erst einmal die Zuge verlassen, bleibt nichts zurück.

Das Prickeln geht ins Hirn, bis an die Schädeldecke.

Mein Fazit: Echte Alternative für das Anstoßen mit Sekt zu Silvester.



Was knabbern und speisen?

In Spanien ist es nicht zuletzt durch den Starkoch und Bierschöpfer Ferran Adrià Usus geworden, jedem Bier eine Empfehlung mit auf den Weg zu geben, zu welchen Speisen es besonders gut passt.

Das Ceriux Rubia eignet sich scheinbar hervorragend zu grünem Salat, zu Meeresfrüchten, egal ob roh mariniert, plochiert oder gebraten, zu Schnecken und Tintenfisch. Zu Pan con Tomate (Weißbrot mit Olivenöl, Tomate, gern auch Knoblauch und Salz), zu „blauem“ Fisch oder zu deutsch Fettfisch (Fische mit hohem Anteil an Omega 3 Fettsäuren wie Lachs, Makrele, Hering, Aal, Seezunge…). Zur japanischen Küche basierend auf Sojasoße und Wasabi. Und nicht zu vergessen zu Apfelkuchen, Käse und Füchten.

Hätte ich doch die große Flasche nehmen sollen?

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_2] Sehen: Schätze aus der Unterwelt (Terra X)
Funkelnde Tunnelanlage in Teotihuacán
 
Die mexikanische Tempelstadt Teotihuacán ist eines der großen Rätsel der Archäologie. Mit der Entdeckung einer unterirdischen Tunnelanlage enthüllen Forscher ihre Geschichte. 2015 hat ein "Terra X"-Team die Grabungsarbeiten im Tunnel begleitet. Die zahllosen Fundstücke geben Einblick in das Leben einer multikulturellen Gemeinschaft, die eine zweite Chance erhielt und in Teotihuacan einen Neuanfang gewagt hat.

Sendetermine
Sonntag, 8. Mai 2016, 19.30 Uhr, ZDF
Samstag, 7. Mai 2016, 20.15 Uhr, ARTE

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick von oben auf die Stadt Teotihuacán.
Foto 1: Teotihuacán ist eine der größten Geisterstädte der Welt; das Rätsel um seine Erbauer eines der faszinierendsten der Archäologie.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung in Mexiko
Dokumentation

Sergio Gómez Chávez, heute Chefarchäologe in Teotihuacán, ist noch Assistent, als er dort 2003 einen ummauerten Bodenschacht entdeckt, der viele Meter in die Tiefe führt. Der Wissenschaftler wagt den riskanten Abstieg in der Hoffnung auf eine große Entdeckung. Und die ist ihm tatsächlich gelungen. Am Ende des Schachts stößt Gómez auf einen zweiten, der horizontal verläuft und sich als ein über 100 Meter langer Tunnel entpuppt. Er enthält tausende Artefakte. Die meisten von ihnen sind erwartungsgemäß sehr kostbar. Viel wichtiger aber sind die Geschichten, die sie erzählen. Die Fundstücke geben Einblick in das Leben der Erbauer und Bewohner von Teotihuacan, über die immer noch wenig bekannt ist, weil sie keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Archäologen und Drehteam. Im Hintergrund altes Gebäude.
Foto 2: Sergio Gómez leitet heute die Ausgrabung. Als junger Archäologe machte er vor 13 Jahren am Fuß der Pyramide der Gefiederten Schlange eine Entdeckung, die zu seinem Lebenswerk werden sollte.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Zwölf Jahre sind die Archäologen mit Laserscanner, Spaten und Pinsel im Tunnel zugange. Sie schauen durch Schutzmauern, entdecken Werkzeug-Depots, graben Schmuck, Schatullen, Riesenmuscheln und vieles mehr aus. Und sie stellen fest, dass Wände und Decken im Dunkeln wie ein Sternenhimmel funkeln. Die eigentliche Sensation aber ist, dass der Gang in eine dreiarmige Kammer mündet, die direkt unter der "Pyramide der Gefiederten Schlange" liegt.

Das Heiligtum ist dem Schöpfergott der Teotihuacanos gewidmet, der höchsten Gottheit in der damaligen Welt. Zunächst vermuten die Forscher, dass sie auf ein Herrschergrab oder zumindest auf die Grablege eines hohen Priesters gestoßen sind. Diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Aber einzigartige Funde zeigen, dass die unterirdische Anlage als geheimer Kultplatz gedient hat.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Gómez und zwei Arbeiter in unterirdischem Gang.
Foto 3: Gómez und seine Arbeiter haben über 800 Tonnen Schutt und Erde aus dem Tunnel schaffen müssen.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Vor etwa 1800 Jahren wurde sie mit Süßwasser geflutet, verschlossen und bis zu ihrer Entdeckung nicht mehr betreten. Zum ersten Mal in der langjährigen Forschungsgeschichte der Pyramidenstadt ist es einem Archäologenteam gelungen, die bizarr anmutenden Rituale und märchenhaften Jenseitsvorstellungen der Gründungsväter von Teotihuacan zu rekonstruieren und zu erklären.

Die "Terra X"-Folge "Schätze aus der Unterwelt" erzählt die Geschichte einer multikulturellen Gemeinschaft, die um die Zeitenwende vor dem Vulkanausbruch des Popocatepetl ins Hochland von Mexiko geflohen ist und dort aus dem Nichts eine der mächtigsten Metropolen ihrer Zeit errichtete.

Sergio Gómez in unterirdischer Höhle, die durch Schnüre in Abschnitte unterteilt ist.
Foto 1: In der nördlichen Endkammer des Tunnels entdeckt Sergio Gómez erst auf den zweiten Blick den entscheidenden Hinweis: Eine Wasserlinie an der Wand.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Der Ort, an dem die Götter geboren sind
Von Terra X-Redakteurin Claudia Moroni

Als die Azteken im  14. Jahrhundert die verlassene Metropole Teotihuacan im mexikanischen Hochland erschlossen, sind sie überwältigt von ihrem Anblick. Gigantische Stufenpyramiden, unzählige Tempel und zeremonielle Plattformen, dazu eine Prachtstraße nie gesehenen Ausmaßes und unzählige, mehrstöckige Häuser mit identischen Wohnungen. Die Stadtplanung beruht auf einer strikt eingehaltenen Rasterordnung, präzise ausgerichtet entlang definierter Achsen zu wichtigen Himmelskörpern. Kein Stein ist zufällig verarbeitet, keine Straße beliebig angelegt. Die aztekischen Entdecker sind überzeugt, dass sie den Ursprung der Welt gefunden haben. Sie nennen ihn den „Ort, an dem die Götter geboren sind“ oder, in der Nahuatl-Sprache der Azteken: Teotihuacan. Doch die Metropole ist menschenleer, die Kultur, die sie einst geschaffen hat, untergegangen.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick auf Teotihuacán. Rechts unten ist eine Kamera im Bild.
Foto 2: Pyramiden stehen in Mesoamerika für Berge, die den Menschen heilig waren.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Bis heute sind die Teotihuacanos ein Volk ohne Gesicht. Wir wissen weder, wer die Baumeister der majestätischen Pyramidenstadt waren, noch kennen wir ihre Herrscher, ihre Religion, wissen wenig über die technischen Fertigkeiten oder Lebensgewohnheiten der Bewohner. Die Teotihuacanos haben weder Schrift noch bislang entzifferbare Codices wie die Maya und Azteken hinterlassen. Klar ist nur: Nach einer Blütezeit von einigen hundert Jahren muss Teotihuacan spätestens im 7. Jahrhundert nach Christus aus bislang ungeklärten Gründen kollabiert sein. Auch die rätselhaften Herrscher des Imperiums verschwanden im Dunkel der Geschichte. Ihre Gräber könnten der Schlüssel zur Antwort auf viele Fragen sein. Doch trotz jahrzehntelanger Suche wurde noch nie ein Herrschergrab entdeckt.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Archäologe untersucht eine steinerne Figur.
Foto 3: Das Team findet insgesamt vier steinerne Figuren in der kreuzförmigen Endkammer. Sie könnten die Urahnen der Teotihuacános darstellen und als Wächter gedient haben.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Im Herbst 2014 präsentierte das Team um den Chefarchäologen Sergio Gómez Chávez nach mehrjährigen Grabungen einen wahren Schatz: Über 50.000 rituelle Objekte, entdeckt in einem Tunnel unter der heiligen "Pyramide der Gefiederten Schlange". Über 1800 Jahre war der Gang in die Unterwelt versiegelt. Niemand weiß, warum die Bewohner der Stadt das getan haben. Unter den Gegenständen befinden sich kunstvoll gehauene Steinskulpturen, Edelsteine, Weihrauchbehälter, Klingen und Werkzeuge aus Obsidian – ein Sortiment kostbarster Dinge, die vermutlich als Opfergaben in den circa 138 Meter langen Tunnel deponiert wurden.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Gesicht einer steinernen Figur vor schwarzem Hintergrund.
Foto 1: Die Forscher vermuten, dass die Blickrichtung der "Wächterfiguren‚ einen Hinweis auf das Geheimnis gibt, das sie bewahren sollten..

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Am erstaunlichsten ist aber ein Fund, der zunächst gar nicht so aufsehenerregend klingt: Im Tunnel fanden die Forscher unzählige Spuren von Pyrit. Schatzsucher kennen es als „Katzengold“. Das golden glänzende Metall, das in der Nähe von Teotihuacan in der Natur nirgends vorkommt, muss von weit her transportiert worden sein. Es wurde mühsam pulverisiert und dazu benutzt, die Decke des Tunnels auszugestalten. Wer einst mit einer Fackel hinein ging, über dem erstrahlte das Deckengewölbe silbergolden funkelnd wie ein klarer Sternenhimmel.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Eine Drohne fliegt über einen Tempel.
In den Augen der Forscher kann die Fundsituation nur bedeuten, dass der Tunnel in die rituelle Unterwelt der Teotihuacan-Kultur führte. Ein unterirdischer Tunnel als Weg ins Jenseits – diese Symbolik ist aus vielen Palastkulturen bekannt und in der Regel allein Herrschern vorbehalten. Der Gang mündet in drei mit kostbaren Objekten gefüllte Kammern, die direkt unter der „Pyramide der Gefiederten Schlange“ liegen. Lange hat das Ausgräberteam gehofft, in einem der drei Räume ein Herrschergrab vorzufinden. Doch die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Stattdessen stoßen die Archäologen dort auf Spuren eines alten Grundwassersees, der inzwischen ausgetrocknet ist, und auf vier große Wächterfiguren aus Stein.



Foto 2: David Carballo untersucht Brandspuren an einer Tempelmauer. Sie könnten von einem Aufstand gegen die Machthaber im 6. Jahrhundert nach Christus zeugen.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Eine Theorie lautet, dass es sich bei den Statuen um Darstellungen der Gründungsväter von Teotihuacan handelt. Vielleicht zeigen die Figuren aber auch die Bildnisse mächtiger Schutzgottheiten. Klar ist nur, dass an dem unterirdischen See regelmäßig rituelle Handlungen vollzogen wurden, die um 200 nach Christus aus bislang ungeklärten Gründen eingestellt wurden.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Wandmalerei mit paradiesischer Szene.
Foto 9: Die paradiesische Szene auf dieser Wandmalerei in Tepantitla kann den Forschern helfen, den Schöpfungsmythos der Teotihuacános zu entschlüsseln.

Copyright: ZDF / Anika Dobringer


Im November 2015 endete die Grabungskampagne unter der „Pyramide der Gefiederten Schlange“ – zumindest für dieses Jahr. Der Tunnel, der ausgetrocknete Grundwasser-See und das Kammersystem sind freigelegt sowie sämtliche Funde gesichert. Ende November begann für die Archäologen die spannende Phase der Analysen und Schlussfolgerungen. Eines ist jetzt schon sicher: Die Entdeckungen sind ein Meilenstein in der Forschungsgeschichte der mexikanischen Tempelstadt. Zum ersten Mal können Archäologen rekonstruieren, wie sich die Teotihuacanos die Entstehung der Welt vorgestellt haben.

Text: ZDF + Claudia Moroni (Terra X)
Fotos:
ZDF + Anika Dobringer

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel]





[kol_3] Lauschrausch: Guinga & Maria João
Mar afora und Roendopinho

Das neue Album des brasilianischen Gitarristen Guinga (Althier Carlos de Souza Lemos Escobar) und der portugiesischen Sängerin Maria João beginnt mit einem surrealen Text, den Guinga wie ein Gebet klingen lässt, sanft begleitet auf seiner Gitarre. Und gerade, wenn man denkt, es gehe angenehm so weiter, entführt einen Maria João schon im zweiten Titel mit kindlicher Stimme in höhere Sphären. Die Texte, die größtenteils vom berühmten Poeten und Komponisten Aldir Blanc stammen und selten einen wirklichen Refrain besitzen, bleiben mehr oder weniger surreal, handeln vom Leid eines Werwolfs ("Canção do lobisomem"), vom Kreuzweg ("Via Crúcis") oder von der Liebe ("Senhorinha"), aber Joãos Stimme variiert in den Titeln, die sie singt, zwischen Märchenerzählerin, Jazzsängerin und kammermusikalischem Gesang. Die für ihre Wandlungsfähigkeit bekannte Portugiesin scattet, flüstert oder spricht zum Klangfluss der Gitarre.

Guinga & Maria João
Mar afora
Acoustic Music

Guinga zitiert in seinen Kompositionen heimatliche Samba- oder Chôroklänge, spielt aber auch komplexe, moderne Passagen. Er, der schon früh Erfolge als Komponist feierte, jedoch erst im Alter von 40 Jahren seinen Zahnarztberuf endgültig an den Nagel hängte, um von der Musik zu leben, singt auf zwei weiteren Titeln mit sanfter Stimme, wobei "Chá de panela" als einziger Titel etwas brasilianische Energie in den sonst ruhigen Fluss dieses Albums bringt. Als er im Liebeslied "Senhorinha" kurz mit João in einen Dialog tritt, fällt seine Stimme kaum auf. Ein entspanntes Experiment zweier Musiker, die ihrem komplexen Wirken eine weitere Facette hinzufügen.

Hier sei gleich Guingas Album "Roendopinho" mitempfohlen, das rund ein Jahr zuvor, wie jetzt "Mar afora", in Osnabrück eingespielt wurde, für Peter Fingers dort ansässiges "Gitarrenlabel" Acoustic Music. Auf seiner ersten wirklichen Solo-Platte, die seine Songs so darstellen soll, wie sie zu ihm kamen – nur mit der Gitarre in der Hand - brilliert der Carioca mit glasklarem Spiel.

Guinga
Roendopinho
Acoustic Music

Seine Kompositionen bewegen sich zwischen Jazz, Bossa und brasilianischer Folklore, Titel wie "Constance No. 2" erinnern an die Musik eines Heitor Villa-Lobos. Die Musik auf "Roendopinho" – übersetzt etwa "Fichtenholz kauend" (aus Fichte baut man häufig Gitarren) – klingt schwerelos und leicht, und entführt uns in eine sympathischere Welt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





.