ed 03/2009 : caiman.de

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brasilien: Che und der Koch
Und es ward wieder einmal Carnaval
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Einfach nur ankommen - Buenos Aires
ANDREAS DAUERER
[art. 2]
bolivien: El retorno a casa
Oder: Doppelte Heimkehr
LENNART PYRITZ
[art. 3]
spanien: Auf den Spuren der Ureinwohner (Rezension)
Ein archäologischer Reiseführer für die Kanaren
BERTHOLD VOLBERG
[art. 4]
heldinnen brasiliens: Angry young girl
Begegnung mit der Sängerin Andreia Dias
THOMAS MILZ
[kol. 1]
grenzfall: Santería
NORA VEDRA
[kol. 2]
macht laune: Im Galopp mit dem Stäbchen durch die Öse
Stadtfest in Altamira de Cáceres, Venezuela
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
erlesen: Kolumbien im Fokus
Kleine Geschichte Kolumbiens von Hans-Joachim König
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Che und der Koch
Und es ward wieder einmal Carnaval

Ich sag es gleich und klar: Ich bin nicht die richtige Person um über Carnaval zu schreiben! Alle wissen das und schimpfen über meine Muffelei. Spaßbremse! Aber wie immer bleibt es letztlich wieder einmal an mir hängen, etwas zum unvermeidlichen Fasching zu schreiben. "Du lebst doch in Brasilien, was willst Du denn?" 

Ob ich den Carnaval denn nicht möge? Nun, seit Jahren versuche ich verzweifelt, mich mit ihm anzufreunden. Eigentlich schon seit ich Anfang der 90er Jahre aus dem evangelisch geprägten Bergischen Land in die katholische Karnevalshochburg Köln umzog. 30 Kilometer in südwestlicher Richtung über die Autobahn können einen gewaltigen Quantensprung bedeuten. 



Weitere 11.000 Kilometer in südwestlicher Richtung und ich bin in Rio de Janeiro, mitten im Getümmel. Seit sieben Jahren schon verbringe ich die Carnavalszeit in der Cidade Maravilhosa, fotoschießend im Sambódromo oder auf der Suche nach guten Sounds in den Straßen der Stadt. Eigentlich wird meine Laune stets schlechter – und nicht besser – wenn um mich herum alle durch die Gegend hüpfen. Dröger Lutheraner.... Oder doch nicht normal? Stets stelle ich mir diese und eine weitere Frage: Wozu das alles? 

In Deutschland sagt man gerne, dass das närrische Treiben ein Protest gegen die Obrigkeit sei, Spaß und Spott als Ventil für den Frust des kleinen Mannes. 

Protest gegen die Obrigkeit? Nun, in Deutschland, wo alle 360 Tage im Jahr brav sind, kann ich ja noch verstehen, dass man da fünf durchgeknallte Tage zum Ausgleich braucht. Aber die stets coolen Brasilianer?  

Meine Freundin zum Beispiel; die singt sowieso das ganze Jahr über Carnavalslieder. Und die Großen und Mächtigen verspottet eigentlich jeder und stets. Muss man da jetzt im Carnaval noch mal eine Schüppe drauflegen? "Nächstes Jahr werde ich den ganzen Carnaval durch einen draufmachen. Dann hält mich nichts zurück", kündigt meine Liebste mir stets an. Manchmal hört es sich fast wie eine Drohung an... 

Eigentlich macht man an Carnaval ja sowieso nichts anderes als das ganze Jahr über. Der einzige Unterschied ist, dass man es im Carnaval in Gruppen zu Hunderttausenden und bei gefühlten 60 Grad in der prallen Sonne durchzieht. Und dass man statt 1 Real jetzt 4 für die Bierdose bezahlt, bevor man sich danach in die Warteschlange vor den Toiletten der Eckkneipe einreiht.

Ich hab ja gleich gesagt, dass ich nicht der Richtige bin, um über den Carnaval zu schreiben. Immerhin scheine ich nicht der einzige Muffel zu sein. Meine Psychotherapeutin mag ihn auch nicht. Ja, wir sprechen über diese Sachen in der Therapie. "Bin ich nicht normal?", frage ich sie Angst erfüllt. Sie schaut mit großen Augen zurück und fragt: "Was meinst Du?"



Ein Kollege stöhnt. "Seit 25 Jahren berichte ich jetzt schon über den Carnaval. Und es ist jedes Jahr das Gleiche." Der Arme, denken sich da wohl viele, muss stets den Carnaval in Rio über sich ergehen lassen. Nun, ein jeder trägt halt sein eigenes Kreuz.

Ich weiß immerhin jetzt dass Che Guevara schon mal in Köln war und sogar München kennt. Mitten im Carnavalstrubel in Gávea traf ich ihn, gemeinsam mit seinem Koch. Eine Zigarre zündete er als Gruß an Deutschland an, der gute alte Revoluzzer.

Vielleicht sollte ich den Carnaval mal woanders verbringen. Wer weiß, nächstes Jahr hüpfe ich vielleicht mit weiteren 500.000 schwitzenden Körpern über die Straßen Salvadors. Meine Freundin hat mir schon angedroht, dass ich 2010 nicht darum herum komme. Warum nur immer ich, der den Carnaval doch gar nicht mag? 

Vielleicht sollte ich ihr einfach einen Handel vorschlagen: fünf Tage Carnaval ohne Pause verspreche ich ihr. Dafür will ich in den restlichen 360 Tagen keine Carnavalslieder hören und kein Rumgehüpfe vor dem Fernseher sehen. Schauen wir mal, ob sie das durchhält.

Text + Videos + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Buenos Aires - Einfach nur ankommen

Natürlich hat der Flieger Verspätung. Immerhin musste er das halbe Land durchqueren. Und bei knapp 2.500 Kilometern kommt man in Argentinien tatsächlich eben nur durchs halbe Land. In meinem Falle ist das von Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, ehe die Antarktis beginnt, in mein geliebtes Buenos Aires. Ich will endlich raus aus der Kälte und den Spätsommer in der Stadt ausklingen lassen. Dort unten am oft zitierten Ende der Welt ist es auch im Sommer trotz Sonnenschein empfindlich kühl, insbesondere wenn der Wind bläst. Ein Grund mehr, sich auf besseres Wetter zu freuen. Nicht einmal im Flugzeug ist es wohlig warm, im Gegenteil: Unaufhörlich frostet mir diese künstliche Trockenluft entgegen. Eine Eigenheit, die man auch in den Überlandbussen erfahren kann. Zumindest wenn die Aire Acondicionado nicht hinüber ist. Dann kann‘s, je nachdem welches Gebiet man gerade durchquert, auch richtig heiß werden.



Irgendwann aber setzen wir doch noch wohlbehalten in Ezeiza, dem internationalen Flughafen von Buenos Aires, auf. Planmäßig hätten wir allerdings am Aeroparque landen sollen. Da nämlich starten und landen für gewöhnlich die nationalen Maschinen. Sei‘s drum. Wenn mein Abholservice keine Dumpfbacke ist, dann sollte er das schon irgendwie mitbekommen haben. Kaum setzt der Pilot zur letzten Schleife an, stehen alle Argentinos und kramen furchtbar schnell ihre Habseligkeiten aus Plastikboxen über ihren Köpfen heraus. Dieses eine Mal bin ich froh, dass ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit einen Fensterplatz habe. Ansonsten wäre ich sicherlich genötigt worden, ebenfalls sofort aufzuspringen und mich in den Mittelgang pressen zu lassen. Schneller kommen die Passagiere zwar deshalb auch nicht raus, aber schon die gefühlte halbe Minute scheint den Leuten hier eine unheimliche innere Befriedigung zu verschaffen.

Als ich die Gangway runtermarschiere, hat das Drangsal mit kalter Luft endlich ein Ende. Elf Uhr nachts, eine wohlig warme Abendstimmung empfängt mich. Sogar ein paar Sterne sind am Himmel zu sehen. Am Kofferband spielen die Einheimischen dann erneut ihre Spielchen mit dem "Vorteilverschaffen". Allem Anschein nach ist das Procedere, den anderen mehr oder weniger beiläufig vom Platz am Förderband wegzudrängen, ein elementarer Teil des Fliegens. Kurzzeitig schießt mir der Begriff "Mallorca" durch den Kopf. Eine bunte Mischung von Menschen, die an der Gepäckausgabe um die vermeintlich besten Plätze kämpfen und einen auf Tuchfühlung machen. Nun ja, lustig ist das ja schon irgendwie. Zumindest wenn man es selbst nicht eilige hat und am Band nach dem Koffer giert. Dennoch müssen wir uns 20 Minuten gedulden, ehe das Band sich überhaupt in Bewegung setzt. Als ich endlich samt Gepäck durch die Milchglastür trete, bin ich angenehm überrascht. Da wir auf irgendeinem Nebenterminal abgefertigt wurden, gibt‘s kein Gedrängel und auch keine lästigen Taxifahrer, die einen übers Ohr hauen wollen (die gibt‘s sogar im sonst so europäischen Buenos Aires).

Mein Fahrer hat offensichtlich mitbekommen, dass ich nicht im Aeroparque gelandet bin. Zumindest denke ich, dass der Herr hinter dem niedrigen Geländer mit dem bekritzelten Pappdeckel in der Hand mein Abholservice ist. Irgendwas mit "Señor ...drea... Alemania" steht drauf. Der Herr, der das gute Stück vor seine Brust hält, ist Anfang 30, schlurfiger Typ, aber auf den ersten Blick nett. Dieses Nette beschränkt sich allerdings aufs Äußere. Richtig erfreut ist er nämlich nicht, dass ich seiner Sprache mächtig bin. Unterhalten will sich Daniel Ortiz mit mir eigentlich nicht. Das wird sehr schnell klar, als wir im Auto gen Innenstadt sitzen. Die hinteren Fensterscheiben sind halb heruntergelassen und die Musik muss zwangsläufig überlaut aus den Lautsprechern sumpfen. Ein Bild, das man in Deutschland nur von der Dorfjugend auf dem Land kennt.

Ich schließe für einen Moment die Augen. Die warme Abendluft der Stadt umgarnt mich, fremde und altbekannte Gerüche wehen mir entgegen. Die Dorfjugend ist glücklicherweise verdammt weit weg. Das Schöne an einer Ankunft in Ezeiza ist, dass man sich ganz langsam an die Metropole gewöhnen kann. Erst mal kommt ein bisschen Brachland, dann Militärsportplätze, dann ein paar Häuser - und plötzlich ist man mittendrin im urbanen Leben. Ungeheuer viel gelbes Licht, das um die Wette blinkt, und aus dem Lautsprecher dröhnt Los Caminos de la Vida - ein Solo-Hit von Vicentico, dem Kopf der wiedervereinten Band Los Fabulosos Cadillacs.



Mein Weg führt mich schnurstracks nach San Telmo. Da nämlich befindet sich mein Hotel für meine erste Nacht in Buenos Aires. Es ist weit nach Mitternacht, und auch wenn sich eine gewisse Grundmüdigkeit in meine Glieder schleicht, der Kopf ist wach und der Magen tut sein übriges, um nicht sofort ins Bett zu fallen. Essen um diese Uhrzeit ist kein Problem. Gut essen allerdings schon. Die Parillas sind unter der Woche nicht immer bis drei Uhr morgens geöffnet, wobei allein der Gedanke an ein gutes Stück Fleisch mehr als verlockend ist. Also gehe ich ein paar Schritte. Hinaus aus San Telmo, weg vom Zuhause des Tangos, der hier eigentlich rund um die Uhr getanzt werden sollte. Viele Touristen verschlägt es in dieses Viertel, um nostalgisch penetrant in den Mythos Tango einzutauchen. Inzwischen ist es eine Mischung aus Touristenfalle und Geheimtipp. Wie überall auf der Welt. Neben dem einbeinigen Bettler am Straßenrand kommt gleich ein angesagtes Tanzrestaurant. Así es la vida...

Avenida 9 de Julio, die breiteste Straße der Welt. Viel ist nicht mehr los. Wo man bei Tageslicht immer nur knapp dem tödlichen Verkehrsunfall entkommt, herrscht jetzt gähnende Leere: ein paar Taxen, ein knutschendes Pärchen, das auf der Suche nach einem Telo ist - der argentinischen Variante eines Stundenhotels, mit dem Unterschied, dass es hier deutlich mehr Akzeptanz genießt (sieht man vom eifersüchtigen Partner mal ab...). Der Obelisco leuchtet meiner Nachtruhe entgegen und ich wechsle gemütlich die Straßenseite, um endlich anzukommen in der Stadt, die ich gemeinhin als meine bezeichne.

Heute Nacht gehört sie mir tatsächlich. An der Ecke Belgrano und 9 de Julio habe ich einmal gelebt und ich weiß genau, wo man den besten Pancho der Stadt bekommt. Ein Würstchen im Brot oder neudeutsch auch Hotdog genannt, heißt hier einfach nur Pancho. Ein Stehlokal, aus dem grelles Licht dringt und vor dem allerlei abgehalfterte Gestalten herumlungern. Immer wieder ein bizarrer Anblick. Aber genau das ist Buenos Aires bei Nacht. Abseits vom Trubel der angesagten Ecken, pulsiert ein ganz anderes Leben. Es pulsiert im Rhythmus des Überlebens...

Ich freue mich auf das labbrigeBrötchen mit der roten Industrie-Wurst, die eigentlich nach gar nichts schmeckt. Deshalb gibt‘s in den richtig guten Pancho-Läden auch jede Menge "Geschmacksverstärker". Da ich aber nicht im Fünf-Sterne Pancho-Stehladen bin, sondern nur in dem mit drei Sternen, gibt‘s lediglich Ketchup, Senf, Zwiebeln und natürlich Chimichurri: eine Marinade mit Zwiebeln, Tomaten, Kräutern und allerlei anderen Dingen, die auf keinem Asado fehlen sollten. Aber eben auch nicht auf dem Pancho. Denn nur mit dem scharfen Zeug schmeckt der argentinische Hotdog so, wie er soll.

Nachdem der erste keine zehn Sekunden überlebt, bestelle ich gleich zwei weitere hinterher. "Dir hat‘s geschmeckt, oder?", fragt mich ein müdes Augenpaar. Ich nicke. Hier bin ich also. Mitten in Buenos Aires, im Pancholand um halb vier morgens. Eigentlich gibt es nichts Schöneres, als nach zu vielen Bieren vor dem nach Hause gehen noch einen Pancho in den Rachen zu schieben. Ich aber bin stocknüchtern. Den Pegel der übrigen Gäste werde ich auch nicht mehr aufholen mit dem doch eher seichten lokalen Bier. Heute ist es phantastisch, so, wie es ist. Ich schwitze, der Ventilator versucht mir das Hemd vom Körper zu reißen, im Hintergrund jammert der Fernseher vor sich hin und mein Magen füllt sich, was ja auch Sinn und Zweck meines Spazierganges war. Mein Herz allerdings hat noch lange nicht genug und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich kurz vor Sonnenaufgang dem argentinischen Hotdog fröne. Ehrlicher Weise muss ich gestehen, dass er nicht wirklich gut schmeckt. Aber er ist definitiv Bestandteil der Nacht.



Anmerkung des Autors: Pancho-Läden gibt‘s an jeder Ecke, zumindest aber an jeder dritten. Wer beim Besuch von Buenos Aires die argentinische Variante des Hotdogs nicht gekostet hat, kann eigentlich nicht behaupten, er hätte das wahre Buenos Aires gesehen. Dies sollte meiner Meinung nach auch in jedem guten Reiseführer stehen. Ach ja, solltet ihr auf euren nächtlichen Streifzügen durch die Stadt einmal Pati auf der Speisekarte finden, so handelt es sich um eine weitere argentinische Spezialität: den Burger. Und auch der ist hier im Fleischland durchaus annehmbar.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_3] Bolivien: El retorno a casa - Oder: Doppelte Heimkehr

Knapp drei Jahre hatte Rodrigo in Deutschland gelebt und an einer botanischen Doktorarbeit an der Universität Göttingen gearbeitet, bevor er im September letzten Jahres wieder einmal für sechs Wochen in seine bolivianische Heimatstadt Cochabamba reiste. In diesem Gespräch berichtet er von seinen Erfahrungen zwischen alter und neuer Heimat.

Hast Du Bolivien vermisst?
Ja, natürlich. Ich habe hier in Göttingen ein gemütliches Leben, aber das alte Zuhause fehlt: meine Familie, Freunde aus der Schul- und Studienzeit, auch die bolivianische Kultur und Lebensart. Ich bin als erwachsener Mann nach Deutschland gekommen, mit einer Kultur in mir, die mich bis dahin fest geprägt hat.

Wie hast Du Dich kurz vor der Abreise aus Deutschland gefühlt?
Ich war nervös. Ich habe viel nachgedacht, darüber, was ich in Bolivien machen will, wen ich treffen werde, was mich erwartet.

Und? Was war das erste, das Du in Bolivien gemacht hast?
Ich hatte noch einen zerknitterten 100-Bolivianos-Schein in der Tasche, den ich drei Jahre aufbewahrt habe. Als mich meine Eltern am Flughafen in Cochabamba abgeholt haben, meinten sie, ich sei bestimmt müde und wolle gleich nach Hause. Aber ich habe ihnen den Geldschein gezeigt und gesagt: Nein, ich will erst dieses Geld ausgeben und zwar für churrasco (Grillfleisch, das in Bolivien an vielen Straßenständen angeboten wird). Also sind wir zu einem Grill gefahren, und ich habe ein großes Stück Fleisch gegessen (lacht und hält seine Hände etwa 30 cm auseinander).

Hat sich Cochabamba oder Dein Blick auf die Stadt während Deiner Abwesenheit verändert?
Ja, einige Dinge. Ich habe z.B. einen Freund angerufen und gesagt: Komm, wir treffen uns heute Abend im "Metropolis". Da meinte er nur: Das gibt es seit über zwei Jahren nicht mehr, Du warst lange weg, da hat sich besonders das Nachtleben verändert.

Was auch auffällt, sind die sozialen Unterschiede in Bolivien. Es gibt hier eine sehr arme Mehrheit und wenige reiche Leute. Wenn man lange in Südamerika ist, verliert man das Gespür dafür. Nach der Zeit in Deutschland ist mir das wieder krass aufgefallen. Ach ja, und ich habe zwei neue Neffen kennen gelernt, die während meiner Abwesenheit geboren wurden.

Während Du in Bolivien warst, gab es dort Unruhen zwischen den wirtschaftlich reichen, nach Autonomie strebenden Tieflandprovinzen und dem armen Hochland. Hast Du davon etwas mitbekommen?
Ja, im Fernsehen haben wir in Cochabamba Bilder von einer Demonstration in Cobija im Departamento Pando (nördliches Tiefland) gesehen. Arme campesinos wollten in die Stadt marschieren, um für den Indio-Präsidenten Ewo Morales zu demonstrieren. Da hat die oppositionelle Präfektur von Pando eine bewaffnete Gegendemonstration organisiert. Viele campesinos starben. Einigen wurde sogar noch in den Rücken geschossen, als sie über einen Fluss flüchten wollten.

Wie hat sich der Konflikt weiter entwickelt?
Nun ja, die Regierung hat die Armee nach Cobija geschickt, um die Stadt zu besetzen und einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Gab es in Cochabamba auch Unruhen?
Nein, dort war es glücklicherweise ruhig. Früher waren die Andenstädte La Paz und Cochabamba die Zentren der Unruhen, heute konzentrieren sich die Probleme auf und um Santa Cruz de la Sierra, die größte Stadt im Tiefland.

Wie äußern sich diese Probleme?
Ich hatte ein Treffen mit einer Naturschutzorganisation in Santa Cruz geplant, für die ich früher gearbeitet habe. Aber die Straßen waren blockiert, also musste ich fliegen. Eigentlich wollte ich nur zwei Tage in der Stadt bleiben, aber in dieser Zeit hat die lokale Führung Regierungsbüros und den Flughafen besetzt. Also bleb mir nichts anderes übrig als weitere zwei Tage zu warten, ehe ich nach Cochabamba zurückkehren konnte.

Wie hast Du Deine letzten Tage in Cochabamba verbracht?
Ganz ruhig. Ich wollte die Zeit noch einmal intensiv mit meiner Familie verbringen und war hauptsächlich zu Hause.

Wie war es, schließlich wieder deutschen Boden zu betreten?
Erstmal habe ich auf der Rückreise noch einen Zwischenstopp in Asunción, Paraguay, gemacht - eine chaotische Stadt, Santa Cruz sehr ähnlich. So war der Abschied nicht so abrupt.

Als ich dann wieder in Frankfurt gelandet bin, überkam mich plötzlich das Gefühl, wieder nach Hause zu kommen. Deutschland ist beides, ein fremdes und ein vertrautes Land. In diesem Raum, in dem wir gerade sitzen, steht mein Bett, hier esse und arbeite ich. Ausserdem habe ich viele Freunde hier in Göttingen gefunden.

Die Zeit in der bolivianischen Heimat war schön, aber viele Bekannte haben Cochabamba inzwischen verlassen, und die, die dageblieben sind, haben ihr Leben weiter gelebt. Wie ich halt auch. Nur eben in Deutschland.

Vielen Dank für das Gespräch und herzlich willkommen zu Hause!

Text: Lennart Pyritz

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Spanien: Auf den Spuren der Ureinwohner (Rezension)
Ein archäologischer Reiseführer für die Kanaren

Der Autor Harald Braem eröffnet sein Werk mit der Bemerkung: "Die Guanchen: Tausend Fragen und keine richtige Antwort?" Und in der Tat geht einerseits eine geheimnisvolle Faszination von den Ureinwohnern der Kanarischen Inseln aus, andererseits gibt es nach wie vor wenig gesichertes Wissen über die Geschichte und das Alltagsleben der Guanchen. Braems Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur teilweisen Schließung dieser Wissenslücke.

Auf den Spuren der Ureinwohner
Ein archäologischer Reiseführer für die Kanaren
von Harald Braem

Zech-Verlag
Santa Cruz de Tenerife
Tel./Fax: 0034-922302596
E-Mail: info@zech-verlag.com

www.zech-verlag.com

Er beginnt mit einem Vergleich verschiedener Thesen zum Ursprung der Besiedelung der Kanarischen Inseln: woher kamen die vorspanischen Eroberer? Dabei werden diese Thesen (u.a. der "Atlantismythos", die "Berbertheorie" und die abenteuerliche These, dass die ersten Siedler der Kanaren aus Amerika kamen, mit meist überzeugenden Argumenten, wenn auch etwas kurz) auf ihre Wahrscheinlichkeit überprüft. Zuletzt gibt Braem der atlantischen Westkulturtheorie den Vorzug und stützt sich dabei auch auf archäologische Argumente (z.B. Vergleich von Keramikfunden auf den Kanaren mit ähnlichen in Irland und Galizien). Besonders interessant ist in diesem Kontext ein möglicher Zusammenhang zwischen den kanarischen Steinkreisen (Tagoror) für Kult- und Versammlungszwecke und Stonehenge oder ähnlichen Kultstätten in Irland und Schottland.

Den zweiten Teil des Buchs widmet der Autor einer Analyse des Alltagslebens der Altkanarier (auf Teneriffa Guanchen genannt). Die Gewichtung und der Aussagewert der einzelnen Artikel dieses Abschnitts sind unterschiedlich. Während die Kapitel über Ernährung, Musik und Tanz der Guanchen eher oberflächlich und oft spekulativ bleiben (und auch aufgrund fehlender Datenquellen bleiben müssen), sind die Artikel über Bestattungsriten und Schrift bzw. Felsmalereien der Ureinwohner sehr detailliert und informativ. 

Der dritte und umfangreichste Teil des Buchs ist dem eigentlichen archäologischen Reiseführer vorbehalten. Hier bietet Harald Braem mit gutem Kartenmaterial illustrierte Wegweiser zu den wichtigsten archäologischen Fundstätten der Kanarischen Inseln, von denen viele noch weitgehend unbekannt sind. Zwar gibt es unter den präsentierten Naturdenkmälern und Kultstätten der Ureinwohner einige, die schon berühmt geworden sind: der phallische Roque de Idafe auf der Insel La Palma, die "Pyramiden" von Güimar auf Teneriffa, der Roque Bentaiga auf Gran Canaria oder der Bezirk des spektakulären Tafelbergs "La Fortaleza de Chipude" auf La Gomera. Aber es ist Braems besonderes Verdienst, auch verborgene archäologische Spuren, an denen Touristen oft achtlos vorbei laufen, ans Licht zu holen. 

Komplettiert wird dieses insgesamt sehr informative Werk mit einem kleinen "Guanchenlexikon" und einem nützlichen Glossar. Dabei werden auch die ursprünglichen Guanchennamen der Kanarischen Inseln sowie deren politische Gliederung vor der spanischen Eroberung berücksichtigt. Und das beste: obwohl fundiert und gut recherchiert, kommt das Buch von Braem nicht wissenschaftlich trocken, sondern unterhaltsam daher. Denn wie der Autor es selbst im Vorwort formuliert: "Es soll ja keine Arbeit sein, das Buch zu lesen, sondern Vergnügen bereiten..."  Und das tut es.

Text: Berthold Volberg

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_3] HeldInnen Brasiliens: Angry young girl
Begegnung mit der Sängerin Andreia Dias

Manche Leute erschrecken sich immer noch vor mir. In schwarzes Leder und Netzstrümpfe gekleidet, lässt sie stets so manch einen Zuschauer verstört zurück; besonders wenn sie zu ihrem Lied "Libido" eine Masturbation auf der Bühne vorspielt. Aber beim Treffen mit caiman zeigte sich die Sängerin Andreia Dias charmant und zuvorkommend und outete sich zudem als Fan des Schnulzensängers Roberto Carlos.



Ich spiele Cuíca und Pandeiro, aber in Wirklichkeit bin ich keine Instrumentalistin, sondern Sängerin und Komponistin. Meine Musik würde ich als zeitgenössische brasilianische Populärmusik bezeichnen, mit Einflüssen aus dem Rock N’Roll, Samba, Blues, Soul und lateinamerikanischer Musik. Das ist so ungefähr die Richtung.

"Aus der Nähe betrachtet, ist niemand normal", sagte bekanntlich schon Caetano Veloso. Bei Andreia Dias scheint es genau das Gegenteil zu sein: von weitem erschreckt sie, doch lernt man sie kennen, entpuppt sie sich als die ausgeglichenste Person auf dieser Erde. Wieso haben die Leute gemeinhin wohl ein so verquertes Bild von ihr? Ich erinnere mich an ihren Auftritt auf der "Virada Cultural 2008" im Stadtzentrum von São Paulo, der viele Besucher schockierte.


Ich weiß nicht wieso... vielleicht weil ich nicht gerade eine Diva des Bossa Nova bin... Ich habe den Geist des Rock N’Roll in mir, eine Revolte in meinem Herzen. Und auf der Bühne lass ich das bewusst heraus. Ich bin keine Mädel, das hübsch singt und aus einer Musikantenfamilie der Mittelklasse kommt, die die Karriere der Tochter stets unterstützte... Genau das Gegenteil war bei mir der Fall. Ich habe daheim ordentlich einstecken müssen, denn niemand wollte, dass ich Sängerin werde... Meine Familie gehört einer Pfingstgemeinde an, und ich komme aus Grajaú, einer ziemlich hässlichen und harten Gegend São Paulos. Dort wuchs ich inmitten von Trinkhallen, Gaunereien und den Pfingstkirchen auf.

Ich musste stets hart kämpfen um singen zu können, viel einstecken, bis ich schließlich mit 17 von Zuhause weg bin. Und bin nie wieder zurück. Sängerin zu sein, ist Krieg und hat nichts mit Glamour zu tun. Eher mit Mut.

Nachdem ich von Zuhause weg bin, habe ich angefangen in Bars entlang der Küste zu singen. In Ubatuba, wo ich auch wohnte, in Parati, aber auch hier in São Paulo. Stets nur mit der Gitarre begleitete brasilianische Musik, Bossa Nova vor allem.


Andreia zog von São Paulo nach Rio de Janeiro, wo sie sich als Kindermädchen und Kellnerin über Wasser hielt, bis sie dann den damals auf der Straße lebenden Sänger Seu Jorge kennen lernte, mit dem sie die Band Farofa Carioca gründete. Danach kehrte sie nach São Paulo zurück und rief die Band DonaZica ins Leben, deren Auftritte einen Hauch von Zirkus und Theater versprühen.

2003 trat sie der Banda Glória bei, deren 15 Musiker ein breites Repertoire aus traditionellen Marchinhas, Xotes, Sambas und Chorinhos auf die Bühne bringen. Wie passen diese Musikrichtungen zu einer jungen revoltierenden Frau?

Mein Held war stets Roberto Carlos. Daheim hörten wir ihn ständig und auch die Lieder der Jovem Guarda. Das erste Lied, das ich in der Schule lernte, war eins von Roberto. Ich mag seine Musik immer noch, und eigentlich hab ich mir lediglich weitere Stile dazu angeeignet. Als Jugendliche hörte ich dann Rock N’Roll, danach MPB und sogar Bossa Nova. Heutzutage mag ich einfach alles.

2007 startete Andrea das riskante Unternehmen Solokarriere. Gemeinsam mit Musikern der Banda Glória nahm sie das Album "Vol. 1" auf, deren Lieder sie alle selbst geschrieben hat. Freiheit ist essentiell.

Das Album ist meins, denn ich bin an keine Plattenfirma gebunden. Alle Musiker habe ich selber bezahlt, wie auch die Produktion der Scheibe. Deshalb bin ich unabhängig, bin frei und kann mit dem Album machen, was ich will. Nicht einen Vertrag habe ich unterzeichnet.

Und ich hab mich eigentlich auch niemals darum gekümmert, eine Plattenfirma zu finden. Ich will meine Musik machen, meine Lieder singen. Solange ich unabhängig sein kann, will ich das auch bleiben. Es sei denn ich bekomme ein tolles Angebot. Allerdings sind Plattenfirmen heutzutage ja eher ein Auslaufmodell, und normalerweise handelt es sich um skrupellose Unterdrücker. Dafür hab ich keinen Nerv. Es war schon schwierig genug, mir meine Unabhängigkeit zu erkämpfen, und ich will sie nicht für derartige Interessenspiele aufgeben.



Die Freiheit hat allerdings ihren Preis. Unzählige Shows in ganz Brasilien absolvierte sie um das Album zu promoten. Darunter Auftritte vor nicht mehr als 20 zahlenden Gästen in Bars in Vila Madalena, dem Viertel, in dem sie wohnt. Aber auch Auftritte wie der bei der "Virada Cultural", als sie vor vielen tausend Zuhörern spielte. Letztlich scheint sich all das ausgezahlt zu haben. Ende 2008 nahm sie an einem Spezial über Roberto Carlos bei TV Globo teil und präsentierte sich zudem in Jô Soares Talkshow, bevor sie sich auf ihre erste Konzert-Tour durch Europa begab. Trotz des Erfolgs, ihre Revolte hat sie noch nicht beigelegt.

Ich bin sauer auf so ziemlich alles, darauf dass ich nicht durch mein eigenes Land reisen kann, da das einfach zu teuer ist. Ich bin sauer auf die Korruption, die es hier gibt. Darauf, dass nur wenige wirklich Macht haben und das Geld in der Hand weniger ist; darauf, dass es solch eine soziale Ungerechtigkeit gibt, dass das Gesundheitssystem so lückenhaft ist und so weiter.... Gründe um sauer zu sein, um zu revoltieren, gibt es genug.



Kann sich durch die eigene Revolte etwas ändern?
Nein. Ich wäre froh, wenn dem so sein würde, aber so funktioniert das nicht. Ich wünschte mir schon, etwas ändern zu können, die Welt zu retten, Brasilien zu retten – das wäre toll. Aber was kann ich schon machen? Nichts, außer vielleicht die Politiker zu beseitigen (lacht), eine Guerilla-Gruppe zu gründen... (lacht noch mehr).

Lula, lass uns diesen Spruch von unserer Nationalflagge entfernen, denn das ist schon mal die erste Sache, die vollkommen falsch gelaufen ist. Denn "Ordem e Progresso", "Ordnung und Fortschritt" gibt es hier einfach nicht. Das ist eine furchtbare Erfindung des Positivismus. Am besten lassen wir einfach bloß jene Kugel mit den Sternen stehen. "Ordnung und Fortschritt" gibt es nicht, denn Fortschritt entsteht nur aus der Unordnung, es ist das Chaos, das den Fortschritt hervorbringt. Als Zweites würde ich gerne mit dem Kongress aufräumen, denn niemand braucht wirklich so viele Senatoren und Abgeordnete. Lasst uns die Jungs nach Hause schicken, ab heute haben wir lediglich einen Präsidenten und Schluss – Aus... (lacht noch mehr)

Es gibt Leute, die immer noch ein wenig erschrocken über mich sind, denn schließlich bin ich ja noch eine Neuheit. Noch bin ich dabei, die Jungs zu bearbeiten, gehe dabei sehr behutsam vor, und dabei gibt es Leute, die viel Spaß haben und solche, die ein wenig erschrocken reagieren. Aber bis jetzt hab ich eigentlich noch nie jemanden getroffen, dem es irgendwie überhaupt nicht gefallen hat.

Text + Fotos: Thomas Milz

http://www.andreiadias.com.br/
http://www.myspace.com/andreiadias

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: heldInnen brasilens]





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[kol_3] Macht Laune: Im Galopp mit dem Stäbchen durch die Öse
Stadtfest in Altamira de Cáceres
 
Am dritten und letzten Festtag zu Ehren der Schutzheiligen von Altamira, Inmaculada Concepción (Unbefleckte Empfängnis), findet als große Abschlussveranstaltung die Carrera con cintas, das Pferderennen mit Bändern, statt. Acht Reiter treten gegeneinander an. Sie starten in kurzen Abständen und versuchen mit Stäbchen nach Bändern, die an drei Stellen von quer über die Straße gespannten Drahtseilen herabhängen, zu fischen. An den Bändern befinden sich Ösen in der Größe eines Eurostücks, die es zu treffen und aufzuspießen gilt.

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Das Spektakel beginnt irgendwann zwischen 15 und 16 Uhr und nach und nach strömen die Zuschauer herbei. Nach dem 6. Rennen ist die Musikanlage installiert, der Bierstand besetzt und die Straße gefüllt. Die Reiter preschen weiter Runde um Runde die Straße herauf. Einige stehen die gesamte Strecke auf dem Rücken des Pferdes, andere galoppieren im Sitzen und schießen zielgenau vor den Bändchen empor. Nach den letzten Bändchen stürzen sie alle in ihre Sättel und reißen an den Zügeln, um nicht mit den alkoholisiert feiernden Zuschauern zu kollidieren.

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Etwa auf Höhe des Einleitens des Bremsvorgangs befindet sich das Moderatorenduo und verkündet gegen die Musik anbrüllend die Preise der aktuellen Runde:
"90.000 Bolívares für das rote Band. 20.000 für das gelbe."
"Ich erhöhe auf 150.000. 150.000 Bolívares für denjenigen Reiter, der das rote Band aus vollem Galopp mit seinem Essstäbchen durchbohrt und ins Ziel bringt."
"Wir erhöhen auf 180.000..."
Darüber hinaus feuern sie die Reiter an oder machen sich lustig, falls die Geschwindigkeit eines Pferdes nicht stimmt:
"Was ist das denn? Du sollst nicht kriechen, sondern galoppieren. Gib Gas jetzt."

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Der Fall, dass einer der beiden langsameren Reiter ein Band erhascht, tritt an diesem Nachmittag nicht ein und so muss auch keine Jury einschreiten, die sich vielleicht spontan zusammengefunden oder aus den Zuschauern bestanden hätte. Zuschauer und Reiter scheinen sich zu kennen. Nach jeder Runde begeben sich die Reiter gemach zum Ausgangspunkt. Dazu machen sie es sich auf ihren Pferden bequem und lassen sich biertrinkend, händeschüttelnd und schwätzchenhaltend denselben Weg, den sie eben noch in höchster Geschwindigkeit passiert haben, zurücktragen.

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Dann beginnt in vollem Galopp die Jagd mit dem Stäbchen nach den Ösen erneut bis die Nacht herein bricht.






[kol_4] Erlesen: Kolumbien im Fokus
Kleine Geschichte Kolumbiens von Hans-Joachim König

Mit Kolumbien bringen Deutsche vor allem Bürgerkrieg, Entführungen und Drogen in Verbindung. Die geschichtlichen Hintergründe des Konfliktes bzw. der Konflikte bleiben den meisten Lesern (und Journalisten) verschlossen. Diese Lücke füllt nun im populären Taschenbuchsegment die Kleine Geschichte Kolumbiens von Hans-Joachim König, emeritierter Professor für lateinamerikanische Geschichte.

Die geographische Benachteiligung des Landes durch drei Bergzüge der Anden, die eine verkehrstechnische Verbindung der verschiedenen Regionen sehr erschweren und damit einhergehend auch die gemeinsame Identifikation zur Bildung eines Nationalstaats, ist der erste nachvollziehbare Aspekt, den König in seinem Buch als eine Ursache für die heutige Situation anführt. Übrigens auch der Grund, warum Kolumbien 1919 das erste lateinamerikanische Land mit einer eigenen Fluggesellschaft war.

Hans-Joachim König
Kleine Geschichte Kolumbiens
C.H. Beck
München 2008
Seiten 188
12,95€

Der so durch die Natur geförderte, später entstandene extreme Föderalismus, gepaart mit den egoistischen Interessen der regionalen Eliten führte dazu, dass die in verschiedenen Teilen des Landes gebauten Eisenbahntrassen verschiedene Spurweiten hatten. Trotz des fehlenden gemeinsamen Nationalgefühls waren es kolumbianische Aufständische, die als einzige in der Kolonialgeschichte des Kontinents der spanischen Kolonialmacht 1781 in den sog. capitulaciones politische und ökonomische Zugeständnisse abringen konnten, die dann wie fast alle anderen fortschrittlichen Vereinbarungen, von denen im weiteren Verlauf des Buches die Rede ist, nicht oder nur teilweise erfüllt wurden. Denn fast alle Reformprogramme, die lang und breit geschildert werden, enden mit dem frustrierenden Fazit des Autors, "konnte sich nicht durchsetzen" (z.B. S. 131).

Die Eliten Kolumbiens waren nie ernsthaft an einer Demokratisierung des Landes interessiert, Gewinnstreben stand und steht immer vor sozialen und nationalen Belangen. Selbst Simon Bolívar setzte unter diesen Bedingungen auf die Diktatur als Regierungsform, eine langfristige Stabilität konnte aber auch er nicht erreichen. Kulturelle Vereinigungen trugen dazu bei, das Bewusstsein um die eigene (Kultur)Nation zu stärken und sich von Spanien zu lösen. Aber auch so entwickelte sich kein ausreichendes Nationalgefühl. Letztlich ist auch das "Ausscheiden" Panamas - unter starker Mithilfe der USA - aus der Föderation auf die kurzsichtige und oft dumme Politik der Eliten zurückzuführen. Und wenn es in kurzen Zeiträumen zu sozialen und ökonomischen Verbesserungen kam, war das immer nur externen Faktoren geschuldet, so der Preissteigerung für das Hauptexportprodukt Kaffee oder ausländischen Krediten.

Wie Fähnchen im Wind änderten Liberale und Konservative ihre Politik, wenn die persönlichen Interessen gefährdet waren. Nur wenige Präsidenten hatten den Mut zu Reformen. Manche Liberale hatten kurzfristig sogar sozialistische Ideen, die sich aber ebenfalls nicht durchsetzen konnten. König schildert die politischen Prozesse und ökonomischen Entwicklungen oft sehr detailliert (z.B. S. 125/126), die Namenshäufungen machen die Lektüre mitunter langatmig. Man wünscht sich in diesem für die breitere Masse verfassten Werk die Aufnahmekapazität von akademischen Fuß- oder Endnoten herbei.

Eine Lösung für die Konflikte kann der Autor naturgemäß nicht anbieten, sieht jedoch keine Hoffnung, solange die internationale Drogennachfrage ungebrochen bleibt. Bildung und ökonomische Sicherheit für die Unter- und Mittelschicht sind langfristig die einzigen Gegenmittel; doch daran scheinen die Eliten nicht interessiert.

Dass das Land neben den eingangs erwähnten Negativschlagzeilen mehr zu bieten hat - u.a. Rhythmen wie die cumbia, Weltliteratur von Gabriel García Marquez oder die Kunst des Fernando Botero - das bleibt dem Leser auch nach der Lektüre von Königs Buch verschlossen. Auf dem Umschlag des Buches sind zwar u.a. ein Gemälde von Botero und ein Porträt von Gabriel García Marquez zu sehen, aber das ist reine Verlagsstrategie; im Buch keine Spur von Kultur, nichts... Ein kurzes Kapitel zur Kultur in dem o.g. Schwergewichte, aber gerne auch Idole von heute - Juan Pablo Montoya oder Shakira - vorgestellt und die Hauptlinien der kolumbianischen Kultur nachgezeichnet werden, hätte nicht geschadet, sondern weitere Leser für das Land (und das Buch) interessiert. Aber diese Kritik habe ich - mal stärker, mal schwächer - schon bei anderen Büchern dieser Reihe angeführt. An der Kultur(Geschichte) interessierte Leser brauchen diese Buchreihe nicht zu kaufen. Sie ist (leider) rein auf politische und ökonomische Ereignisse ausgerichtet, bietet damit allerdings einen guten Einstieg in die Hintergründe der aktuellen Situation.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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