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[kol_3] HeldInnen Brasiliens: Angry young girl
Begegnung mit der Sängerin Andreia Dias

Manche Leute erschrecken sich immer noch vor mir. In schwarzes Leder und Netzstrümpfe gekleidet, lässt sie stets so manch einen Zuschauer verstört zurück; besonders wenn sie zu ihrem Lied "Libido" eine Masturbation auf der Bühne vorspielt. Aber beim Treffen mit caiman zeigte sich die Sängerin Andreia Dias charmant und zuvorkommend und outete sich zudem als Fan des Schnulzensängers Roberto Carlos.



Ich spiele Cuíca und Pandeiro, aber in Wirklichkeit bin ich keine Instrumentalistin, sondern Sängerin und Komponistin. Meine Musik würde ich als zeitgenössische brasilianische Populärmusik bezeichnen, mit Einflüssen aus dem Rock N’Roll, Samba, Blues, Soul und lateinamerikanischer Musik. Das ist so ungefähr die Richtung.

"Aus der Nähe betrachtet, ist niemand normal", sagte bekanntlich schon Caetano Veloso. Bei Andreia Dias scheint es genau das Gegenteil zu sein: von weitem erschreckt sie, doch lernt man sie kennen, entpuppt sie sich als die ausgeglichenste Person auf dieser Erde. Wieso haben die Leute gemeinhin wohl ein so verquertes Bild von ihr? Ich erinnere mich an ihren Auftritt auf der "Virada Cultural 2008" im Stadtzentrum von São Paulo, der viele Besucher schockierte.


Ich weiß nicht wieso... vielleicht weil ich nicht gerade eine Diva des Bossa Nova bin... Ich habe den Geist des Rock N’Roll in mir, eine Revolte in meinem Herzen. Und auf der Bühne lass ich das bewusst heraus. Ich bin keine Mädel, das hübsch singt und aus einer Musikantenfamilie der Mittelklasse kommt, die die Karriere der Tochter stets unterstützte... Genau das Gegenteil war bei mir der Fall. Ich habe daheim ordentlich einstecken müssen, denn niemand wollte, dass ich Sängerin werde... Meine Familie gehört einer Pfingstgemeinde an, und ich komme aus Grajaú, einer ziemlich hässlichen und harten Gegend São Paulos. Dort wuchs ich inmitten von Trinkhallen, Gaunereien und den Pfingstkirchen auf.

Ich musste stets hart kämpfen um singen zu können, viel einstecken, bis ich schließlich mit 17 von Zuhause weg bin. Und bin nie wieder zurück. Sängerin zu sein, ist Krieg und hat nichts mit Glamour zu tun. Eher mit Mut.

Nachdem ich von Zuhause weg bin, habe ich angefangen in Bars entlang der Küste zu singen. In Ubatuba, wo ich auch wohnte, in Parati, aber auch hier in São Paulo. Stets nur mit der Gitarre begleitete brasilianische Musik, Bossa Nova vor allem.


Andreia zog von São Paulo nach Rio de Janeiro, wo sie sich als Kindermädchen und Kellnerin über Wasser hielt, bis sie dann den damals auf der Straße lebenden Sänger Seu Jorge kennen lernte, mit dem sie die Band Farofa Carioca gründete. Danach kehrte sie nach São Paulo zurück und rief die Band DonaZica ins Leben, deren Auftritte einen Hauch von Zirkus und Theater versprühen.

2003 trat sie der Banda Glória bei, deren 15 Musiker ein breites Repertoire aus traditionellen Marchinhas, Xotes, Sambas und Chorinhos auf die Bühne bringen. Wie passen diese Musikrichtungen zu einer jungen revoltierenden Frau?

Mein Held war stets Roberto Carlos. Daheim hörten wir ihn ständig und auch die Lieder der Jovem Guarda. Das erste Lied, das ich in der Schule lernte, war eins von Roberto. Ich mag seine Musik immer noch, und eigentlich hab ich mir lediglich weitere Stile dazu angeeignet. Als Jugendliche hörte ich dann Rock N’Roll, danach MPB und sogar Bossa Nova. Heutzutage mag ich einfach alles.

2007 startete Andrea das riskante Unternehmen Solokarriere. Gemeinsam mit Musikern der Banda Glória nahm sie das Album "Vol. 1" auf, deren Lieder sie alle selbst geschrieben hat. Freiheit ist essentiell.

Das Album ist meins, denn ich bin an keine Plattenfirma gebunden. Alle Musiker habe ich selber bezahlt, wie auch die Produktion der Scheibe. Deshalb bin ich unabhängig, bin frei und kann mit dem Album machen, was ich will. Nicht einen Vertrag habe ich unterzeichnet.

Und ich hab mich eigentlich auch niemals darum gekümmert, eine Plattenfirma zu finden. Ich will meine Musik machen, meine Lieder singen. Solange ich unabhängig sein kann, will ich das auch bleiben. Es sei denn ich bekomme ein tolles Angebot. Allerdings sind Plattenfirmen heutzutage ja eher ein Auslaufmodell, und normalerweise handelt es sich um skrupellose Unterdrücker. Dafür hab ich keinen Nerv. Es war schon schwierig genug, mir meine Unabhängigkeit zu erkämpfen, und ich will sie nicht für derartige Interessenspiele aufgeben.



Die Freiheit hat allerdings ihren Preis. Unzählige Shows in ganz Brasilien absolvierte sie um das Album zu promoten. Darunter Auftritte vor nicht mehr als 20 zahlenden Gästen in Bars in Vila Madalena, dem Viertel, in dem sie wohnt. Aber auch Auftritte wie der bei der "Virada Cultural", als sie vor vielen tausend Zuhörern spielte. Letztlich scheint sich all das ausgezahlt zu haben. Ende 2008 nahm sie an einem Spezial über Roberto Carlos bei TV Globo teil und präsentierte sich zudem in Jô Soares Talkshow, bevor sie sich auf ihre erste Konzert-Tour durch Europa begab. Trotz des Erfolgs, ihre Revolte hat sie noch nicht beigelegt.

Ich bin sauer auf so ziemlich alles, darauf dass ich nicht durch mein eigenes Land reisen kann, da das einfach zu teuer ist. Ich bin sauer auf die Korruption, die es hier gibt. Darauf, dass nur wenige wirklich Macht haben und das Geld in der Hand weniger ist; darauf, dass es solch eine soziale Ungerechtigkeit gibt, dass das Gesundheitssystem so lückenhaft ist und so weiter.... Gründe um sauer zu sein, um zu revoltieren, gibt es genug.



Kann sich durch die eigene Revolte etwas ändern?
Nein. Ich wäre froh, wenn dem so sein würde, aber so funktioniert das nicht. Ich wünschte mir schon, etwas ändern zu können, die Welt zu retten, Brasilien zu retten – das wäre toll. Aber was kann ich schon machen? Nichts, außer vielleicht die Politiker zu beseitigen (lacht), eine Guerilla-Gruppe zu gründen... (lacht noch mehr).

Lula, lass uns diesen Spruch von unserer Nationalflagge entfernen, denn das ist schon mal die erste Sache, die vollkommen falsch gelaufen ist. Denn "Ordem e Progresso", "Ordnung und Fortschritt" gibt es hier einfach nicht. Das ist eine furchtbare Erfindung des Positivismus. Am besten lassen wir einfach bloß jene Kugel mit den Sternen stehen. "Ordnung und Fortschritt" gibt es nicht, denn Fortschritt entsteht nur aus der Unordnung, es ist das Chaos, das den Fortschritt hervorbringt. Als Zweites würde ich gerne mit dem Kongress aufräumen, denn niemand braucht wirklich so viele Senatoren und Abgeordnete. Lasst uns die Jungs nach Hause schicken, ab heute haben wir lediglich einen Präsidenten und Schluss – Aus... (lacht noch mehr)

Es gibt Leute, die immer noch ein wenig erschrocken über mich sind, denn schließlich bin ich ja noch eine Neuheit. Noch bin ich dabei, die Jungs zu bearbeiten, gehe dabei sehr behutsam vor, und dabei gibt es Leute, die viel Spaß haben und solche, die ein wenig erschrocken reagieren. Aber bis jetzt hab ich eigentlich noch nie jemanden getroffen, dem es irgendwie überhaupt nicht gefallen hat.

Text + Fotos: Thomas Milz

http://www.andreiadias.com.br/
http://www.myspace.com/andreiadias

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