brasilien: Aus dem Verkehr gezogen
São Paulos Straßenkinder zwischen Neoliberalismus und Zukunftslosigkeit
THOMAS MILZ
[art. 1]
mexiko: Das Centro Mexicano de la Tortuga in Mazunte
Ein Besuch bei den Schildkröten
CAMILA UZQUIANO
[art. 2]
spanien: Barcelona zu Fuß bebildert
DIRK KLAIBER
[art. 3]
brasilien: Indios Online
NICO CZAJA
[art. 4]
grenzfall: Mister Shoeshine
NIL THRABY
[kol. 1]
amor: Machu Picchu: Hiram Binghams ewige Liebe
THOMAS MILZ
[kol. 2]
macht laune: Nur zwei salvadorianische Stunden
SÖNKE SCHÖNAUER
[kol. 3]
erlesen: Buchrezension: Venezuela. Die Bolivarische Republik
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Aus dem Verkehr gezogen
São Paulos Straßenkinder zwischen Neoliberalismus und Zukunftslosigkeit

Sobald die Ampel auf Rot springt, flitzt Mateus von Auto zu Auto. In der einen Hand eine Flasche Spülmittel gemixt mit Wasser, in der anderen einen Gummiwischer. Für einen Real, etwa 30 Eurocent, säubert er geschwind rundum alle Scheiben. Am Tag kommt er damit auf 20 Real, etwa 7 Euros. Seit eineinhalb Jahren lebt der 17-jährige unter Plastikfolien und etwas Pappe auf dem Grünstreifen inmitten einer viel befahrenen Straße in São Paulos Mittelklasseviertel Pinheiros.

Von Zuhause ist er abgehauen, und zurück will er nicht. "Zu viel Durcheinander und keine Perspektive" erwarten in dort. In einem städtischen Kinderheim war er auch schon. "Und da sah es genauso aus." Mateus ist einer von 3000 Minderjährigen, so schätzt die Stadtverwaltung, die an den Straßenkreuzungen des Zentrums der 20 Millionen Metropole ihren Lebensunterhalt mit Scheibenputzen, Jonglieren oder dem Verkauf von Bonbons und Kaugummi verdienen.

Mit einer breit angelegten Aufklärungskampagne namens "Gib mehr als nur Almosen, biete Zukunft" versucht die dieses Jahr ins Amt gewählte konservative Stadtverwaltung, dem Almosengeschäft ein Ende zu setzen und die Kinder von der Straße zurück in ihre Familien zu bringen.

Für Kritiker wie Padre Júlio Lancelotti, São Paulos lautstarkem Fürsprecher der Obdachlosen, ist die Kampagne jedoch "der Versuch, das Zentrum von ungewollten Subjekten zu säubern, eher eine politische Aktion als ein Sozialprogramm." Und für Márcio Pochmann, ehemals Sekretär für Arbeit unter der Ende letzten Jahres abgewählten linken Stadtregierung, ist das Programm "Teil einer neoliberalen Politik, die an Brasiliens gute alte Tradition des Versteckens der Probleme ansetzt, ohne Lösungen anzubieten." "Die Stadtverwaltung meine", so Pochmann, "ohne Bürger, die Almosen geben, gäbe es das Problem erst gar nicht. Da wackelt der Schwanz doch mit dem Hund."

"Laut Gesetz sind wir verpflichtet, gegen Kinderarbeit vorzugehen", verteidigt eine Mitarbeiterin des Sozialsekretariats die Kampagne. "Kinder und Jugendliche gehören in die Schule und die Familie, und nicht auf die Straße." Die Familien, die ihre verlorenen Kinder wieder aufnehmen und dafür sorgen, dass sie zur Schule gehen, haben offiziell Anspruch auf Unterstützung. Man verspricht ihnen zumindest, "sie bei der Bewilligung von Unterstützung zu bevorzugen".

"Nicht die Autofahrer sollten aufhören, Almosen zu geben, sondern die Stadtverwaltung", kritisiert Padre Lancelotti. "Wenn Kinder von Almosen leben müssen, ist das ein Zeichen fehlender Sozialpolitik. Wir brauchen Programme, die sie für den Arbeitsmarkt vorbereiten, anstatt sie auf ewig von den Almosen des Staates abhängig zu machen." Pochmann stimmt ihm zu. "Es fehlen begleitende Maßnahmen, um diesen Familien eine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten. Im Jahr 2000 wurden in São Paulo 350.000 Familien ohne jedwede Einkommensquelle gezählt. Sie sind 24 Stunden am Tag mit dem Überleben beschäftigt und haben keine Zeit, ihren Karriereplan auszuarbeiten, so wie sich das die Stadtverwaltung vorstellt."

"Die meisten Kinder und Jugendlichen, die hier an der Kreuzung arbeiten, gehen tagsüber in die Schule und abends verdienen sie den Unterhalt für sich oder die Familie", berichtet Mateus. "Sie sind hier, weil sie das Geld zum Überleben brauchen. Gezwungen werden sie nur von der Not, von niemandem sonst."

Das sieht die Stadtverwaltung anders. "Es gibt viele Fälle in Pinheiros und anderen Stadtteilen, in denen die Kinder zum Arbeiten gezwungen werden. Eltern oder Verwandte bringen sie aus den Randgebieten der Stadt oder sogar aus anderen Städten zum Arbeiten ins Zentrum. Und das ist ein Fall für die Polizei", so die Mitarbeiterin des Sozialsekretariats.

Da stimmt José Pereira Lopes Neto, Polizeichef des Stadtteils Pinheiros, im Prinzip zu. "Wenn die Kinder zum Arbeiten gezwungen werden, sind wir zuständig." Nur, "in der letzten Zeit gab es keinen solchen Fall. Das letzte Mal, dass wir einschreiten mussten, liegt lange zurück", berichtet er. "Die Stadtverwaltung versucht, unliebsame Personen in die Außenbezirke abzudrängen. Doch genau dort hat man in den letzten Monaten massiv die Mittel gekürzt, so dass heute mehr Menschen aus den Randbezirken ins Zentrum kommen, um dort ums Überleben zu kämpfen", sagt Pochmann.

Miguel ist so ein Fall. Aus dem zerrütteten Zuhause am Stadtrand - ein Bruder im Gefängnis, der Vater zu Verwandten abgehauen - ist der 10-jährige weggelaufen und hat sich ins Zentrum aufgemacht. "Daheim war es langweilig und es gab noch nicht mal Spielzeug." Auf São Paulos Finanzmeile, der Avenida Paulista, hat er Bonbons verkauft und nachts in einer Favela geschlafen, "bei den Jungs, die mit Drogen handeln." "Geklaut hat er auch", sagt Fernanda Bortalini, die ihn jetzt im Padre Batista Heim aufgenommen hat. "Für Kinder wie Miguel bedeutet die Straße Freiheit. Und das Zentrum bietet für sie die besten Chancen zum Überleben. So stellen sie sich das wenigstens in ihrer kindlichen Phantasie vor", sagt Fernanda. So sind es in der Regel eher die desillusionierten, älteren Jugendlichen, die nach jahrelangem Überlebenskampf auf den Straßen des Zentrums die rettende Aufnahme in ein Heim suchen.

Das Padre Batista Übergangsheim betreut normalerweise 25 Kinder und Jugendliche. Zurzeit sind es 30. Von Juni bis September zahlt die Stadtverwaltung fünf Extraplätze. "Kaltfront-Programm" heißt das offiziell, Unterschlupf für die Wintermonate, wenn die nächtlichen Temperaturen bis nahe an den Gefrierpunkt absinken können. Maximal sechs Monate können die Kinder im Übergangsheim bleiben. Dann sollen sie eigentlich zurück in ihre Familien. Doch meist werden sie in ein Langzeitheim weitergereicht. Oder gehen zurück auf die Straße. "Entweder wollen die Familien sie nicht wieder aufnehmen oder haben ihnen keinerlei Perspektive oder Rückhalt zu bieten", erklärt Fernanda.

Miguel will auf keinen Fall zurück in seine gespaltene Familie am Rand der großen Stadt. "Ich will in die Schule gehen, dann studieren und Zahnarzt werden", so seine langfristigen Pläne. Kurzfristig ist ihm jedoch eher nach Bonbons und Videospielen zumute. Als Fernanda beides ablehnt, läuft er auf die Straße hinaus. "Dann geh ich eben!", sagt er grinsend. Fernanda verschränkt die Arme und atmet tief durch. "Gegen seinen Willen können wir ihn nicht hier halten. Schließlich ist er freiwillig gekommen."

"Ich weiß, er will mich nur erpressen und kommt gleich wieder zurück", sagt sie bemüht. In ihrem starren Blick jedoch liegt wenig Optimismus.

Text + Fotos: Thomas Milz







[art_2] Mexiko: Das Centro Mexicano de la Tortuga in Mazunte

Es sind lediglich 4,5 Kilometer von Zipolite bis zum unbekannteren Mazunte an der Pazifikküste Mexikos und es sind lediglich 15 Jahre vergangen, seitdem die mexikanische Regierung den Fang von Schildkröten per Gesetzgebung unter Strafe gestellt hat. Zwar gab es bereits Anfang der 60er Jahre Bestrebungen der Behörden, diesen einzigartigen Tieren einen besonderen Schutz zukommen zu lassen und der Tatsache Tribut zu zollen, dass sieben der acht existierenden Meeresschildkrötenarten an Mexikos Küsten leben oder zur Eiablage an dessen Strände kommen, darunter die Tortuga Lora, die ausschließlich Mexikos Küsten zur Eiablage wählt, aber mit einem bloßen staatlichen Dekret war es nicht getan.

Die Bewohner ganzer Küstenabschnitte lebten damals vom Fang dieser Tiere. Schildkrötenfleisch wurde in beinahe jedem Restaurant und Hotel angeboten und die Eier galten als besondere Delikatesse. Und so dauerte es bis 1990 bis die Regierung auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als gegeben sah, ein derartiges Gesetz in der Bevölkerung zu implementieren. Der Fang der Meerestiere wurde untersagt und den Legeplätzen kam ein besonderer Schutz zu.


Man entschloss sich, im Rahmen der Umsetzung des Gesetzes zum Schutz der Schildkröten an der Küste des Bundesstaates Oaxaca zur Gründung des Centro Mexicano de la Tortuga (CMT) im Jahre 1991. Weitere drei Jahre sollte es dauern bis das Projekt in die Tat umgesetzt war. 1994 öffnete das Centro, das heute der Comisión Nacional de Áreas Naturales Protegidas (CONANP) untersteht, seine Pforten für Besucher. Hauptanliegen waren und sind die wissenschaftliche Erforschung der Meerestiere, die Schaffung eines Bewusstseins für diese Spezie bei der einheimischen Bevölkerung und die Förderung des Tourismus. Dort, wo sich noch 1990 eine Fabrik zur Verarbeitung von Schildkrötenfleisch befand, findet sich heute ein vier Quadratkilometer großes Gelände, auf dem der Besucher verschiedene Schildkrötenarten (unter ihnen zwei Landschildkrötenarten und sechs Süßwasserschildkrötenarten) bestaunen kann, die hier zu Forschungszwecken gehalten oder darauf warten, in die Freiheit entlassen zu werden.

Ein Team von Biologen, Veterinären und Technikern studiert und analysiert das Verhalten und die Nahrungsgewohnheiten der Schildkröten in ihrer natürlichen Umgebung und kümmert sich um kranke bzw. verletzte Tiere im Centro. In enger Zusammenarbeit mit freiwilligen Helfern aus der ganzen Welt überwacht man die Eiablage und den Erfolg der Schlüpfvorgänge so wie die Population der Tiere, studiert das Fortpflanzungsverhalten und behandelt Krankheiten, die während der Eiablage auftreten können, kontrolliert die Wasserqualität und bietet Schutz vor Wilderern. Mehrmals im Jahr (von 2001 bis 2005 zwischen sieben und elf Mal jährlich) kommen tausende Weibchen zur Eiablage zur Playa de la Escobilla. Bis September 2005 zählte man bereits mehr als 11 Ankünfte und die Lepidochelys olivacea oder Tortuga Golfina gilt nicht mehr als vom Aussterben bedroht.

Infokasten:
Die Playa de la Escobilla zählt weltweit zu den wichtigsten Stränden für die Eiablage der Meeresschildkröten. Die Arribada (Ankunft der Schildkröten am Strand) erstreckt sich über drei bis fünf Tage. Während dieser Zeit führen die Mitarbeiter des CMT alle acht Stunden eine Zählung an dem acht Kilometer langen Strandabschnitt durch, den die Weibchen für ihren Nestbau in Anspruch nehmen. Jedes Weibchen wird von den Helfern des CMT erfasst. Nur wenn die Anzahl 1500 Exemplare übersteigt, greift man zu einer Schätzmethode. Dann wird der Strand in Segmente eingeteilt: Etwa jede 100 Meter befindet sich ein Zementpfeiler, der eine Abschnitt von 1 bis 73 bezeichnet. Es ist bekannt, dass die meisten Ankünfte in den Abschnitten 5 bis 40 stattfinden; weit weniger in den Segmenten 40 bis 73. Aus diesen Erfahrungswerten schätzt man dann die tatsächliche Anzahl der zur Eiablage kommenden Weibchen.

Man betritt das Centro durch ein riesiges Tor und wendet sich vorbei an der Anmeldung nach links in den "Warteraum". Überdacht, aber zu allen Seiten hin offen, bietet er dem Besucher auf riesigen "Wandtafeln" die Möglichkeit, sich im Vorfeld der Führung über die Meerestiere zu informieren. Sobald die entsprechende Touristengruppenstärke erreicht und die Frage nach der präferierten Sprache, in der die Führung gehalten werden soll, geklärt ist, geht es durch einen botanischen Garten zu den ersten Wasserbassins.


Hier tummeln sich die Jungtiere und die Land- bzw. Süßwasserschildkröten  Manche dösen einfach in der Sonne vor sich hin, andere vollführen hektische oder elegante Schwimmübungen. In einem großen runden Außenbecken befinden sich junge Meeresschildkröten verschiedener Arten, die noch nicht geschlechtreif sind und deshalb bunt zusammen gewürfelt schwimmen dürfen. Später werden sie dann Art gerecht getrennt. Am meisten beeindruckt uns jedoch die Tortuga Lagarto (Aligatoren Schildkröte), die aussieht, als wäre ihr Körper fast vollständig von Algen überzogen, und die riesige Klauen ihr eigen nennt. Bei ihr handelt es sich um ein Fleisch fressendes Süßwasserexemplar (Anekdoten über Einheimische, die ihr beinahe zum Opfer fielen, untermalen die Ausführungen unseres Guides). Nachdem die Besuchergruppe ihr respektvolles Schweigen überwunden hat, geht es zurück durch den botanischen Garten zum hauseigenen Aquarium. Es folgt eine Kurzeinführung über alle in Oaxaca heimischen vom Aussterben bedrohten Tierarten anhand von präparierten Exemplaren und dann beginnt der Rundgang vorbei an den hohen Frontscheiben der einzelnen Becken. Auch hier schwimmen, schlafen und tauchen alle Altersgruppen unterschiedlichster Größe in Gruppen oder für sich alleine. An jedem Becken erhalten wir eine sehr ausführliche Beschreibung über Art, Nahrungsgewohnheiten und Aufenthaltsdauer der jeweiligen Bewohner. Fotografieren ohne Blitzlicht ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Anschließend erhält man etwas Zeit, um sich jedes Becken noch einmal genau zu betrachten. Auch hier beeindruckt die Fachkenntnis und Freundlichkeit unseres Guides.

Den Abschluss der Führung bildet ein kleines Gebäude, in dem man durch ein Fenster diverse in Formalin eingelegte Schildkröteneier in unterschiedlichen Schlüpfstadien betrachten kann. Nicht gerade ästhetisch aber interessant (befruchtete und aus Sicherheitsgründen den Nestern entnommene Eier werden im dem Museum angeschlossenen Camp in Playa de la Escobilla künstlich ausgebrütet). Keine zwanzig Meter entfernt bietet eine kleine Cafeteria mit angeschlossenem Souvenirshop eine abschließende Möglichkeit zur Entspannung bevor man das Centro wieder verlässt. Biegt man nach links ab, so kommt man zum Büro des Direktors. Hier erhält man eine Fülle an Informationsmaterial über das Centro und über die Möglichkeiten eines Volontariats.


Als wir nach einer Stunde das Centro verlassen, treffen wir auf eine Gruppe von acht zehn- bis zwölfjährigen mexikanischen Kindern, die eine verletzte Schildkröte in Händen halten und diese am Eingang abgeben. Noch vor wenigen Jahren hätten sie dieses Tier wahrscheinlich mit nach Hause genommen. Das gibt Hoffnung für die Zukunft, auch wenn heutzutage in Mexiko immer noch Schildkröten von mehr oder weniger organisierten Banden getötet und ihre Nester geplündert werden.

Wir bedanken uns bei Manelik Olivera Martinez, dem Direktor des CMT für die Zeit, die er sich genommen und das ausführliche Informationsmaterial, das er uns zur Verfügung gestellt hat.

Text + Fotos: Camila Uzquiano

Tipp: Die Dorfbewohner bieten verschiedene Bootsfahrten an, um Schildkröten in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Die meisten arbeiten oder arbeiteten für das CMT und wissen bestens über die schwimmenden Riesen Bescheid. Während der vierstündigen Bootsfahrt konnten wir circa 50 Schildkröten sichten und auch berühren, wobei unser Bootsführer stets sehr vorsichtig und respektvoll im Umgang mit ihnen war.







[art_3] Spanien: Barcelona zu Fuß bebildert

Groß und mächtig beherrschte einst das Katalanische Museum die Plaza España und kein Tourist vermochte sich aus seinem Bann zu lösen und die Kamera auf dem 300 Meter langen Anstieg vom Auge zu nehmen. Seit dem Jahr 1992 aber reckt sich ein weiß getünchtes, antennenartiges Etwas halbrechts hinter dem Schlossbau empor.


Aus der Ferne betrachtet ist der vom valencianischen Architekten Calatrava konstruierte Eindringling durchaus störend, weil nicht ins Bild passend. Fast ist man versucht, dem Stararchitekten eine gewisse inflationäre Futurisierung vorzuwerfen, da hat man auch schon - der gesamte Montjuic ist zum einfachen Bestieg mit Rolltreppen gespickt - das olympische Stadion erreicht, in welches der Turm integriert ist und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Calatrava spielt mit der Landschaft, spielt mit der Anlage und mit jedem Meter, den man um den Turm herumgeht, sich ihm nähert oder wieder entfernt, ändert sich die Szenerie: von majestätisch über militärisch zu verspielt, dabei immer lebendig und irreal, als entführe die Anlage den Betrachter in eine andere Welt.


Nun ist ein weiteres architektonisches Highlight im Bau, das am Plaza España gelegen die Aufmerksamkeit des touristischen Auges auf sich ziehen wird: Die Stierkampfarena. Momentan ist das äußere Gemäuer auf ein Gerüst gestützt und das zukünftige Aussehen nur dem Informationsplakat zu entnehmen.

Hoch über dem Hafen thront die Statue des Christoph Kolumbus. Gar so, als hätte man den Visionär zum Schutzheiligen der Seebären erkoren, weist er Fähren und Yachten mit ausgestrecktem Arm den Weg. “Brecht auf zu neuen Ufern!”, scheint Kolumbus den Auslaufenden zuzurufen.


Am Fuße des Entdecker-Denkmals führt eine Brückenformation, die die wellenförmige Bewegung des Meeres nachempfindet und einige oasengleiche, aus Holz konstruierte Plateaus zur Entspannung nach dem Besuch der Innenstadt bereit hält, zur Halbinsel des Mare Magnum: Einkaufszentrum, Kino und Aquarium. Über die riesige Hafenanlage hinweg schwebt der Teleférico, die Seilbahn, die hoch auf den Montjuic führt.


Der Strand erstreckt sich über fünf Kilometer und besteht aus sechs aufeinander folgenden Buchten, die von Barceloneta bis über das Olympische Dorf hinaus reichen. Aufgeschüttet wurde er 1992, im olympischen Jahr. Den Vergleich mit den Stränden der Ferienorte der Costa Brava braucht Barcelonas Hausstrand nicht zu scheuen und so hat er das bislang schon lebenswerte Leben in Barcelona noch reizvoller gemacht.


Der einst von Fischern bewohnte Stadtteil Barceloneta, vor 100 Jahren mit dem Rückgang der Fischerei im Verfall begriffen, erhielt durch seine Strandangrenzung enormen Auftrieb und passte sich vor allem im Gastronomiebereich den neuen Menschenströmen an. Aber Barceloneta beherbergt nach wie vor eine Hand voll sensationell bodenständiger Restaurants, die die Zeit überdauert haben.


Raval ist ein Umbruch-Viertel im klassischen Sinne der Stadtplanung: In Mitten von Prostitution und Kleinkriminalität entstehen durch Abriss und Neubau (MACBA - wir bringen Licht in eine dunkle Gegend) oder Renovierung bestehender Gebäude (CCCB) zeitgenössische Kunstinstitutionen von internationaler Beachtung. Designer und In-Kneipen folgen. In Raval ist der Transformationsprozess aber noch nicht abgeschlossen und so existieren Halbwelt und Glamour nebeneinander.


Text + Fotos: Dirk Klaiber


Infos:
Kunst-Adressen mit interessanter Architektur und zeitgenössischen Ausstellungen

MacBA: Museu d´Art Contemporani de Barcelona, Museum für Zeitgenössische Kunst. Erbaut vom US-Architekten Richard Meier mitten in Raval
http://www.macba.es

CCCB: Centro de Cultura Contemporàni de Barcelona, Zentrum für Zeitgenössische Kultur. Raval, neben dem MacBA
http://www.cccb.org

Fundación Tapies: Ausstellungsraum des katalanischen Künstlers Tàpies. In den Sommermonaten machen die Kuratoren Pause und alle Jahre wieder wird den Touristenmassen Tapies selbst dargeboten. Im übrigen Jahr laufen spannende Ausstellungen.
http://www.fundaciotapies.org

Centre d'Art Santa Mònica: Ausstellungsraum in der ehemaligen Kirche Santa Maria,
Adresse: Rambla Santa Mònica 7, 08001 Barcelona, Telefon: 93/3162810, Öffnungszeiten: Mo bis Sa 10-13 Uhr und 16.30-20 Uhr, Eintritt frei (Stand November 2005)





[art_4] Brasilien: Indios Online

Der tropische Regen stürzte unnachgiebig aus dem Himmel wie ein besonders großflächiger Wasserfall und verwandelte jedes Gefälle in einen Fluss. Die grauen Wolken hingen so tief, dass man fast ihr Gewicht auf den Schultern spüren konnte. Mühsam rumpelte der Wagen über die schlammige Piste und trug einen weit gereisten Forscher geduldig seinem Ziel entgegen.



Soweit also nichts Neues. So oder ähnlich haben ethnologische Feldforschungen zu beginnen, wenn man sich an die Maßgaben der Klassiker des Genres halten möchte, und so begann auch die meine. Allerdings war in meinem Fall der Regen bald vorbei, der mühsam rumpelnde Wagen ein Taxi und die schlammige Piste höchstens fünfzig Meter lang, das letzte Stück des Weges, eine Hauseinfahrt zwischen asphaltierten Straßen in Itapuã, einem populären Strandviertel von Salvador da Bahia: Klischees, die eingelöst werden und doch wieder nicht, ein Leitmotiv, das mir während meiner Zeit im Projekt Índios Online immer wieder begegnen sollte.

Ich war auf dem Weg zu Sebastian Gerlic, Präsident der Nichtregierungsorganisation Thydêwá, der während der Monate meines Praktikums mein Vorgesetzter sein würde. Sein Haus am Ende der schlammigen Piste war gleichzeitig der offizielle Sitz der Organisation, und von hier aus sollte ich meine Arbeit beginnen. Statt Gerlic empfingen mich allerdings Indianer, zwei Männer, drei Frauen und ein Baby. Dass es sich um Indianer handelte, erkannte ich nur bei zweien von ihnen auf den ersten Blick, den beiden Männern: Ein bemaltes Gesicht verhindert da Missverständnisse. Die Frauen hätte ich von allein nicht als Indigene identifiziert: Hellhäutig, wenig typische Gesichtszüge und Kleidung wie andere Brasilianer auch. Dass richtige Indianer nicht zwangsläufig so aussehen, wie man sie sich ausmalt, hatte ich zwar im Studium zur Genüge erzählt bekommen, aber es war etwas anderes, dieses Bücherwissen durch die Realität bestätigt zu sehen.

Zwar teilte mir jeder von ihnen bei der Vorstellung nicht nur seinen Namen, sondern auch den seiner Ethnie mit, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die es mir fast merkwürdig vorkommen ließ, dass ich nur "Nico, Deutscher" sagen konnte - aber die schwierig klingenden Wörter hatte ich gleich wieder vergessen und fühlte mich nicht gerade wie ein guter Ethnologe.

Gerlic war verreist, würde aber "gleich", "bald" oder "noch heute" wiederkommen, teilte man mir mit. "Bald" traf es am Ende wohl am ehesten, denn ich verbrachte drei Tage mit den Indianern in Gerlics Haus, bis ich meinen Vorgesetzten kennen lernen durfte.


Diese Zeit reichte aus, um doch noch Namen und Herkunft meiner Gastgeber aussprechen zu lernen; es handelte sich um Indianer der Kariri-Xocó und Xucuru-Kariri aus Alagoas und der Tupinambá aus Bahia.

Am nächsten Tag malte mir einer der Kariri-Xocó mit Jenipapo-Tinte ein Symbol auf den Arm. Den indigenen Namen des Zeichners, Anánomy, konnte ich mir erst viel später merken, als ich ihn schon fast gar nicht mehr brauchte, weil wir inzwischen gute Freunde geworden waren, unter denen man sich mit  Taufnamen anzureden pflegt. "Das bedeutet Kraft", sagte er und deutete lächelnd auf die Zeichnung.

Die Nichtregierungsorganisation Thydêwá besteht offiziell seit 2003 und hat ihren Sitz in Salvador, im Bundesstaat Bahia. Der Name Thydêwá, so teilte mir der Präsident der NRO mit, heißt vielleicht "Hoffnung der Erde", in der Sprache der Pankararu-Indianer in Pernambuco. Ganz sicher sei man sich da aber nicht, so später der ausführende Direktor: Bisher hätte nur eine Person diese Auskunft gegeben, es habe sich aber immerhin um einen angehenden Pajé, einen Schamanen, gehandelt. Der Name der Organisation, soviel lässt sich mit Sicherheit sagen, ist also indigener Herkunft; ihre Leitung dagegen ist es nicht.

Im Rahmen des 2001 begonnenen Projektes Índios na Visão dos Índios (in etwa "Indianer aus indianischer Sicht") sammelte Sebastian Gerlic in sieben indianischen Reservaten des brasilianischen Nordostens in Workshops für kreatives Schreiben, Fotografie und kulturelle Identität Materialien, die dann in kleinen, aber aufwendig produzierten Broschüren als Selbstdarstellung der jeweiligen Dörfer veröffentlicht wurden. Mit jeder neuen Broschüre sollte die indianische Beteiligung und Verantwortung vergrößert werden, und der Höhepunkt dieser Entwicklung, so rechnete man sich aus, würde man mit Hilfe von Computer- und Kommunikationstechnologie erreichen. Das am Dia do Índio (19. April) 2004 begonnene, zunächst auf sechs Monate angesetzte Pilotprojekt Índios Online wurde als Verlängerung von Índios na Visão dos Índios konzipiert: Sieben indianische Gruppen wurden mit PCs, digitalen Fotokameras und einem schnellen Internetzugang via Satellit versehen. Ein zweiwöchiger Kurs in Salvador sollte je zwei Indianer aus jedem Gebiet mit den Grundlagen der elektronischen Datenverarbeitung vertraut machen; zurück zu Hause sollten diese Personen als Multiplikatoren das erworbene Wissen weiterverbreiten.

Herz des Projektes ist die Website, auf der zum einen ein Chatbereich die Kommunikation der teilnehmenden Ethnien untereinander als auch theoretisch mit dem Rest der Welt ermöglicht, zum anderen ein inhaltlicher, dokumentarischer Teil geboten wird.

Für jede teilnehmende Gruppe existiert ein einzeln aufrufbarer Bereich; für die Dörfer, deren Broschüren bereits in Print-Form vorlagen, wurden in ihren jeweiligen Bereichen zu Beginn des Projektes digitale Versionen ihrer Veröffentlichungen eingestellt.

Mit einem einfachen Interface ist es von den Dörfern aus möglich, Texte und Fotos zu Beiträgen zusammenzustellen und in die entsprechende Abteilung der Website zu übertragen. Diese Möglichkeit sollten die beteiligten Gruppen nutzen, um für ein potentiell weltweites Publikum Alltag, Probleme, Kultur und Geschichte zu dokumentieren. Außerdem sollten die Broschüren der Xucuru-Kariri und der Pataxó-Hãhãhãe, die neu im Projekt vertreten waren, auf diesem Wege entstehen: Die Absolventen des Computerkurses waren angehalten, in ihren Umgebungen Gruppen zu bilden, die sich die Materialsammlung zur Aufgabe machen und die Website allmählich mit Beiträgen füllen sollten. Aus dieser Menge von Beiträgen sollten zu einem bestimmten Zeitpunkt die besten ausgesucht werden, um dann in der Form veröffentlicht zu werden, in der es schon mit den anderen Dörfern geschehen war.

Betrachtet man die geringe Zeit, die seit der Gründung der NRO vergangen ist, und die personelle Knappheit, mit der die Organisation zu kämpfen hat, so ist die öffentliche Aufmerksamkeit, die vor allem die ineinander übergehenden Projekte Índios na Visão dos Índios und Índios Online erreichten, beeindruckend: Auf der Website Indios Online sind über 3000 Benutzer registriert. 2004 nahm Gerlic für die Thydêwá zwei mit Geldbeträgen dotierte Auszeichnungen entgegen: Einen Preis der Telemar, einer der führenden Telefongesellschaften des Landes, für das innovativste Projekt zur Förderung des landesweiten Zugangs zu Kommunikationstechnologien; und einen weiteren des Kulturministeriums, der alljährlich in Anerkennung für Leistungen um den Schutz, die Bewahrung und Verbreitung des brasilianischen Kulturerbes vergeben wird.

Als Gerlic im Rahmen seiner Werbungsreise die Arbeit der Thydêwá der UNESCO in Paris vorstellte, bescheinigte man ihm dort, dass man weltweit von keinem vergleichbaren Projekt wüsste. Und während der Präsident in Frankreich Fundraising betrieb, machte sich der Praktikant und Möchtegern-Ethnologe auf in das Dorf der Xucuru-Kariri in Alagoas, um dort, wie man ihn gebeten hatte, als technischer Helfer und "Impulsgeber" zu fungieren - ganz genau wusste der junge Mann nicht, was man von ihm erwarten würde, und er war verblüfft und eingeschüchtert von dem Vorschuss an Vertrauen und Verantwortung, mit dem man ihm begegnet war.

"Grobgemauertes kleines Häuschen, in Luft und Nase das Holzfeuer, Blick auf festgestampften Lehm, eine Handvoll Hühner und den Regenwald, vor mir eine dunkelbraune, kleine, dicke, alte Frau, Korãs Mutter, die mich herzlich zur Begrüßung drückt und mir dann lachend sagt, dass sie den Kindern verboten hat, sich dem Computer zu nähern, damit sie sich nicht den Virus holen." Tagebucheintrag vom 3. August 2004

Den ersten Tag im Dorf verbrachte ich am Computer. Zum einen, weil es nötig war, denn die Maschine konnte sich vor lauter Viren zweifelhafter Herkunft nicht mehr rühren, zum anderen, weil ich die Sprache des Gerätes besser verstand als die meiner Gastgeber - ich konnte mich ein wenig wie am heimischen Schreibtisch fühlen.

Hin und wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mir Mühe gab, so auszusehen, als kümmerte ich mich gerade um enorm wichtige Dinge, ohne wirklich irgendetwas Sinnvolles zu tun - so musste ich mich niemandem erklären und konnte eine Weile mit mir und der vertrauten Technik alleine sein, ein Stück schwierig zu pflegender Privatsphäre. Das sollte eine in Zukunft von mir des öfteren angewandte Strategie werden: Was mir bei anderen Aufenthalten in Brasilien der immer wieder einmal nötige Besuch im Einkaufszentrum war, in dem es mit einem mal kaum noch eine Rolle spielte, ob man sich in Recife oder Recklinghausen befand, sollte mir diesmal die traute Zweisamkeit mit dem Computer sein. Für die Indianer zumindest potentiell ein Fenster aus der heimatlichen kleinen in die große weite Welt, war das Gerät für mich das Gegenteil.

Der Computer stand in Ermangelung eines Gemeinschaftshauses, das sich zum Zeitpunkt meiner Ankunft im Dorf noch im Bau befand, in Korãs kleinem Häuschen, in dem ich einen Monat lang viel Zeit verbrachte, oft umgeben von einer Horde jugendlicher Indianer, mit denen ich gemeinsam die neuen Fotos begutachtete, die wir in Dorf und Umgebung gemacht hatten, oder die Texte der Interviews überflog, die uns die Ältesten gegeben hatten.

Oft allerdings auch allein. Denn das Projekt war nicht ganz so ein Selbstläufer wie geplant, und oftmals waren wesentlich mehr als technische Hilfestellung und Impulsgabe nötig, um die Dinge zum Laufen zu bringen. Die jungen Indianer waren gewiss nicht fauler als pubertierende Jugendliche anderswo auf der Welt - wenn ich es recht betrachte, waren sie nicht einmal fauler als ich, und es ist ihnen nie besonders schwer gefallen, mich zu einem entspannten Besuch beim Staubecken zu überreden, anstatt in der kleinen Hütte an der Transkription eines Interviews sitzen zu bleiben. Nur bedeutete es für mich scheinbar wesentlich mehr Prestigegewinn, gute Arbeit zu leisten, und ich wollte das einfach so in mich gesetzte Vertrauen der Thydêwá nicht enttäuschen. So bereitete es mir also einige Mühe, die Inhalte für die Website zusammenzubringen, und ich trug deutlich mehr dazu bei, als ich mir eigentlich ausgemalt hatte - ich wollte doch nur eine Hilfestellung leisten im noblen Unterfangen, die Indianer von sich selbst erzählen zu lassen. Anstatt jedoch von sich selbst zu erzählen, hatten die Indianer wesentlich mehr Freude daran, im Chat mit den Bewohnern anderer Dörfer zu flirten oder zu lernen, wie man hübsche Bildchen in Emails einbaut.

"Im Wald sagt mir Tanawy die Namen verschiedener Pflanzen und zeigt mir, wie man aus Palmenblättern eine Beißschlange flechtet. Am Computer zeige ich ihm, wie Pinball funktioniert." Tagebucheintrag vom 4. August 2004

In meinen Augen ist das Projekt jedoch keineswegs gescheitert. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass durch Indios Online die Vernetzung der teilnehmenden indigenen Gruppen untereinander und mit dem Rest zumindest der brasilianischen Welt enorm verbessert worden ist, eine Tatsache, die es ihnen erlaubt, sich wesentlich effektiver gegen Unterdrückung, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen, alles sehr reale Bestandteile des indianischen Alltags, zu organisieren und zur Wehr zur setzen. Nur sind die meisten Vorgaben von Seiten der Thydêwá zwar in der Theorie bei den Indianern auf Begeisterung gestoßen, in der Praxis jedoch nicht umgesetzt worden, oder nur wenn und solange der lokale Impulsgeber so viele Impulse gab, dass es fast an Aufdringlichkeit grenzte. Natürlich hat das kulturelle Gründe. Natürlich ist es meine Aufgabe als Ethnologe, zu sagen, dass die meisten Dinge kulturelle Gründe haben.

Tatsächlich habe ich inzwischen eine Magisterarbeit abgegeben, in der ich knapp 130 Seiten damit fülle, die Frage nach dem Warum dieses Phänomens nicht wirklich zu beantworten.

Trotzdem bleibt Indios Online ein innovatives und zukunftsträchtiges Konzept und die Ermöglichung des Zugangs zu moderner Kommunikationstechnologie für ethnische Minderheiten ein erstrebenswertes Ziel.

Und ganz davon abgesehen hatte ich eine sehr lehrreiche Zeit, in der ich zwar ein wenig an naiv-romantischem  Idealismus eingebüßt, aber dafür einige richtige Indianer als Freunde gewonnen habe. Und zwar solche, die meinen Feinden Protest-Mails und womöglich Computerviren aus dem Busch schicken können, anstatt sie einfach nur nackig mit Pfeil und Bogen zu bedrohen. Also Vorsicht.

Text + Fotos: Nico Czaja

Die Website des Projektes findet sich unter http://www.indiosonline.org.br - leider zur Zeit in einer Art Übergangsstatus von einem Designkonzept zum anderen und daher etwas unaufgeräumt. Im Chat findet sich aber meist der eine oder andere Indianer, mit dem man sich unterhalten kann, so man des Portugiesischen mächtig ist.

Die Thydêwá ist stets auf der Suche nach freiwilligen Helfern, die portugiesisch sprechen und sinnvolle Beiträge zu den verschiedenen Bereichen der von der NRO durchgeführten Projekte leisten können. Entsprechende Informationen und Kontaktdaten finden sich auf der Website.





[kol_1] Grenzfall: Mister Shoeshine

Sprechen: "Mister, Mister! Shoeshine? One sol!"
Vom Platz weg führen: "He, Mister, hier lang. Hier auf Platz Polizei, verstehen? Shoeshine verboten."

Schuhkasten von der Schulter nehmen. Hinhocken. Den rechten Fuß anstupsen und warten, bis der Fremde seinen Fuß unbeholfen auf den Kasten setzt. Schmutzige Schuhe, lange nicht mehr geputzt. Schublade herausziehen, Bürste auspacken. Schuhcreme und Lappen entnehmen und auf den Asphalt neben das parkende Auto legen. Hosenbein hochrollen, sicher ist sicher. Einen Streifen Pappe unter die Lasche schieben, damit die Socke nicht schmutzig wird.

Arm mit Zeitung heben. Sprechen: "Zeitung gefällig?" Er versteht nicht. "Du Zeitung?" Lächeln. Ablehnung entgegen nehmen. Wieder über die Arbeit beugen. Bürste heben und mit ihr kräftig über den staubigen Schuh streichen. Ist wirklich schmutzig und klebt voll toniger Erde. Einen Strich hin, roter Staub fliegt auf, einen Strich zurück. Noch einmal hin. Ergebnis kontrollieren.

Schuhe examinieren. Schuhe sind zweifarbig, rot mit einem schwarzen Streifen. Rote Schuhcremedose öffnen und Bürstenecke hineintauchen. Vorsichtig auftragen und dabei auf schwarzen Streifen achten. An der Ecke sorgsam tupfen. Auch hinten am Hacken entlangfahren. Bürste dabei von einer Hand in die andere gleiten lassen. Und wieder zurück. Und wieder hin.

Rote Dose schließen, schwarze öffnen. Mit einem Blick die Breite des schwarzen Streifens abschätzen. Sie als zu schmal für die Bürste erkennen. Finger in die schwarze Schuhcreme senken. Auf der linken Schuhseite Streifen mit dem Finger nachziehen. Sorgfältig an den Rändern des Streifens sein. Keine schwarze Schuhcreme auf das rote Leder streichen. Finger wieder in die Wichse eintauchen. Rechten Streifen einfetten.

Schublade am Kasten aufziehen. Polierbürste greifen. Schuh polieren. Schwungvoll hin und her und her und hin. Hinten über den Hacken ziehen. Von links nach rechts und wieder zurück mit der linken und der rechten Hand. Schneller jetzt. Die Bürste über das Schuhwerk gleiten lassen und es zum Glänzen bringen.

Nachfragen: "Wie?" Versuchen, das gebrochene Spanisch des Fremden zu verstehen. Wie alt ich sei? Antworten: "Elf." Ob ich viele Kunden hätte? Sprechen: "Nein." Ob ich zur Schule gehe? Kurz überlegen. Manchmal geben sie bei "Ja", manchmal bei "Nein" mehr Geld. Auf jeden Fall schon mal Mitleidsplatte auflegen und langsam warm laufen lassen. Für Schule entscheiden. Kopf wieder senken, arbeiten. Nebenbei weitere Fragen beantworten.

Mit dem Bürstenkopf einmal kurz unten auf die Sohle pochen, um den Schuhwechsel anzuzeigen. Warten bis der Mister versteht und seinen anderen Fuß auf den Kasten stellt. Hosenbein hochrollen, sicher ist sicher. Einen Streifen Pappe unter die Lasche schieben, damit die Socke nicht schmutzig wird. Bürste heben und mit ihr kräftig über den staubigen Schuh streichen. Einen Strich hin, roter Staub fliegt auf, einen Strich zurück. Wieder hin. Ergebnis kontrollieren. Rote Schuhcremedose öffnen und Bürstenecke hineintauchen. Vorsichtig auftragen und dabei auf schwarzen Streifen achten. An der Ecke sorgsam tupfen. Auch hinten am Hacken entlangfahren. Bürste dabei von einer Hand in die andere gleiten lassen. Und wieder zurück. Und wieder hin. Rote Dose schließen, schwarze öffnen. Finger in die schwarze Schuhcreme senken. Auf der linken Schuhseite Streifen mit dem Finger nachziehen. Sorgfältig an den Rändern des Streifens sein. Keine schwarze Schuhcreme auf das rote Leder streichen. Finger wieder in die Wichse eintauchen. Rechten Streifen einfetten. Polierbürste in die Hand nehmen. Schuh polieren. Schwungvoll hin und her und her und hin. Hinten über den Hacken ziehen. Von links nach rechts und wieder zurück mit der linken und der rechten Hand. Schneller jetzt. Die Bürste über das Schuhwerk gleiten und es erglänzen lassen.

Mit dem Bürstenkopf einmal kurz unten auf die Sohle pochen, um den Schuhwechsel anzuzeigen. Fragen: "Special, Mister, yes? Special sehr gut für Schuhe." Schublade aufziehen, Fläschchen mit der milchig-weißen Flüssigkeit herausziehen. Deckel abschrauben, Lappen an die Öffnung halten, Flasche umdrehen und kräftig schütteln. Mit dem Lappen die helle Lösung in das Leder reiben. Bürste ergreifen und über den Schuh ziehen. Ein paar Mal nur, um die Spezialflüssigkeit zu verteilen. Dann wieder Schublade öffnen, Schuhcremedosen verstauen, denn die werden nicht mehr gebraucht. Poliertuch herausziehen. Mit beiden Händen ergreifen. Luft holen. Über den Schuh ziehen. Am Ende der Bewegung so schnell straff ziehen, dass es leise knallt. Wieder über den Schuh ziehen. Wieder knallen lassen. Schnell das Tuch rund um den Halbstiefel führen. Keine Ecke vergessen. Das Leder zum Blitzen bringen. Pochen: Schuhwechsel.

Deckel wieder abschrauben, Lappen an die Öffnung halten, Fläschchen umdrehen und kräftig schütteln. Mit dem Lappen die helle Lösung in das Leder reiben. Bürste ergreifen und über den Schuh ziehen. Ein paar Mal nur, um die Spezialflüssigkeit zu verteilen. Poliertuch mit beiden Händen ergreifen. Luft holen. Über den Schuh ziehen. Am Ende der Bewegung so schnell straff ziehen, dass es leise knallt. Wieder über den Schuh ziehen. Wieder knallen lassen. Schnell das Tuch rund um den Halbstiefel führen. Keine Ecke vergessen. Das Leder zum Blitzen bringen. Pochen: Fertig.

Warten, bis der Fremde versteht und seinen Schuh vom Kasten nimmt. Schublade aufziehen. Fläschchen mit Extra-Lösung verstauen, Lappen und Bürsten ebenso. Schublade schließen. Aufstehen. Hand ausstrecken, auf Geldstück warten. Mehrere empfangen und als gutes Zeichen werten. Hand schließen, heranziehen und wieder öffnen. Zählen. Sich freuen, ohne es zu zeigen. Überlegen, ob mit "Aber Special, Mister, Special teuer" vielleicht noch ein bisschen mehr herauszuholen ist. Den Fremden abschätzen. Sich auf kurze Diskussion einlassen. Noch eine kleinere Münze empfangen und auf ein paar unwirsche Bemerkungen nicht achten. Sich ohne große Mühe bedanken. Schuhkasten über die Schulter hängen, Geld in der Hosentasche verstauen. Wieder zum Platz zurücklaufen.

Sprechen: "Madam, eh Madam! Shoeshine? One sol!"
Ignoriert werden, aber die Hoffnung nicht aufgeben.

Text: Nil Thraby
Foto: Dirk Klaiber







[kol_2] Amor: Machu Picchu - Hiram Binghams ewige Liebe

In den peruanischen Anden, 110 Kilometer von Cusco entfernt. Es ist der 24. Juli 1911. Der amerikanische Geschichtsprofessor und Hobbyarchäologe Hiram Bingham ist mit seiner Expedition hinauf durch das Urubamba-Tal bis hierhin vorgedrungen.



Bingham hat einen Lauf. Es ist sein Sommer. Innerhalb weniger Monate hat er auf der Suche nach der letzten Inkastadt mit seiner Expedition eine Ruine nach der anderen entdeckt. Sein hektisches Vordringen lässt seinem Team oft kaum Zeit, die Fundstellen vollständig zu dokumentieren und ihre genaue Position in die Landkarten einzutragen. So versinken einige dieser Orte nach Binghams Besuch wieder im satten Grün des Urwaldes und können erst Jahrzehnte später erneut entdeckt werden.

An diesem Tag jedoch scheint seine Suche nach der letzten Stadt der Inkas erfolgreich zu sein. 1537, fünf Jahre nach der spanischen Eroberung des peruanischen Inkareichs, gründete der gegen die Spanier aufständische Inka Manco an einem Ort namens Vilcabamba einen neuen Inkastaat. Bis 1572 sollte dieser Parallelstaat den Spaniern trotzen. Dann machte eine spanische Expedition dem Treiben ein Ende. Sie töteten den letzten Inka Tupac Amaru, fanden jedoch nie Vilcabamba. Bingham ist besessen von der Idee, diesen bisher unbekannten letzten Zufluchtsort der Inkas zu entdecken.


Und so ist er wie elektrisiert, als er am Ufer des Urubamba auf den Bauern Melchor Arteaga trifft, der ihm von Ruinen auf dem hoch über dem Tal aufragenden Cima Vieja erzählt, dem Alten Gipfel, was auf Quechua Machu Picchu heißt. Sofort lässt sich Bingham zusammen mit seinem Übersetzer von Arteaga hoch auf den Berggipfel führen. Der Rest der Expedition bleibt im Tal zurück.

Was Bingham dort oben entdeckt, fasziniert ihn dermaßen, dass er sich zeitlebens nicht mehr von seiner Meinung abbringen lassen wird, mit Machu Picchu die letzte Inkastadt entdeckt zu haben. Mehr noch, er ist sogar davon überzeugt, dass Machu Picchu gleichzeitig den Ort darstellt, an dem der erste Inka überhaupt geboren wurde. Beginn und Endpunkt des Inkaimperiums, vereinigt am magischen Ort, 2400 Meter über dem Meeresspiegel. Keine jemals von Menschenhand geschaffene Stadt kann ein solch großartiges Panorama aufweisen, einen 360° Blick über die mit dichtem Urwald bedeckten Andenhänge, die fast immer in vom Amazonaswald heraufziehende Wolken gehüllt sind.

Zwischen 1912 und 1915 legen Bingham und sein Team die Ruinen auf dem 500 x 800 Meter großen Bergsattel frei, ohne Rücksicht auf spätere Archäologengenerationen zu nehmen. Normalerweise belässt man Teile einer Fundstelle in ihrem ursprünglichen Zustand, um für zukünftige Fortschritte in der Grabungsforschung noch was vom Fund übrig zu lassen.


Doch Bingham ist nicht zu stoppen. Während zeitgleich im weit entfernten England Sir Arthur Conan Doyle seinen Roman "The Lost World" verfasst, in dem ein Forscherteam auf einem Hochplateau mitten im Amazonas eine längst untergegangen geglaubte Welt voll urzeitlicher Geschöpfe entdeckt, gräbt sich Bingham immer tiefer in seinen augenscheinlich wahr gewordenen Traum der Auffindung der "lost city of the Incas" (Unter diesem Titel veröffentlichte Bingham später sein Buch über die Entdeckung Machu Picchus).

Er findet, neben 220 Silber-, Kupfer- und Bronzeobjekten und 550 Keramiken auch 135 menschliche Skelette. 109 von ihnen sollen weiblich sein, und so wird die Legende der letzten Zufluchtsstätte der "Sonnenjungfrauen", der Liebesdienerinnen der Inkas, geboren. Noch heute erzählen die Touristenführer diese Geschichte. Dabei geht die Legende wohl auf einen Fehler von Binghams Forscherkollegen George Eaton zurück. Er bestimmte die Skelette anhand der Schädelgröße, ohne dabei zu berücksichtigen, dass sich in der Andenregion, anders als in Europa oder Nordamerika, die Schädel von Frauen und Männern kaum unterscheiden. Später durchgeführte Untersuchungen anhand der Beckenknochen ergaben, dass das Verhältnis zwischen Männern und Frauen etwa ausgeglichen war. Doch der Mythos sollte stärker sein.


Welche Funktion Machu Picchu letztlich für die Inkas hatte, kann wohl nicht endgültig geklärt werden. Wahrscheinlich diente es als zeitweiliger Inka-Sitz, wenn der Winter in der 1000 Meter höher gelegenen Hauptstadt Cusco zu kalt wurde. Sicherlich besaß die Stadt auch eine militärische Bedeutung, da man von ihr aus das Tal des Urubamba überblicken kann. So diente Machu Picchu wohl als Frühwarnposten für Cusco.

Die letzte Inkastadt, das legendäre Vilcabamba, wie Bingham glauben wollte, ist Machu Picchu jedoch niemals gewesen. Das wirkliche Vilcabamba wird erst 1964 von Gene Savoy in der Nähe von Espíritu Pampa entdeckt. Oder besser gesagt, wieder entdeckt. Denn mehr als 50 Jahre vor Savoy waren Teile der Ruinen bereits von einer anderen Expedition gesichtet worden. Deren Anführer, ein hektischer Professor namens Hiram Bingham, hatte sich jedoch kaum Zeit genommen, die Ruinen und ihre wirkliche Ausdehnung zu untersuchen, hielt sie deshalb für viel zu klein und zu unpompös und liess sie links liegen. Bingham sollte nie erfahren, wie nah er damals seinem Ziel war, die letzte Inkastadt zu finden.

Text + Fotos: Thomas Milz

Als Lektüre unbedingt zu empfehlen:
Hugh Thomson: The White Rock – An Exploration of the Inca Heartland, Weidenfeld & Nicolson, 2001
Hiram Bingham: Lost City of the Incas
Sir Arthur Conan Doyle: The Lost World, Dover Publications, 1998






[kol_3] Macht Laune: Nur zwei Stunden

Montagmorgen und ich habe mich gerade aus dem Bett gequält und an den Frühstückstisch geschleppt als mich die Frage aus dem Nichts  trifft: "Wie wäre es? Sollen wir nicht heute auf eine Insel fahren, an einen Strand, den Du noch nicht kennst und der genauso sein wird wie Du Dir einen Strand immer vorgestellt hast?" Na, was für eine Frage, denke ich noch, da trifft mich die Erkenntnis, dass ich seit zwei Wochen meine Tage in der Hauptstadt San Salvador friste. Abprubt werde ich misstrauisch: Heute noch an einen Strand, die Uhr zeigt mittlerweile 9 Uhr und normalerweise werden solche Vorschläge mit den Worten eingeleitet "…wenn wir das morgen schaffen wollen, müssen wir aber um 6 Uhr los."

Bevor ich also antworte, betrachte ich meinen Gegenüber, den Besitzer der Stimme, die mich mit einem so wunderbaren Vorschlag bedacht hat. Hmm, eigentlich der Zuverlässigste von allen, trotzdem Vorsicht ist angebracht: "Schaffen wir das denn noch, ich meine, wie weit ist es denn bis zu dieser Insel?"

Mein Misstrauen scheint unbegründet: "Dauert keine zwei Stunden bis dahin; habe den anderen schon Bescheid gegeben und den Minivan für 12 Uhr bestellt." Tja, dann…

Um 12:30 Uhr steht der Van tatsächlich vor der Tür, Chauffeur gleich mitgemietet, wunderbar. Es dauert keine 20 Minuten und die Hälfte aller Beteiligten sitzt im Wagen, die anderen müssen wir noch kurz am Hotel auflesen: vorwiegend Deutsche und so setzt sich die Reisegruppe aus sieben Landsleuten und sieben Salvis zusammen. 13:15 Uhr nehmen wir Kurs auf die Stadtgrenze, auf dem Weg erfahren die Anwesenden dann, dass es noch kurz am Supermarkt vorbei gehen wird zwecks Verpflegung. Super, scheint ja alles voll durchgeplant zu sein, ich fasse es nicht. Um 14 Uhr haben wir dann alles Notwendige besorgt und biegen keine halbe Stunde später in eine Tankstelle ein; lediglich drei Wagen vor uns, wir genehmigen uns die erste Cuba Libre und überlassen alles weitere dem Fahrer. 15 Uhr: die Massen entern erneut den Van und es kann endlich richtig losgehen. Die Stimmung ist ausgesprochen gut, wir erreichen den Stadtrand und ich frage noch einmal, wie weit es denn nun sei. "Zwei Stunden, mehr auf keinen Fall." Der Fahrer bestätigt diese Angabe. War eigentlich auch eine dämliche Frage, ist doch egal, wir haben alle Zeit der Welt.

In meinem Überschwang, die Aussicht auf einen Strand beflügelt mich, mixe ich dem Rest und mir noch einen Drink. Ich sitze direkt an der Quelle, der Kühlbox, in solchen Situationen eine wirklich gute Erfindung. Ich verliere mein Zeitgefühl, die Situation erreicht Perfektion …bis ich der ungewohnten Hektik im Fonds des Wagens gewahr werde: kein lautes Geschrei, wie man es ja schon des Öfteren miterleben durfte, nur ein unruhiges Geflüster und Herumhantieren mit den Handys; dann etwas lauter die Frage nach der Telefonnummer eines Onkels. Skepsis schleicht sich in mein Hirn. Ich frage, was denn los sei, bekomme aber keine Antwort, den Rest der Gruppe scheint noch nichts aufgefallen zu sein. Ich denke mir, versuchen wir es halt auf dem indirekten Weg. Ich stelle meine Standardfrage: "Wie weit ist es denn noch?", erhalte die Standardantwort, denke mir noch, sind doch schon eine Weile unterwegs, schaue auf die Uhr, stelle fest 16 Uhr und harre des Geistesblitzes, der mich innerhalb der nächsten 20 Sekunden treffen wird. Strand, Insel, Boote, das ist es! "Wann fahren denn die letzten Boote auf die Insel?" Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: 17 Uhr wegen der Flut. Aha! Da ist sie wieder die Situation, in der der Gringo nicht weiss, ob man ihn wissentlich auf den Arm genommen hat. 17 Uhr, also noch eine Stunde und die Wahrscheinlichkeit, dass es weniger als zwei Stunden bis zum Ziel sind, ist gering. Und so kommt es dann auch: pünktlich um 18 Uhr erreichen wir das Strandhaus des Onkels. Die Dunkelheit ist bereist über uns herein gebrochen.

Zwar wundern sich immer noch Einige, dass wir sozusagen mitten in der Nacht auf eine Insel übersetzen sollen, aber eine wirkliche Diskussion wird im Keim erstickt durch die Ansage, ein jeder möge sich doch nun einen Schlafplatz suchen.

Soweit, so gut, was solls, solange mir keiner mit den obligatorischen zwei Stunden kommt, ist alles ok.

Am nächsten Morgen, nach einer sozusagen viel zu kurzen Nacht, erwache ich mit dem Blick auf die Insel, auf der ich mich eigentlich befinden sollte. Keine Stunde später überrascht mich die Frage, ob ich denn Lust hätte, heute auf eben jene überzusetzen. Ja, weswegen bin ich denn hier, denke ich, antworte aber klar und deutlich, dass ich das sehr schön fände und frage noch, wann es denn los gehe. Wieder so eine Situation, mit der der Angesprochene, nichts anfangen kann. Wortlos wendet er sich von mir ab.

Ich bleibe in meiner Hängematte und entspanne gerade so richtig als unser salvadorianischer Bootsführer aufkreuzt und uns mitteilt, dass alles zur Abfahrt bereit wäre. Jaja, das kenne ich schon! Erst nachdem der Latinoanteil unserer Gruppe alles Notwendige unter dem Arm balancierend auf den Strand zusteuert, raffe ich mich auf und folge dem Haufen. Es sind lediglich 50 Meter bis zur Anlegestelle. Die Sonne brennt und ich sehe unseren Kapitän mit seinen Kollegen die Netzte aufrollen. Mich irritiert in diesem Augenblick nicht, dass wir ungefähr 20 Minuten in der sengenden Hitze warten werden müssen, sondern dass meine mich begleitenden Einheimischen auf die Ansage Listo! ebenso reingefallen sind wie ich. Ich verstehe das ganze System nicht mehr, was soll ich denn noch tun, wie soll ich mich denn verhalten, sobald jemand zu mir sagt, es ginge jetzt los: sich an den Aktionen und Reaktionen der einheimischen Bevölkerung orientieren, funktioniert anscheinend nur mit mäßigem Erfolg. Als es dann losgeht, verkneife ich mir die Frage, wie lange es denn voraussichtlich dauern wird. Es ist ja nicht so, als wäre man nicht lernfähig.

Als wir abends dann zurück in San Salvador beim Essen zusammen sitzen, werfe ich in einer kurzen Gesprächspause ein, warum man hier denn auf die Frage, wie lange es wohl dauert, immer die Antwort "zwei Stunden" erhält. Erstaunte Blicke allenthalben. Das wäre doch wohl offensichtlich. El Salvador wäre ein so kleines Land, dass man, egal wohin, immer nur zwei Stunden brauche. Danke für das!

Text + Fotos: Sönke Schönauer






[kol_4] Erlesen: Pro und Contra Bolivarische Republik

Die Bemerkung des US-Fernsehpredigers Pat Robertson, man solle mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez "Schluss machen" (im Sinne von exekutieren), rief zwar in den USA offiziell Empörung hervor, entspricht aber durchaus dem Wunsch der Administration Bush. Schon lange ist der links-populistische Präsident den USA ein Dorn im Auge. Nicht nur wegen seiner Freundschaft zu Fidel Castro, sondern auch, weil die USA rund 15 Prozent ihres Ölbedarfs aus Venezuela decken. Der Band "Venezuela. Die Bolivarische Republik" bringt Licht in die Hintergründe des Abstiegs der einstigen lateinamerikanischen Vorzeigedemokratie Venezuela und des Aufstiegs von Hugo Chávez. Warum versinkt ein Land, das große Ölvorräte und andere Naturschätze besitzt, in bürgerkriegsähnlichen Zuständen und verbreiteter Armut? Die Beiträge von Mitherausgeber Andreas Boekh sowie von Friedrich Welsch und Nikolaus Werz beleuchten die historische Dimension der aktuellen Lage und kommen zu folgendem Ergebnis: Das Öl war letztendlich kein Segen für das Land, weil die Eliten den Reichtum nicht in den Aufbau des Landes steckten, sondern in die eigenen Taschen und in den Aufbau von Institutionen, um verdienten Parteigängern Posten überlassen zu können.

Rafael Sevilla/ Andreas Boekh (Hrsg.)
Venezuela. Die Bolivarische Republik
Horlemann Verlag, Bad Honnef 2005, 348 S., 19,90 Euro

Die Korruption und der Unwille der Elite, ihr eigenes Land zu entwickeln, führten letztendlich zum Zusammenbruch der seit 1958 relativ stabilen Demokratie und zur Diskreditierung der beiden Volksparteien. Diese Lücke füllte Hugo Chávez. Sein Gedankengut wird von einer Mischung aus Bolívars Unabhängigkeitsidealen, Enrique Zamoras Kriegserklärung an die Eliten und Norberto Ceresoles Thesen einer postdemokratischen Zukunft Lateinamerikas beherrscht, angereichert mit links-populistischen Elementen vieler weiterer Vordenker. Ein Marxist jedoch ist er nicht, stellen Boeckh und Graf in ihrem sehr erhellenden Annäherungsversuch an das ideologische Konstrukt des venezolanischen Präsidenten fest.

Leider hält er am rentengestützten Entwicklungsmodell fest und entzieht sich in vielen Fragen einer Kontrolle durch andere politische Institutionen, so dass die Opposition sowie in- und ausländische Medien genügend Ansatzpunkte für scharfe Kritik finden. Sein Anti-Parteienkurs ist zwar vor dem Hintergrund der Dekadenz der alten Parteien verständlich, bietet (mittelfristig) aber keinen Ersatz für demokratische Strukturen. Das kritisiert auch Teodoro Petkoff, der als gemäßigter Gegner von Hugo Chávez gilt. Dessen Umgang mit den Medien, aber auch deren Umgang mit dem Präsidenten beschreibt er detailliert und nachvollziehbar, vor allem, wenn es darum geht, die Entstehung eines Konfliktes nachzuzeichnen, der durch die Denk- und Handlungsweisen eines Ex-Militärs (Konfrontation statt Kompromiss) und Revolutionärs ("wer nicht für mich ist, ist ein Konterrevolutionär") polarisiert und verschärft wurde. Die Erfolge der Regierung Chávez’ vor allem im Erziehungs- und Sozialwesen sowie die Strategien zum Sturz Chávez’ beschreibt Luis Britto García, ein Anhänger der Bolivarischen Republik. Seinen Zahlen - also den offiziellen - traut man allerdings nicht so recht, vor allem, weil Boeckh abweichende Werte aus anderen Quellen zitiert. Unbestritten ist Chávez Verdienst um die Partizipation der indigenen Völker am politischen Prozess, Thema eines Artikels im Abschnitt "Rechtskultur", in dem weitere Beiträge die neue Verfassung und ihre Folgen analysieren. "Die Opposition hat kein eigenes Projekt außer dem eisernen Willen, zurück an die Macht [...] zu kommen", fasst Peter B. Schumann seine Erfahrungen in Venezuela zusammen und bestärkt mich in meiner Meinung, dass die Eliten Lateinamerikas nicht reformfähig sind und deswegen allesamt aus der politischen Verantwortung entlassen werden müssen. Seinen Artikel sollten sich in puncto Ausgewogenheit die deutschen Medien - konservative wie linke - zu Herzen nehmen.

Im Abschnitt zur Wirtschaft des Landes geht es naturgemäß um das Erdöl, aber auch um die Entwicklungspotentiale im Tourismussektor. Der Beitrag "Zur Geschichte der Musik in Venezuela" steht als Kulturbeitrag - wie so häufig in dieser Reihe - sehr einsam da. Er beschäftigt sich außerdem fast ausschließlich mit der Geschichte der Kunstmusik: Obwohl der Autor anmerkt, dass die folkloristische Musik des Landes sehr reich ist, schreibt er fast nichts darüber und lässt alle neueren Entwicklungen in der Kunst- und Popularmusik ganz weg. Das Buch endet mit einem für uns Deutsche aufschlussreichen und humorvollen venezolanischen Blick auf unser Land.

Diese Anthologie ist eine notwendige Publikation, die nicht dem in der deutschen Presse üblichen, meistens auf Halbwissen basierenden Anti-Chávez-Kurs folgt, aber auch nicht der blinden Verehrung linker Träumer und Medien, die in Venezuela eine verbesserte kubanische Revolution verwirklicht sehen.

Text: Torsten Eßer
Foto: amazon.de






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