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[art_1] Brasilien: Aus dem Verkehr gezogen
São Paulos Straßenkinder zwischen Neoliberalismus und Zukunftslosigkeit

Sobald die Ampel auf Rot springt, flitzt Mateus von Auto zu Auto. In der einen Hand eine Flasche Spülmittel gemixt mit Wasser, in der anderen einen Gummiwischer. Für einen Real, etwa 30 Eurocent, säubert er geschwind rundum alle Scheiben. Am Tag kommt er damit auf 20 Real, etwa 7 Euros. Seit eineinhalb Jahren lebt der 17-jährige unter Plastikfolien und etwas Pappe auf dem Grünstreifen inmitten einer viel befahrenen Straße in São Paulos Mittelklasseviertel Pinheiros.

Von Zuhause ist er abgehauen, und zurück will er nicht. "Zu viel Durcheinander und keine Perspektive" erwarten in dort. In einem städtischen Kinderheim war er auch schon. "Und da sah es genauso aus." Mateus ist einer von 3000 Minderjährigen, so schätzt die Stadtverwaltung, die an den Straßenkreuzungen des Zentrums der 20 Millionen Metropole ihren Lebensunterhalt mit Scheibenputzen, Jonglieren oder dem Verkauf von Bonbons und Kaugummi verdienen.

Mit einer breit angelegten Aufklärungskampagne namens "Gib mehr als nur Almosen, biete Zukunft" versucht die dieses Jahr ins Amt gewählte konservative Stadtverwaltung, dem Almosengeschäft ein Ende zu setzen und die Kinder von der Straße zurück in ihre Familien zu bringen.

Für Kritiker wie Padre Júlio Lancelotti, São Paulos lautstarkem Fürsprecher der Obdachlosen, ist die Kampagne jedoch "der Versuch, das Zentrum von ungewollten Subjekten zu säubern, eher eine politische Aktion als ein Sozialprogramm." Und für Márcio Pochmann, ehemals Sekretär für Arbeit unter der Ende letzten Jahres abgewählten linken Stadtregierung, ist das Programm "Teil einer neoliberalen Politik, die an Brasiliens gute alte Tradition des Versteckens der Probleme ansetzt, ohne Lösungen anzubieten." "Die Stadtverwaltung meine", so Pochmann, "ohne Bürger, die Almosen geben, gäbe es das Problem erst gar nicht. Da wackelt der Schwanz doch mit dem Hund."

"Laut Gesetz sind wir verpflichtet, gegen Kinderarbeit vorzugehen", verteidigt eine Mitarbeiterin des Sozialsekretariats die Kampagne. "Kinder und Jugendliche gehören in die Schule und die Familie, und nicht auf die Straße." Die Familien, die ihre verlorenen Kinder wieder aufnehmen und dafür sorgen, dass sie zur Schule gehen, haben offiziell Anspruch auf Unterstützung. Man verspricht ihnen zumindest, "sie bei der Bewilligung von Unterstützung zu bevorzugen".

"Nicht die Autofahrer sollten aufhören, Almosen zu geben, sondern die Stadtverwaltung", kritisiert Padre Lancelotti. "Wenn Kinder von Almosen leben müssen, ist das ein Zeichen fehlender Sozialpolitik. Wir brauchen Programme, die sie für den Arbeitsmarkt vorbereiten, anstatt sie auf ewig von den Almosen des Staates abhängig zu machen." Pochmann stimmt ihm zu. "Es fehlen begleitende Maßnahmen, um diesen Familien eine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten. Im Jahr 2000 wurden in São Paulo 350.000 Familien ohne jedwede Einkommensquelle gezählt. Sie sind 24 Stunden am Tag mit dem Überleben beschäftigt und haben keine Zeit, ihren Karriereplan auszuarbeiten, so wie sich das die Stadtverwaltung vorstellt."

"Die meisten Kinder und Jugendlichen, die hier an der Kreuzung arbeiten, gehen tagsüber in die Schule und abends verdienen sie den Unterhalt für sich oder die Familie", berichtet Mateus. "Sie sind hier, weil sie das Geld zum Überleben brauchen. Gezwungen werden sie nur von der Not, von niemandem sonst."

Das sieht die Stadtverwaltung anders. "Es gibt viele Fälle in Pinheiros und anderen Stadtteilen, in denen die Kinder zum Arbeiten gezwungen werden. Eltern oder Verwandte bringen sie aus den Randgebieten der Stadt oder sogar aus anderen Städten zum Arbeiten ins Zentrum. Und das ist ein Fall für die Polizei", so die Mitarbeiterin des Sozialsekretariats.

Da stimmt José Pereira Lopes Neto, Polizeichef des Stadtteils Pinheiros, im Prinzip zu. "Wenn die Kinder zum Arbeiten gezwungen werden, sind wir zuständig." Nur, "in der letzten Zeit gab es keinen solchen Fall. Das letzte Mal, dass wir einschreiten mussten, liegt lange zurück", berichtet er. "Die Stadtverwaltung versucht, unliebsame Personen in die Außenbezirke abzudrängen. Doch genau dort hat man in den letzten Monaten massiv die Mittel gekürzt, so dass heute mehr Menschen aus den Randbezirken ins Zentrum kommen, um dort ums Überleben zu kämpfen", sagt Pochmann.

Miguel ist so ein Fall. Aus dem zerrütteten Zuhause am Stadtrand - ein Bruder im Gefängnis, der Vater zu Verwandten abgehauen - ist der 10-jährige weggelaufen und hat sich ins Zentrum aufgemacht. "Daheim war es langweilig und es gab noch nicht mal Spielzeug." Auf São Paulos Finanzmeile, der Avenida Paulista, hat er Bonbons verkauft und nachts in einer Favela geschlafen, "bei den Jungs, die mit Drogen handeln." "Geklaut hat er auch", sagt Fernanda Bortalini, die ihn jetzt im Padre Batista Heim aufgenommen hat. "Für Kinder wie Miguel bedeutet die Straße Freiheit. Und das Zentrum bietet für sie die besten Chancen zum Überleben. So stellen sie sich das wenigstens in ihrer kindlichen Phantasie vor", sagt Fernanda. So sind es in der Regel eher die desillusionierten, älteren Jugendlichen, die nach jahrelangem Überlebenskampf auf den Straßen des Zentrums die rettende Aufnahme in ein Heim suchen.

Das Padre Batista Übergangsheim betreut normalerweise 25 Kinder und Jugendliche. Zurzeit sind es 30. Von Juni bis September zahlt die Stadtverwaltung fünf Extraplätze. "Kaltfront-Programm" heißt das offiziell, Unterschlupf für die Wintermonate, wenn die nächtlichen Temperaturen bis nahe an den Gefrierpunkt absinken können. Maximal sechs Monate können die Kinder im Übergangsheim bleiben. Dann sollen sie eigentlich zurück in ihre Familien. Doch meist werden sie in ein Langzeitheim weitergereicht. Oder gehen zurück auf die Straße. "Entweder wollen die Familien sie nicht wieder aufnehmen oder haben ihnen keinerlei Perspektive oder Rückhalt zu bieten", erklärt Fernanda.

Miguel will auf keinen Fall zurück in seine gespaltene Familie am Rand der großen Stadt. "Ich will in die Schule gehen, dann studieren und Zahnarzt werden", so seine langfristigen Pläne. Kurzfristig ist ihm jedoch eher nach Bonbons und Videospielen zumute. Als Fernanda beides ablehnt, läuft er auf die Straße hinaus. "Dann geh ich eben!", sagt er grinsend. Fernanda verschränkt die Arme und atmet tief durch. "Gegen seinen Willen können wir ihn nicht hier halten. Schließlich ist er freiwillig gekommen."

"Ich weiß, er will mich nur erpressen und kommt gleich wieder zurück", sagt sie bemüht. In ihrem starren Blick jedoch liegt wenig Optimismus.

Text + Fotos: Thomas Milz