caiman.de 11/2008

[kol_3] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen
Das Buch "O Brasil dos correspondentes"

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das soeben erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

Textauszug (übersetzt aus dem Portugiesischen) von Thomas Milz:
Tragödienabend in der Casa de Portugal - José Dirceu verabschiedet sich

Viel wurde bereits geschrieben über die Wesensverwandtschaft zwischen der Politik und dem Theater. Angefangen damit, dass beide weitestgehend von Steuergeldern leben. Und beide abhängig sind vom Erfolg beim Publikum. Wobei nur die Politik über die Möglichkeit verfügt, sich nach der Aufführung an jenem Teil des Publikums zu rächen, bei dem die Aufführung durchgefallen ist.

Die Politik muss zwangsläufig etwas Theater beigemischt bekommen; doch inwieweit das Publikum (und damit ja auch wir Journalisten, ob wir es wollen oder nicht) davon überzeugt werden kann, dass das Dargebotene nicht etwa nur reine Fiktion sei, sondern die pure Wahrheit, hängt natürlich erst einmal von den schauspielerischen Fähigkeiten des Bühnenpersonals ab. Vielleicht ist der Wunsch nach reiner Wahrheit ja auch nur eine der unerreichbaren Ideen aus der platonischen Höhlenwelt, die die Menschen im Laufe ihres Erdendaseins immer wieder heimsuchen. Die romantisch verklärten Leser werden sicherlich verstehen, was ich meine.

Gemeinsam mit weiteren 1,500 Zuschauern wurde ich am 17. Juni 2005 Zeuge des "Ato em defesa do PT e da democracia", Teil eines bis heute nicht wirklich in all seiner Größe und Bedeutung erfassten Opus namens "José Dirceu, Roberto Jefferson und der Mensalão"; wobei es schwierig fällt zu sagen, ob es sich um eine reine Tragödie oder eine Komödie handelt. Es hat wohl von beidem etwas.

Die Einleitung, die die schlauen griechischen Meister auch Protasis nannten, hatte ein gewisser Roberto Jefferson ganz alleine in Form zweier Interviews in der "Folha de S. Paulo" hingelegt, in denen er ein vermeintliches Korruptionsschema im Congresso Nacional offen legte. Brasilianische Journalistenkollegen sprechen gerne davon, dass dies ja nichts Neues sei sondern stets gängige Praxis. Nur dass dieses Mal die PT ins Kreuzfeuer gelangt war, die früher solch praktizierte Realpolitik als unmoralisch gebrandmarkt hatte. Beim politischen Gegner, versteht sich.

Ob wirklich neu oder nicht, der "Mensalão" war geboren. Wenige Tage später legte der mit unglaublichem komödiantischem Talent ausgestattete Roberto Jefferson dann vor dem Ethikrat der Câmara dos Deputados einen spektakulären zweiten Auftritt hin, in dem er José Dirceu als den Mentor des "Mensalão" öffentlich anklagte.

Politik fast schon als Real-Life-Doku-Soap, und manchmal als auch Realsatire - fasziniert saß man in diesen Monaten vor dem Fernseher und verfolgte auf Globo News die Auftritte von Anklägern, Angeklagten und Zeugen vor dem schier unaufhörlich tagenden CPI-Untersuchungsausschuss. Geduldig hörte man sich Heloisa Helenas als Fragen getarnte Monologe an, lauschte gebannt Roberto Jeffersons Gesangskünsten und fragte sich, woher er plötzlich ein blaues Auge habe.

Am Donnerstag, den 16. Juni 2005, trat Dirceu schließlich wohl unter dem Druck der Anschuldigungen Jeffersons von seinem Amt als Chefe da Casa Civil zurück. "Eu não me vergonho de nada que fiz no governo do presidente Lula. Tenho as mãos limpas, o coração sem amargura, e tenho a mente sempre colocada naquele pelo sempre lutei: pelo Brasil. - Ich schäme mich für nichts, was ich in der Regierung Lula gemacht habe. Meine Hände sind sauber, mein Herz frei von Bitterkeit und mein Geist auf das gerichtet, für das ich stets gekämpft habe: für Brasilien." Mit diesen dramatischen Worten nahm er standesgemäß Abschied und begab sich geschwind mit dem Tross des Campo Majoritário der PT nach São Paulo.

Dort sollte am Freitag eine vorbereitende Sitzung des Campo Majoritário zur samstäglichen Sitzung des Diretório Nacional abgehalten werden, in der die angeschlagene PT ihre weitere Strategie beraten wollte. An jenem Freitagmittag erreichte eine Email die Medien, in der der abendliche Solidaritätsakt mit dem gefallenen Helden José Dirceu in der Casa de Portugal im Stadtteil Liberdade in São Paulo für 19 Uhr angekündigt wurde.

Dem Besucher der Veranstaltung offenbarte sich erst einmal die innere Zerrissenheit der PT. Vor dem Eingang verteilten Vertreter des linken militanten Flügels Flugblätter, auf denen sie gegen die ihrer Ansicht nach neo-liberale Wirtschaftspolitik von Präsident Lula und Wirtschaftminister Antônio Palocci protestierten. In der Halle selber war die Stimmung voller Trotz angesichts eines als ungerecht empfundenen Schicksals.

Kampflos wollte man den Absturz des großen Helden Dirceu jedenfalls nicht hinnehmen. "José Dirceu é meu amigo. Mexer come le, mexer comigo! - José Dirceu ist mein Freund. Wer sich mit ihm anlegt, legt sich auch mit mir an!" skandierte die Menge vor Beginn der Veranstaltung ganz in der griechisch-antiken Tradition des einleitenden Chorgesangs, wie ihn schon Aristoteles für die Tragödie zwingend vorgeschrieben hatte.

Nur wenige Vertreter der internationalen Presse hatten den Weg in die Casa de Portugal gefunden. Mich selbst trieb lediglich die Neugier; denn in Deutschland hielt sich (im Gegensatz zur lateinamerikanischen und der luso-hispanischen Presse) das Interesse am Schicksal José Dirceus in bescheidenen Grenzen. "Hat Lula was gewusst?" war stets die Frage aus Deutschland zu den neusten Meldungen über den Mensalão-Skandal, und solange man dies nicht wirklich beantworten konnte, war Dirceus Rücktritt kein großes Thema.

Korruption in lateinamerikanischen Ländern löste in Deutschland schon lange keine News-Reflexe mehr aus. Wenn Lula jedoch selber hineingezogen werden würde, wäre dies anders.

Schließlich galt er in Europa als Instanz und Hoffnungsträger für eine lang erwartete moralische und soziale Umkehr in Brasilien. Und während man hier in Brasilien oft das unterschwellige Gefühl hat, dass die Brasilianer die scheinbar rein dekorative Funktion solch hehrer Ansprüche durchschauen und insgeheim auch als für den politischen Schlagabtausch notwendig akzeptieren, gibt man in Deutschland gerne mal einen Vertrauensvorschuss.

Zurück in der Casa de Portugal, wo bereits die Bühne bereitet war. Zwei lange Stuhlreihen, links davon das Rednerpult, dahinter eine tiefrote Rückwand mit dem Slogan der Veranstaltung in weißer Schrift.

Der Chorgesang wechselte derweil in den Wahlsong des Jahres 2002 - "É só você querer, amanha assim será, agora é Lula - Ihr müsst es nur wollen, dann wird es morgen Wirklichkeit werden, jetzt ist Lula dran.". Eine Zeitreise in die verheißungsvolle Zeit vor der Machtübernahme.

Vielleicht ist es ja ein Grunddilemma linker Politik, dass sie besser in der Opposition funktioniert als in der Regierungsverantwortung. Kaum an der Macht, sehnt man sich nach den guten alten Zeiten der Oppositionsbank zurück, wohin ein Teil der Partei in der Regel dann auch freiwillig zurückkehrt. Die deutsche Politik ist da ein Paradebeispiel.

Und diejenigen, die trotzdem an den Schalthebeln der Macht bleiben, rechtfertigen die Diskrepanz zwischen den eigenen ideologischen Ansprüchen und den realpolitischen Zwängen mit dem üblen Treiben der rechten Opposition. "Wir sind halt gezwungen, das korrupte Bürgertum mit seinen eigenen Mitteln zu besiegen", hört man oft. Man vollzieht ein Spagat zwischen Regierungsverantwortung und gleichzeitiger geistiger Opposition gegen das eigene Handeln. Man sei zwar jetzt an der Macht, aber nur um zu erkennen, wie ohnmächtig diese eigentlich angesichts eines tatsächlich das Land regierenden ominösen Systems ist.

Andere wiederum schweigen oder wissen von nichts. So fehlte Lula an diesem Abend. Auffällig zurück hielt sich der Präsident in jenen turbulenten Tagen, in denen er versuchte, sein positives Image von dem der ins Straucheln geratenen PT abzukoppeln. Letztlich seine einzige wirkliche Option, und erfolgreich obendrein, wie seine Wiederwahl Ende 2006 belegte. Auch wenn bei vielen seit jenen Tagen Mitte 2005 ein schaler Beigeschmack zurückgeblieben ist; vielleicht das Gefühl des Verlustes der paradiesischen Unschuld.

Parteichef José Genuino, der wenige Wochen später selbst über dubiose Dollars in einer Unterhose stolpern sollte, führte kämpferisch durch den Abend, wand sich durch seine aufpeitschende Rede um die rechte Verschwörung und die völlige Unschuld Dirceus und aller anderen in den Verdacht geschupster Parteimitglieder.

Phobos muss von der Bühne aus das Publikum ergreifen, forderte schon Aristoteles; der Schrecken, dass das Schicksal des tragischen Helden nur ein Vorbote für das eigene heraufziehende Geschick sei. Dem folgte Genuino, indem er vor dem großen Putsch der bürgerlichen Eliten warnte - erst Dirceu, dann Lula, und irgendwann sind alle linken Kräfte dran.

Unter tobendem Applaus betrat José Dirceu schließlich in eine dunkle Lederjacke gekleidet die Bühne, die Faust in den Himmel gereckt. Als er dann später ans Rednerpult trat, leuchtete sein weißes Hemd inmitten der abgedunkelten Halle.

In atemloser Stille lauschte die Menge seinem Diskurs, der in weiten Teilen seiner offiziellen Abschiedsrede vom Vorabend in Brasília glich. Er verlasse den Planalto, die Hochebene Brasílias, um in der Planície, der Tiefebene, der weiten Steppe weiterzukämpfen. Er wirkte wie der Ritter auf dem weißen Pferd, zu dessen Füßen sich alle mit großen Augen versammeln um gebannt seinen großen Abschiedsworten zu lauschen. Eleos! Fordert Aristoteles; das Mitleid des Zuschauers mit dem Schicksal des gefallenen Helden!

Das Ziel des mythischen Aktes der Tragödie, so Aristoteles, müsse die Katharsis sein, die Reinigung der Leidenschaften im Zuschauer. Der Held darf und muss ja schließlich sterben, aber es soll ein großer Tod sein, der Gegner ein übermächtiger, gegen den man sich verzweifelt stemmt, nur um ihm dann schließlich doch zu unterlegen. Überrollt von großen Schicksalsrad, das einen erst in die Höhe und dann in die unvermeidliche Tiefe mitriss.

Die Zuschauer wollen eigentlich kein Happy-End, zumindest nicht im Theater; denn es lehrt uns nichts über die Tragik des Lebens.

Und auch wir Journalisten suchen stets die große Tragik in und hinter den Geschichten, auch wenn wir gleichzeitig das Postulat der Objektivität hochhalten. Noch so ein hehres Ideal aus Platons Ideenwelt, an dem man oft verzweifeln möchte.

Der "Mensalão" steht derweil immer noch auf dem Spielplan. Aber er ist nicht mehr der große Zuschauermagnet vergangener Tage. Wäre er eine Fernsehserie, hätten die Programmdirektoren ihn wohl schon längst abgesetzt. Wie das Stück wohl enden wird? Und wird man die damals hoch und heilig versprochenen Lehren und Konsequenzen ziehen? Mich beschleicht das Gefühl, dass sich nicht viel ändern wird. Aber auch das war wohl nicht anders zu erwarten, hatte doch schon Goethe einst über die Tragödie geschrieben, dass nach der Vorstellung "der Zuschauer um nichts gebessert nach Hause geht".

Text + Fotos: Thomas Milz

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