caiman.de 11/2007

[kol_3] Grenzfall: Was macht mich zum Aussteiger?

Horstli Opotschtli und Ben Cartwright liebten sich so sehr, dass sich die Welt erwärmte. Dies hatte zur Folge, dass die Gletscher an Nord- und Südpol auf Teufel komm raus kalbten und die karibische mit der nordamerikanischen Erdplatte im Kaimangraben, zwischen Kuba und Florida gelegen, für einen Bruchteil einer Sekunde kollidierte. Ein Beben weckte die großen Antillen, die unbeeindruckt einen weiteren sonnigen Tag begrüßten. Und fast wäre die Erschütterung für immer in Vergessenheit geraten, hätte sie nicht dem Aussteiger Kommissar Shakiro das Leben gerettet.

Das ist nicht gut: Je mehr Gedanken ich mir zum Thema Aussteiger mache, desto trauriger werde ich. Immer mehr wird mir bewusst, ich bin kein Aussteiger. Ich hab nicht einmal ein Aussteigerherz - eine Seele ja, vielleicht - immerhin eine Seele. Ein Himmelreich für meine Aussteigerseele. Welch Trübsal als mir der Satz in den Sinn kommt: Du funktionierst in der Gesellschaft, zwar am Rande, aber du funktionierst. Es ist neun Uhr früh und ich bin nahe daran, mich in die dunkelste Ecke des Raumes zu verkriechen. Denn gerade eben habe ich kapiert: Ich funktioniere in der Gesellschaft und hasse mich dafür.

Aussteigertypen
Die ersten Aussteiger, mit denen ich in Kontakt kam, waren Lehrer - deutsche Lehrer, die für einen Zeitraum von zwei bis sechs Jahren an einer deutschen Schule im Ausland unterrichteten. Eventuell trifft der Begriff Aussteiger nicht zu 100 Prozent zu, da dem verbeamteten Lehrer neben dem festgesetzten Zeitraum auch ein Job nach seiner Rückkehr in die Heimat garantiert wird.

Heute, im Gegensatz zu gestern, spielt die finanzielle Entlohnung für den Mut des Aufbruchs keine Rolle mehr. Unterscheidet man grob drei Typen, so ist Typ 1 bestrebt die Sprache zu erlernen, das Land zu bereisen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Typ 2 träumt von Blümchenkaffee und Spitzendecke, konzipiert auch nach 6 Jahren noch seine komplette Kommunikation mit Inländern um die Infinitive limpiar (putzen), comer (essen), comprar (kaufen) und eine Hand voll Substantive und meidet Innenstädte - Shoppingmalls im US-Stil werden zur täglichen Offenbarung. Typ 3 ist dann wohl wirklich ein Aussteiger. Er bewirbt sich direkt bei den Schulen im Ausland, kassiert ein ortsübliches Gehalt und hat keinerlei Sicherheiten seitens des deutschen Staats, falls er wieder zurückkehrt.

Viele Kleinverbrecher-Aussteiger tummeln sich in der Welt da draußen. Es ist unglaublich, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass man in Deutschland bei Fahnenflucht als Krimineller galt und eine Rückkehr, Gefängnis bedeutet hätte. Da heute längst nicht mehr jeder eingezogen wird, ist Ausstieg statt Absitzen nicht mehr ganz so populär.

Hut ab vor Selbsttherapie-Aussteigern, die mit der Situation des Funktionierens in unserer Welt einfach nicht zu Recht kommen und nach einer Zeit des Experimentierens mit Sinne erweiternden Hilfsmitteln erfolgreich das Weite suchen. Erfolgreich ist hier gleichzusetzen mit glücklich ohne, dass die Droge den Lebensrhythmus dominiert. Es sollte uns, die wir im alten System verhaftetet sind, aber nicht verfänglich erscheinen, wenn sich Aussteiger entschließen, im Hier und Jetzt zu leben, auch wenn man in Deutschland als hochgradig asozial gilt, sobald man das scheinheilige Christentum fehl interpretiert und sich nicht um den morgigen Tag kümmert.

Die sozial motivierten Aussteiger bekommen in den seltensten Fällen viel Geld für ihre Dienste. Selbst wenn sie mit Hilfsorganisationen in die Welt gehen, geben sie viele "Sicherheiten", wie garantierter Wiedereinstieg in den Arbeitstalltag, auf. Ihre Einsatzorte sind oftmals fern von Ballungszentren, so dass die Bereitschaft zur Integration Vorraussetzung ist.

Viele Projekte, die gerade mit jungen Aussteigern arbeiten, verfügen sowieso über keinerlei Gelder und funktionieren durch Volontäre.

Die Klassiker
Liebes-Aussteiger haben sich im Urlaub verguckt und blieben.

Der Millionär-Aussteiger hatte finanziellen Erfolg in der Alten Welt und erfüllt sich und seiner Fernsucht den lang ersehnten Traum. Er baut ein Gästehaus oder Restaurant in der Karibik, fernab des Trubels. Angenehme Gäste, die den Wert des Geschaffenen zu würdigen wissen, sind herzlich willkommen.

Vom Tellerwäscher zum goldigen Aussteiger: Erfolgsgeschichten, auf die das deutsche Unterschichten-Fernsehen momentan so sehr abfährt, gibt es. Spontan fallen mir vier Stück ein. Hier zwei zur Veranschaulichung: Immer wieder muss ich schmunzeln, wenn ich mir den groß gewachsenen, weißen Mann mit den  blonden Haaren vorstelle, wie er als Busbegleiter auf dem Trittbrett einer zerdellten, auspuffzerlöcherten Rostlaube mitfährt und wild die Arme schwenkend und die Endstation brüllend in den abgelegenen Stadtvierteln einer brasilianischen Großstadt um Kundschaft wirbt, die - oh Wunder - ausbleibt. Vier Jahre später ist er einer der gefragtesten Journalisten und Fotografen für den lateinamerikanischen Raum seitens deutsch- und englischsprachiger Medienanstalten.

Die andere Geschichte beginnt mit dem ebenfalls blonden Deutschen, der sich mit nur wenigen Brocken Spanisch von Haustür zu Haustür durchschlägt und spanische Schulbücher verkauft. Acht Jahre später besitzt und leitet er zwei traumhafte Landhotels sowie ein Reisebüro.

Ich sitze immer noch in meiner Ecke. Die Traurigkeit ist der Leere gewichen. Die Stunden verrinnen und zunächst kaum wahrnehmbar wird die Leere wärmer, immer wärmer und schon steigen Flammen empor. Ich sehe Kommissar Shakiro und Alexander von Humboldt und Anakonda und sie wälzen sich im Schlamm und die Anakonda hat beide fest im Griff. Voll panischem Entsetzen schreie ich auf und versuche die Szene zu unterbinden, da bebt es. Nicht stark, aber die Erde bewegt sich. Die Anakonda lockert ihren Griff, taucht ab und entschwindet. - So lange sich meine Seele noch in Parallelwelten flüchten kann, so lange ist der Kampf des Aussteigers in mir noch nicht verloren.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

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