brasilien: Zwischen Kunst und Schmiererei
Grafitti in São Paulo
THOMAS MILZ
[art. 1]
cuba: Varadero - Auszüge aus einem Reisetagebuch
Teil 5: José + Fernsehen
NORA VEDRA
[art. 2]
kolumbien: 80 Jahre Blut-Bananen
Der US-Konzern Chiquita feiert ein unschönes Jubiläum
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
venezuela: Altamira de Cáceres
Entspannung zwischen Anden und Llanos
DIRK KLAIBER
[art. 4]
helden brasiliens: Brasilien und die WM 2014
Mal wieder Carnaval - Interview mit Sócrates
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: No Te Va Gustar in München
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
grenzfall: Was macht mich zum Aussteiger?
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Salsa - Party - Fania ...
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Brasilien: Zwischen Kunst und Schmiererei
Grafitti in São Paulo

Was ist Kunst und welche Art von Kunst ist erlaubt? Darf sie von den Regierenden bewertet und eventuell sogar verboten werden?

Es war der große Clou für Buergermeister Gilberto Kassab. Vor etwas mehr als einem Jahr verabschiedete das Stadtparlament in São Paulo die Verordnung der Cidade Limpa, der sauberen Stadt. Innerhalb weniger Monate verwandelte sich die einst visuell vollkommen verschmutzte und verstopfte Stadt in eine werbefreie Zone. Keine Outdoors, keine überdimensionalen Schriftzüge und Fotos mehr.


Jetzt erobern Grafittis die freigewordenen Häuserflächen. Für die Spraykünstler ist São Paulo zu einem Paradies geworden - solange man Kunst produziert, die der Stadtverwaltung gefällt. Und keine Pichação, eine Bezeichnung, die für die unerwünschten Grafittis steht. Schmierereien halt.

Anfang der 90er Jahre geriet der Sprayer Eduardo Kobra des Öfteren in Konflikt mit der Polizei, die ihn zweimal wegen seiner hip-hop Grafittis festnahm. Danach sprühte er für Skate- und Surggeschäfte, wechselte von der einfachen Spraydose zum Airbrush und begann, sein Geld mit gesprühter Werbung zu verdienen.

"Mit der Einführung der Verordnung der Cidade Limpa haben es einige Geschäftsinhaber mit der Angst bekommen und auf Grafitti-Werbung verzichtet. Sie waren verunsichert, was noch erlaubt war und was nicht. Andere besser Informierte haben erkannt, dass man nur die bisherige Werbung abnehmen und durch eine richtig coole Sache mit Illustrationen ersetzen brauchte. Eine Art indirekter Werbung halt, die die Stadtverwaltung als Kunstwerk anerkennt."


Doch die Stadtverwaltung ist wählerisch. Denn gleichzeitig überpinseln die Angestellten der Stadtreinigung all das, was nach der Meinung der Regierenden zu anstößig ist. Dabei werden dann auch schon mal Kunstwerke von international erfolgreichen Sprayern wie "Os Gêmeos", einem Sprayerbruderpaar aus São Paulo, "gelöscht" - während die beiden ihre Kunst in anderen Städten der Welt präsentieren.

Eduardo hat mittlerweile von der Stadtverwaltung den Auftrag bekommen, Teile der Minhocão-Überführung und die Mauern des Consolação-Friedhofs mit seinen Bildern des alten São Paulo zu verzieren. Die Stadtverwaltung akzeptiert und fördert seine Postkartenmotive des São Paulo der Jahre 1910 und 1920, die überall in der Stadt auftauchen.

Doch kann und darf es die Aufgabe und das Recht der Stadtverwaltung sein, zu definieren, was Kunst ist und was nicht?


Der brasilianische Künstler Washington Arléo hält den Eingriff der Regierenden in die Frage, was Kunst und was Schmiererei ist, für fragwürdig.

"Grafitti ist eine Reaktion der Jugend. Allerdings wird sie zu einer dominierten Kunst, wenn das Kapital und die Dirigenten der sozialen Strukturen anfangen, die wahren und puren Gefühläußerungen zu organisieren. Die Pichação ist immer unorganisiert, unverfroren, politisch aktiv und extrem verantwortlich innerhalb der marginalisierten Strukturen einer Gesellschaft. Denn wenn man sieht, dass Jugendliche 10 oder 15 Meter an den Hauswänden hochklettern, um ihre Erkennungsmarken zu hinterlassen, wollen sie damit sagen: ich existiere, ich habe das Recht etwas zu sagen, und ich kann es tun. Respektiert mich."


Ob Bürgermeister Kassab nach erfolgreicher Schlacht gegen die offizielle Werbebranche jetzt auch den Kampf gegen die Pichação gewinnen kann, bleibt fraglich. Über Nacht tauchen neue Grafittis dort auf, wo die Pinsel der Stadtverwaltung am Nachmittag zuvor für weiße Wände gesorgt haben.

So einfach scheint man es Herrn Kassab und seiner Verordnung der Sauberen Stadt in São Paulo, dann doch nicht machen zu wollen.

Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_3] Kolumbien: 80 Jahre Blut-Bananen
Der US-Konzern Chiquita feiert ein unschönes Jubiläum

Sie ist sonnengelb, formschön, schmackhaft und vielleicht die beliebteste Frucht der Welt. Und die einzige, die alle lebenswichtigen Vitamine und Spurenelemente enthält: die Banane. Es gibt sie in vielen Variationen, von groß und verhältnismäßig geschmacklos bis klein und zuckersüß-würzig. Die weltweit berühmteste Banane - zumindest in Europa und Nordamerika - hat ein schönes, himmelblaues Etikett und einen klangvollen Namen: "Chiquita". Klingt spanisch und irgendwie süß - ist es aber nicht.

Man beißt hinein und am Anfang schmeckt sie, wie die meisten anderen Bananen auch, einfach nur lecker. Doch dann, immer deutlicher, bekommt die Chiquita-Banane einen seltsamen Beigeschmack.

Zuerst glaubt man es kaum - aber sie schmeckt nach Blut. Und das ist leider keine Einbildung, denn Chiquita-Bananen sind Blut-Bananen.

Ende des Jahres 2004 verließ der riesige US-Konzern Chiquita Brands (entstanden 1970  aus der Fusion der ehemaligen United Fruit Company und der United Brands Company) erstaunlich blitzartig das schönste Land der Welt - Kolumbien - wo er sich bis dahin wie die Made im Speck gefühlt und seit einem Jahrhundert eine führende Position im Bananengeschäft eingenommen hatte.

Warum dieser plötzliche Abgang? Um einer Flut von Klagen zuvor zu kommen, die Angehörige von Mordopfern gegen den Bananen-Giganten einleiten würden. Denn immer deutlicher zeichnete sich ab, dass der ungeheure Skandal, der in deutschen Medien kaum thematisiert wurde, nicht mehr zu vertuschen war. Deshalb ging Chiquita zum Selbstschutz in die Offensive und gab zu, allein zwischen 1997 und 2004 US-$ 1,7 Millionen (wahrscheinlich jedoch noch wesentlich mehr) an die obskure paramilitärische Terrorgruppe "Autodefensas Unidas de Colombia" (AUC) gezahlt zu haben.

Die Geschäftsführung von Chiquita rechtfertigte die Zahlungen damit, dass man sich den "Schutz" der Niederlassungen in Kolumbien habe erkaufen müssen. Doch diese Millionengabe an die AUC war weniger eine Schutzgebühr als vielmehr großzügiges Terror-Sponsoring.

Mit ihrer Unterstützung gehörte Chiquita mindestens acht Jahre lang zu den wichtigsten Geldgebern der Terrororganisation AUC und trug entscheidend dazu bei, den bürgerkriegsähnlichen Zustand in Kolumbien aufrecht zu erhalten. Immerhin waren die "Autodefensas Unidas de Colombia" schon 2001 vom Außenministerium der USA offiziell zu einer "terroristischen Vereinigung" erklärt worden. Und die Frage, wie viele Bürger Kolumbiens mit den von Chiquita bezahlten Waffen während der letzten 10 Jahre ermordet wurden, kann wohl nie ganz geklärt werden. Zurzeit liegen der Justiz Zivilklagen der Angehörigen von 173 Mordopfern vor, die nachweislich auf das Konto der AUC gehen. Allerdings ist dies nur die Spitze des Eisbergs, denn nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden allein in den Bananen-Anbaugebieten der Provinz Antioquia zwischen 1997 und 2004 432 Personen von den Paramilitares der AUC erschossen; darunter viele Gewerkschaftler, die mit ihren Forderungen dem Chiquita-Konzern "Probleme" bereiteten.

In ganz Kolumbien dürfte die Zahl der mit "Chiquita-Gewehren" ermordeten Menschen mindestens vierstellig sein.

Man möge sich nur einen Moment lang vorstellen, was wohl die Reaktion der US-Regierung gewesen wäre, wenn ein kolumbianischer Konzern Waffen im Wert von Millionen z. B. an eine ins Drogengeschäft verwickelte Latino-Gang in Los Angeles oder Miami geliefert hätte.

Die AUC, die vom US-Konzern Chiquita aus Cincinatti mit Geld zum Waffenkauf beliefert wurden, spielen nachweislich eine Hauptrolle im Kokaingeschäft, das die US-Regierung in Kolumbien und der gesamten Andenregion offiziell doch mit allen Mitteln bekämpfen will. In zumindest einem Fall wurden die Waffen sogar direkt von Chiquita an die AUC geliefert, als am 5. November 2001 in einem Lagerhaus von Banadex, einem Tochterunternehmen von Chiquita in Kolumbien, 14 Container mit insgesamt 3.000 Gewehren "zwischengelagert" wurden, bevor die Terroristen sie erhielten.

Nach langen Verhandlungen wurde der Chiquita-Konzern im September 2007 von der US-Staatsanwaltschaft zur Zahlung einer Strafe von 25 Millionen US$  verdonnert. Bei dem Urteil wurde ausdrücklich die "Bereitschaft zur Aufklärung" von seiten der Chiquita Brands gelobt. Nun gibt es doch tatsächlich Naivlinge, die hier die "Gerechtigkeit" der US-Justiz loben, da sie ja den Chiquita-Konzern zur Zahlung einer hohen Strafe verurteilt habe. Diese Summe, die auf den ersten Blick stattlich wirkt, bedeutet für den global operierenden Obst-Giganten aber nur "Peanuts" - im Vergleich zu dem, was juristisch möglich gewesen wäre (und hoffentlich noch ist).

Der eigentliche Skandal: mit diesem Millionen-Deal erkaufte sich die Konzernleitung absolute Straffreiheit - niemand der zehn Executive Managers, die diese kriminelle Geschäftspraxis beschlossen und von denen die Terroristen in Kolumbien beliefert wurden, wird zur Verantwortung gezogen! Ihre Namen werden geheim gehalten. Es handelt sich also um allzu bereitwillig gezahltes Schweigegeld. Wie "zufrieden" Chiquita mit der Zahlung dieser 25 Millionen war, zeigt sich auch in der Tatsache, dass der Konzern einen Teil dieser Geldsumme schon vor der endgültigen Urteilsverkündung überwiesen hat! So verhält man sich, wenn einem bewusst ist, dass das Urteil eigentlich viel härter hätte ausfallen können (müssen!) und mit in die Politik hinein reichenden Konsequenzen zu rechnen gewesen wäre (die immer noch möglich sind, sofern Willen und Entschlossenheit der Regierung Kolumbiens in diese Richtung gehen).

Nicht nur die Familienangehörigen der Opfer verlangen nun, dass die Regierung Kolumbiens von den USA offiziell die Auslieferung der zehn verantwortlichen Chiquita-Manager verlangen soll. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob Präsident Álvaro Uribe - bekannt als einziger Bush-Verbündeter in Südamerika - eine solche Forderung jemals stellen wird. Dabei wäre die Indizienlage ausreichend, den US-Konzern auch beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuklagen.

Und dieser blutige Skandal ist nicht der erste, in den der US-Bananenkonzern verwickelt ist. Die massenhafte Ermordung geschäftsschädigender Personen scheint ein probates Management-Instrument zu sein, das schon vom Mutterkonzern Chiquitas, der United Fruit Company, angewendet wurde.

Am 6. Dezember 1928 kam es in der kolumbianischen Küstenstadt Ciénaga bei Santa Marta zu dem Blutbad, das als "Bananen-Massaker" in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Kolumbianische Truppen, deren Entsendung von der United Fruit angefordert worden war, eröffneten unter dem Kommando des Generals Cortés Vargas das Feuer auf eine riesige Menschenmenge von Streikenden der Bananenplantagen, die sich nach der Sonntagsmesse auf dem Platz vor der Kirche versammelt hatten.

Die meisten der Toten wurden danach mit der Bananen-Eisenbahn der United Fruit Company abtransportiert und ins Meer geworfen.

Die Streikenden verlangten nichts anderes als humane Arbeitsbedingungen und schriftlich fixierte Verträge, die sie vor völliger Rechtlosigkeit schützen sollten. Bis heute konnte die genaue Zahl der Opfer dieses Massakers nicht geklärt werden. Waren es nur 50 (wie von General Cortés Vargas behauptet), waren es 3.000 (wie von liberalen Abgeordneten behauptet) oder 1.000 (wie vom US-Botschafter in Bogotá gemeldet)? In einem Telegramm vom 16. Januar 1929 an das Außenministerium der USA schreibt der US-Botschafter, offenbar zufrieden mit der "Auflösung" des für die United Fruit Company so lästigen Streiks der Plantagenarbeiter: "Ich habe die Ehre zu berichten, dass der Vertreter der United Fruit Company in Bogotá mir gestern bestätigt hat, dass die Gesamtzahl der vom kolumbianischen Militär erschossenen Streikenden 1.000 übersteigt." (zitiert nach dem Buch von Ana Carrigan: "The Palace of Justice: A Columbian Tragedy", 1993).

Literarisch verewigt wurde dieses Bananen-Massaker von Nobelpreisträger Gabriel García Márquez in seinem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit", in dem ebenfalls die "Verschwörung des Schweigens" nach dem Blutbad thematisiert wird.

Zur Rechtfertigung des Massakers behauptete General Vargas später, dass die USA mit einer militärischen Intervention gedroht hätten für den Fall, dass die Interessen des US-Konzerns nicht ausreichend verteidigt würden. Diese Legitimationsstrategie ist zwar dreist, die Befürchtung, die dahinter stand, war aber keineswegs gegenstandslos. Denn die Lage war sehr instabil, die USA hatten tatsächlich mehrere Kriegsschiffe in der südlichen Karibik stationiert und US-Regierungen hatten im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder eindrucksvoll demonstriert, dass sie keinen Spaß verstehen, wenn Wirtschaftsinteressen der USA gefährdet sind. So zog z. B. die Verstaatlichung der United Fruit Plantagen in Guatemala 1954 umgehend eine von der CIA organisierte Rebellion und den Sturz von Präsident Jacobo Arbenz nach sich.

Auch Kolumbien hatte 1903 schon am eigenen Leib erfahren, was geschehen kann, wenn man den Wünschen der US-Außenpolitik nicht entspricht. Damals war die kolumbianische Provinz Panamá durch eine von den USA geschaffene und mit Waffen belieferte "Unabhängigkeitsbewegung" von Kolumbien abgespalten worden, nachdem mehrere kolumbianische Regierungen sich zuvor geweigert hatten, den USA Land für den Bau des Panamakanals zu verkaufen.

Die Geschichte des Bananen-Massakers von 1928 hat sich also, wenn auch in anderer Form, wiederholt und die Gesamtzahl der Opfer, die mit "Chiquita-Gewehren" erschossen wurden, dürfte sogar noch höher liegen. In diesem Kontext ist ein Blick auf die Slogans der "Corporate Responsibility" auf der Website von Chiquita Brands sehr erhellend, wenn man etwas über das Selbstverständnis dieses Konzerns erfahren will. Wir haben diese ein wenig ergänzt (kursiv):

We treat people fairly and respectfully, We recognize the importance of family in the lives of our employees... ...by financing their murderers
We value...cultural differences... ...by ignoring them
We encourage teamwork... ...with paramilitares and terrorists

Text + Fotos: Berthold Volberg

Empfohlen sei das Buch von Ana Carrigan: "The Palace of Justice: A Columbian Tragedy", 1993)

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[art_4] Venezuela: Altamira de Cáceres
Entspannung zwischen Anden und Llanos

Die Anden mit ihren Städten Mérida und Tabay sowie die tierreiche Steppe Los Llanos sind zwei der von Touristen meist besuchten Gegenden Venezuelas. Obwohl die Llanos ein Drittel der Fläche des gesamten Landes einnehmen, konzentrieren sich die Hatos (auch Fincas oder Viehfarmen), die auf den Besuch von Touristen eingestellt sind – von der einfachen bis zur gehobenen Kategorie – südlich von Barinas.




Im Regelfall starten die Llanosreisenden 3- bis 4-Tagestouren ab einer der beiden Andenstädte. Direkt nach Tabay (1600 Meter) schraubt sich die Transandina, die schönste Straße Venezuelas, immer höher in das Hochland der Sierra Nevada hinauf, wobei es Gletscherseen, Frailejones (Espiletien, bis zu zwei Meter hoch), Kirchen, koloniale Dörfer und natürlich die Andenlandschaft zu entdecken gibt. Nach einem Abstecher auf den Adlerpass auf 4200 Metern erreicht die Transandina auf Höhe der Laguna Mucubají ihren Scheitelpunkt. Von hier aus geht es kurvenreich die Anden hinunter durch Elfen- und subtropischen Regenwald.



Inmitten dieser traumhaften, bereits sehr warmen, Tropenlandschaft liegt auf einem Felsvorsprung nur 10 Autominuten von der Transandina entfernt Altamira de Cáceres. Dieses verschlafene Dorf, das von den Spaniern im Jahr 1577 gegründet wurde, ist nicht nur idealer Verbindungspunkt zwischen Berg und Steppe, sondern ein überaus schmuckes koloniales Dorf mit einer Plaza Bolívar, auf der man sich in den frühen Abendstunden zum Plausch trifft. Darüber hinaus hat Altamira zwei wunderschöne Posadas. Vor allem die gerade eröffnete Posada Casa Vieja Altamira – die Fertigstellung des Pools unter riesigen Avocadobäumen ist für Dezember geplant – mit einer Außenterrasse, die hinausgeht in den Urwald, ist schon für sich einen Abstecher wert.




Morgens erreicht man dann entspannt nach zwei (Hato Critero), drei (Hato Cedral) oder vier Stunden Fahrt (Hato el Frío oder eines der Low Buget Camps) das jeweilige Hato in den Llanos.

Text: Dirk Klaiber
Fotos: Dirk Klaiber und Casa Vieja Mérida

Infos:
Mit dem Mietauto erreicht man Altamira de Cáseres von Caracas/Barinas aus kommend, indem man, unterwegs auf der Tansandina in Richtung Mérida, circa 15 Kilometer nach Barinitas rechts abbiegt in Richtung Altamira/Caldera. Zehn Minuten später trifft man auf das Dorf.

Los Llanos Touren, die Altamira ansteuern, findet ihr hier:
www.casa-vieja-merida.com/tour/los_llanos/indexdt.shtml

Eine Zweitagestour, die Wanderungen im Páramo und den subtropischen Wäldern rund um Altamira beinhaltet, findet ihr hier:
www.casa-vieja-merida.com/tour/tropischer_garten/indexdt.shtml


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[kol_1] Helden Brasiliens: Brasilien und die WM 2014
Mal wieder Carnaval - Interview mit Sócrates

Wirklich überschwänglichen Jubel gab es in Brasilien bei der Vergabe der WM 2014 nicht. Dazu war schon zu lange klar, dass Brasilien die Copa als einziger Kandidat so oder so erhalten würde.

Vor Brasilien liegt nun die Mammutaufgabe der Organisation des größten Sportereignisses der Welt. Chronisches Chaos im Luftverkehr, mangelnde Infrastruktur und veraltete Stadien - in den nächsten sechs Jahren muss massiv investiert werden.



Wir fragten Sócrates, den Kapitän der brasilianischen Nationalelf von 1982 und 1986, zur Vergabe der WM 2014 an Brasilien.

Freuen Sie sich darüber, dass Brasilien die WM 2014 ausrichten wird?

Sócrates:
Prinzipiell ist es eine gute Sache, eine WM auszurichten, oder sogar Olympische Spiele in einer Stadt wie Rio de Janeiro. Aber wenn man sich die Herren anschaut, die dahinter stecken, muss einem klar werden, dass diese nicht ernsthaft und verantwortungsbewusst mit der Sache umgehen werden. Denn die große Frage, die wir uns hier immer wieder stellen, ist: wer hat eigentlich ein Interesse daran, in Brasilen eine WM zu organisieren? Schließlich darf man nicht vergessen, dass es hierbei um Unsummen an Investitionen geht. In einigen Bereichen wurde ja bereits Maßnahmen ergriffen, beispielsweise der Infrastruktur.

Aber die Geschichte dieses Landes zeigt leider keine positiven Entwicklungen: so fanden in Rio de Janeiro gerade die Panamerikanischen Spiele (PAN) statt. Ursprünglich hatte man im Rahmen der Spiele 350 Millionen Reais für die Reinigung der Guanabara-Bucht und für den Ausbau der Metro veranschlagt. Und? Letztlich passierte gar nichts. Was man gemacht hat, war einige Arenen in Form von Betonmonstern zu bauen, die nach den Spielen an die Privatwirtschaft weitergegeben wurden. Und das mit unserem Geld.

Und das gleiche, was bei den Panamerikanischen Spielen passiert ist, wird auch bei der WM geschehen. Daran habe ich keinerlei Zweifel. Wir Brasilianer werden die Zeche zahlen müssen. Es gibt momentan keine wirkliche Planung und es wird auch in Zukunft keine geben. Wir bräuchten eine ernsthafte Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Es kann nicht sein, dass, wie bei den Panamerikanischen Spielen, das Budget von anfangs 350 Millionen Reais am Ende auf 3,5 Milliarden Reais anwächst.



Bei der WM wird das noch viel schlimmer werden. Denn dann wird man Investitionen dieser Größenordnung in 10 oder 12 Städten tätigen müssen. Die Endabrechnung geht dann zu Lasten des Bundes und damit des brasilianischen Volkes. Und so wie ich das sehe, bleiben die Sponsorengelder der großen WM-Partnerfirmen bei der FIFA hängen. Viele Menschen werden mit der WM reich werden, aber nicht unser Land.

Darf Brasilien demnach keine Vorteile von der WM-Ausrichtung erwarten?

Sócrates:
Eigentlich haben wir ja schon genug Karneval hier. Da brauchen wir nicht noch mehr, denn die WM wird ein 30 Tage langer Karneval werden. Die Brasilianer sind natürlich super drauf, wenn es ums Feiern geht. Das Land wird für 30 Tage stillstehen. Den ganzen Juni über Ferien. Aber danach, was wird bleiben? Welchen Gewinn im sozialen Bereich wird man erzielen?

Was ist mit dem Selbstbewusstsein der Brasilianer - würde es diesem nicht gut tun, eine WM auszurichten? In Deutschland hat es funktioniert.

Sócrates:
Selbstbewusstsein brauchen die Brasilianer nicht - sie haben eher schon zuviel davon. Denn inmitten ihrer Misere leben die Brasilianer gut und sie sind die ganze Zeit über sehr positiv eingestellt.

Bei einer Kosten-Nutzenrechnung sehe ich nicht viel Positives. Natürlich kann es in einigen Bereichen zu Verbesserungen kommen, wie dem Tourismus. Was die Sicherheitsfrage angeht: während der 30 Tage werden die Sicherheitskontrollen sehr intensiv sein. Vergleichbar denen beim PAN in Rio, wo man eine Art Waffenruhe vereinbart hatte. Aber danach? Wenn ein Tourist  drei Monate nach der WM nach Brasilien kommt, wird alles anders sein. Die für die WM aufgebauten Sicherheitsstrukturen sind dann wieder verschwunden.

Deshalb müsste man langfristig in den sozialen Bereichen investieren. Aber die WM-Organisation hat natürlich keinerlei Absichten, in diese zu investieren. Es geht um rein wirtschaftliche Interessen - die wirtschaftlichen Interessen des eigenen Geldbeutels natürlich.



Sind die kontinentalen Dimensionen Brasiliens nicht ein Problem für die Ausrichtung?

Sócrates:
Man müsste vor allem die Gruppenphase regional begrenzen, denn Brasilien ist so groß wie ganz Europa. Einen Tag spielt man in Rom, danach in Skandinavien und das nächste Spiel in London. Das ist nicht durchführbar. Man muss den Modus regionalisieren. Macht man es nicht, wäre das ein Zeichen enormer Ignoranz.

So könnte zum Beispiel eine Gruppe im Nordosten spielen, in Natal, Recife und Salvador. Das ist logistisch per Bus machbar. Aber man kann die Spiele nicht über 4.000 Kilometer auseinander reißen und diese Distanz zweimal die Woche zurücklegen. Doch selbst darüber hat man sich bisher keine Gedanken gemacht, denn die Herren sind nicht an logistischen Lösungen interessiert. Sie denken nur an Geld: So wird die WM laufen. Man müsste ein nationales Organisationskomitee mit aufrichtigen Personen besetzen, die verstehen, was unser Land braucht. Man darf die Organisation nicht der CBF überlassen. Denn sonst wird die WM in Brasilien mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.

Wie sind die Zuschauerzahlen etwa bei einem Spiel wie Tunesien gegen Saudi Arabien in Porto Alegre einzuschätzen?

Sócrates:
Die Brasilianer wird das natürlich nicht interessieren. Da wird niemand im Stadion sein. Nur die Tunesier, die die Reise auf sich genommen haben. Solange keine Freikarten vergeben werden, wird es so laufen.

Und wenn die Selecão im Viertelfinale rausfliegt?

Sócrates:
Dann wäre die WM zu Ende. Das würde einem Begräbnis der aktuellen Weltmeisterschaft gleich kommen. Aber das wird nicht passieren, dafür wird schon gesorgt werden. Mindestens ins Halbfinale kommt Brasilien bei der Heim-WM, das ist ja immer so gewesen, da stehen genug Leute dahinter, die dafür sorgen. Selbst Süd-Korea hat es ja bei der WM im eigenen Land bis ins Halbfinale geschafft. Fußball ist eben ein Sport, der für Manipulationen wie geschaffen ist. Es gibt ja nur einen einzigen Schiedsrichter, der alles entscheidet.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2007] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Macht Laune: No Te Va Gustar in München

"So, weiter jetzt, Kopf einziehen und durch die Türen, aber schnell." Es fängt bereits in der U-Bahn an, lustig zu werden. Ich hetze mich ab, um pünktlich zum Interviewtermin zu kommen, sitze endlich in der U-Bahn und bemerke, dass ich das Aufnahmegerät nicht dabei habe. Fürs Umkehren schon zu spät, also muss meine Freundin aushelfen und mir den treuen Sprachbegleiter zur Veranstaltung bringen. Leider gibt’s keinen Empfang in Münchner U-Bahnen, zumindest für mein mobiles Telefon nicht. Aber es hat ja noch Zeit - bin nur knapp vier Stunden zu spät. Also lausche ich lieber den Ansagen des Triebwagenführers, wie es inzwischen so schön heißt. "Ach Mütterchen, jetzt legen wir einen Zahn zu, rein in die Bahn und dann können wir auch weiter fahren." Kurze Pause. "So, heute ist die Caritas wieder im Einsatz. Nächster Halt…"



"Es wird Dir nicht gefallen." Ganz einfach. So suggeriert es zumindest der Name der Band No Te Va Gustar aus Uruguay, die hierzulande wenig bekannt ist. An das Pendant La Vela Puerca hat man sich ja schon vom Hörensagen gewöhnt. Nun also wieder etwas Neues aus dem kleinen Latinostaat, der vor Jahren auch mal eine Fußballmacht war. Wobei: so neu ist No Te Va Gustar gar nicht. Die acht Herrschaften haben ihre vierte Platte am Markt und füllen inzwischen Stadien mit bis zu 35.000 Zuschauern. Darüber hinaus haben sie schon mit den wichtigsten Größen aus der Rockszene Uruguays und Argentiniens gespielt. Nun sind sie zum dritten Mal auf Entdeckungsreise durch Europa.

Alle Hatz war umsonst, was aber gar nicht so unpässlich kommt. Die Band absolviert gerade ihren Soundcheck und ich habe noch ein paar Minuten Zeit, um auf meinen Sprachmemoboten zu warten. Dann sind die  Jungs fertig, ich stelle mich brav vor und, na klar, Uruguayer Herzlichkeit und Austausch der üblichen Floskeln. Aber sie freuen sich, dass mal wer vorbei kommt und sich mit ihnen in ihrer Sprache unterhält. Anders lässt sich auch nicht erklären, dass ich mich bald im ersten Stock wiederfinde, einen gefüllten Teller vor mir stehen habe und alle um den Tisch versammelt sind. Ich fühle mich wie bei einem Schulaufenthalt. Geschnatter, durcheinander, ich werde ausgefragt und nicht andersrum und die Stimmung ist locker. Nun ja, es sind ja auch noch zwei Stunden, bis die Jungs auf die Bühne müssen.



"Wir genießen es, hier in Deutschland vor kleinerem Publikum zu spielen", versichert mir Mauricio, der junge Saxophonist. Er scheint der Diplomat in der Band zu sein. Ruhig und besonnen und er zeigt Interesse an den Menschen. "Wirklich?", entfährt es mir. "Naja, immerhin können wir uns dann wieder auf zu Hause freuen, wo es total abgeht." Alle grinsen. Der Erfolg scheint ihnen zwar nicht zu Kopf gestiegen zu sein, aber dass er gut tut, das merkt man ihnen schon an. Es ist nicht alltäglich, dass Bands aus Lateinamerika in Übersee touren und dabei auch Erfolg haben. "Zumindest den Popularitätsgrad steigern wir hier allmählich. Und das freut uns sehr. Und gerade, weil nicht jeder unsere Texte versteht, ist das ein tolles Gefühl." Martín, der Trompeter, ist begeistert. Er spricht am meisten hier im Esszimmer, das inzwischen auch den erforderlichen Biernachschub beherbergt. Darüber, dass es gut sei, jeden Tag woanders zu sein, dass man den Überblick verloren habe, wo man überhaupt gerade auftreten solle und dass drei Monate Tourleben einem schon auf die Nerven gehen können. Sie mögen es, so anstrengend das auch sein mag, jeden Tag abends auf den berühmten Brettern zu stehen und ihren Rock, Latino-Reggae-Mischmasch an das begeisterungsfähige Volk bringen zu können. "Jeden Tag spielen, das ist das Beste. Was würden wir auch tun mit einem freien Tag? Du kannst ja doch nichts damit anfangen", bringt es Leo, der Sound-Ingenieur, auf den Punkt.

Mittlerweile hab ich das dritte Bier intus und längst macht sich ein Kommen und Gehen in der jugendherbergsähnlichen Unterkunft bemerkbar. Die einen müssen noch duschen, die anderen spielen auf dem Gang Fußball mit einer kleinen Golfkugel und manche bleiben sitzen, weil sie noch Hunger haben oder sich vom mit reichlich Alkohol gefüllten Kühlschrank nicht lösen können oder wollen. Mein Sprachaufzeichner ist längst in Vergessenheit geraten. Wir sprechen über die Unterschiede von Auftritten in Uruguay, Argentinien, Spanien und Deutschland.



"In Uruguay haben wir eine noch junge Rockszene", wird mir vom Keyboarder Marcel erklärt. "In Argentinien ist das anders. Da gibt es die Szene schon sehr lange und es gibt zig gute Bands." Ganz konkret heißt das, in Uruguay geht es ruhiger zu, das Publikum ist höchstens mit Mate und Bombilla bewaffnet, aber ansonsten entspannt. In Argentinien elektrisieren Konzerte guter Bands im wahrsten Sinne des Wortes. Da wird gehüpft, getanzt, mitgesungen. Manchmal auch einen kleinen Tick rücksichtsloser. Das ist die Kehrseite der Medaille. "In Spanien ist das Publikum zurückhaltender, aber nicht besonders zugänglich. Hier in Deutschland ist das ganz anders. Es ist wirklich lustig hier zu spielen, weil die Leute offen sind und Interesse an neuen Dingen haben." Und das aus dem Munde von Bandleader Emiliano, kurz Emi. Er ist der letzte Übriggebliebene des Trios, das 1994 begann, um ein wenig Rockmusik zu machen und aus dem alsbald die achtköpfige Band No Te Va Gustar wurde. 2006 war ein schwieriges Jahr. Zwei des Ursprungstrios verließen nach erfolgreicher Produktion der vierten Scheibe Todo Es Tan Inflamable die Band, Songschreiber Mateo Moreno und Schlagzeuger Pablo Abdalá.

Die Band stand am Scheideweg und kurz davor, sich aufzulösen. Aber man raufte sich zusammen. Gerade auch, weil das jüngste Album ein großer Erfolg in Uruguay und Argentinien wurde.

Sie kamen zu dem Entschluss, dass man jetzt zwar neue Wege gehen müsse, aber dass man Lust habe, eine weitere Entwicklung in Kauf zu nehmen. Nun sind sie also zum dritten und sicher nicht zum letzten Mal in Deutschland.

Schließlich durfte ich dann noch den Manager Nicolas kennen lernen. Ein netter Typ. Wir unterhielten uns ein wenig über Rockmusik aus Uruguay, als ich plötzlich auch noch von einer Dame des Centro Argentino in München umarmt wurde. Sie hatte mich irrtümlich mit jemandem von der Band verwechselt. Nun ja, kann passieren. In jedem Falle wurde ich zum Weihnachtsmarkt eingeladen. Da gibt’s dann zwar kein Asado, weil es zu kalt ist, aber hoffentlich ein wenig Wein.

Ach ja, gespielt haben die Jungs natürlich auch noch. Zwar nur vor 150 Leuten, aber die sind in zwei Stunden wenigstens voll mitgegangen. Ich meine, eher mitgetanzt und das dauerhaft. Denn bei dieser Musik bleibt einem auch nichts anderes übrig.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 11/2007] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_3] Grenzfall: Was macht mich zum Aussteiger?

Horstli Opotschtli und Ben Cartwright liebten sich so sehr, dass sich die Welt erwärmte. Dies hatte zur Folge, dass die Gletscher an Nord- und Südpol auf Teufel komm raus kalbten und die karibische mit der nordamerikanischen Erdplatte im Kaimangraben, zwischen Kuba und Florida gelegen, für einen Bruchteil einer Sekunde kollidierte. Ein Beben weckte die großen Antillen, die unbeeindruckt einen weiteren sonnigen Tag begrüßten. Und fast wäre die Erschütterung für immer in Vergessenheit geraten, hätte sie nicht dem Aussteiger Kommissar Shakiro das Leben gerettet.

Das ist nicht gut: Je mehr Gedanken ich mir zum Thema Aussteiger mache, desto trauriger werde ich. Immer mehr wird mir bewusst, ich bin kein Aussteiger. Ich hab nicht einmal ein Aussteigerherz - eine Seele ja, vielleicht - immerhin eine Seele. Ein Himmelreich für meine Aussteigerseele. Welch Trübsal als mir der Satz in den Sinn kommt: Du funktionierst in der Gesellschaft, zwar am Rande, aber du funktionierst. Es ist neun Uhr früh und ich bin nahe daran, mich in die dunkelste Ecke des Raumes zu verkriechen. Denn gerade eben habe ich kapiert: Ich funktioniere in der Gesellschaft und hasse mich dafür.

Aussteigertypen
Die ersten Aussteiger, mit denen ich in Kontakt kam, waren Lehrer - deutsche Lehrer, die für einen Zeitraum von zwei bis sechs Jahren an einer deutschen Schule im Ausland unterrichteten. Eventuell trifft der Begriff Aussteiger nicht zu 100 Prozent zu, da dem verbeamteten Lehrer neben dem festgesetzten Zeitraum auch ein Job nach seiner Rückkehr in die Heimat garantiert wird.

Heute, im Gegensatz zu gestern, spielt die finanzielle Entlohnung für den Mut des Aufbruchs keine Rolle mehr. Unterscheidet man grob drei Typen, so ist Typ 1 bestrebt die Sprache zu erlernen, das Land zu bereisen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Typ 2 träumt von Blümchenkaffee und Spitzendecke, konzipiert auch nach 6 Jahren noch seine komplette Kommunikation mit Inländern um die Infinitive limpiar (putzen), comer (essen), comprar (kaufen) und eine Hand voll Substantive und meidet Innenstädte - Shoppingmalls im US-Stil werden zur täglichen Offenbarung. Typ 3 ist dann wohl wirklich ein Aussteiger. Er bewirbt sich direkt bei den Schulen im Ausland, kassiert ein ortsübliches Gehalt und hat keinerlei Sicherheiten seitens des deutschen Staats, falls er wieder zurückkehrt.

Viele Kleinverbrecher-Aussteiger tummeln sich in der Welt da draußen. Es ist unglaublich, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass man in Deutschland bei Fahnenflucht als Krimineller galt und eine Rückkehr, Gefängnis bedeutet hätte. Da heute längst nicht mehr jeder eingezogen wird, ist Ausstieg statt Absitzen nicht mehr ganz so populär.

Hut ab vor Selbsttherapie-Aussteigern, die mit der Situation des Funktionierens in unserer Welt einfach nicht zu Recht kommen und nach einer Zeit des Experimentierens mit Sinne erweiternden Hilfsmitteln erfolgreich das Weite suchen. Erfolgreich ist hier gleichzusetzen mit glücklich ohne, dass die Droge den Lebensrhythmus dominiert. Es sollte uns, die wir im alten System verhaftetet sind, aber nicht verfänglich erscheinen, wenn sich Aussteiger entschließen, im Hier und Jetzt zu leben, auch wenn man in Deutschland als hochgradig asozial gilt, sobald man das scheinheilige Christentum fehl interpretiert und sich nicht um den morgigen Tag kümmert.

Die sozial motivierten Aussteiger bekommen in den seltensten Fällen viel Geld für ihre Dienste. Selbst wenn sie mit Hilfsorganisationen in die Welt gehen, geben sie viele "Sicherheiten", wie garantierter Wiedereinstieg in den Arbeitstalltag, auf. Ihre Einsatzorte sind oftmals fern von Ballungszentren, so dass die Bereitschaft zur Integration Vorraussetzung ist.

Viele Projekte, die gerade mit jungen Aussteigern arbeiten, verfügen sowieso über keinerlei Gelder und funktionieren durch Volontäre.

Die Klassiker
Liebes-Aussteiger haben sich im Urlaub verguckt und blieben.

Der Millionär-Aussteiger hatte finanziellen Erfolg in der Alten Welt und erfüllt sich und seiner Fernsucht den lang ersehnten Traum. Er baut ein Gästehaus oder Restaurant in der Karibik, fernab des Trubels. Angenehme Gäste, die den Wert des Geschaffenen zu würdigen wissen, sind herzlich willkommen.

Vom Tellerwäscher zum goldigen Aussteiger: Erfolgsgeschichten, auf die das deutsche Unterschichten-Fernsehen momentan so sehr abfährt, gibt es. Spontan fallen mir vier Stück ein. Hier zwei zur Veranschaulichung: Immer wieder muss ich schmunzeln, wenn ich mir den groß gewachsenen, weißen Mann mit den  blonden Haaren vorstelle, wie er als Busbegleiter auf dem Trittbrett einer zerdellten, auspuffzerlöcherten Rostlaube mitfährt und wild die Arme schwenkend und die Endstation brüllend in den abgelegenen Stadtvierteln einer brasilianischen Großstadt um Kundschaft wirbt, die - oh Wunder - ausbleibt. Vier Jahre später ist er einer der gefragtesten Journalisten und Fotografen für den lateinamerikanischen Raum seitens deutsch- und englischsprachiger Medienanstalten.

Die andere Geschichte beginnt mit dem ebenfalls blonden Deutschen, der sich mit nur wenigen Brocken Spanisch von Haustür zu Haustür durchschlägt und spanische Schulbücher verkauft. Acht Jahre später besitzt und leitet er zwei traumhafte Landhotels sowie ein Reisebüro.

Ich sitze immer noch in meiner Ecke. Die Traurigkeit ist der Leere gewichen. Die Stunden verrinnen und zunächst kaum wahrnehmbar wird die Leere wärmer, immer wärmer und schon steigen Flammen empor. Ich sehe Kommissar Shakiro und Alexander von Humboldt und Anakonda und sie wälzen sich im Schlamm und die Anakonda hat beide fest im Griff. Voll panischem Entsetzen schreie ich auf und versuche die Szene zu unterbinden, da bebt es. Nicht stark, aber die Erde bewegt sich. Die Anakonda lockert ihren Griff, taucht ab und entschwindet. - So lange sich meine Seele noch in Parallelwelten flüchten kann, so lange ist der Kampf des Aussteigers in mir noch nicht verloren.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 11/2007] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: Salsa - Party - Fania - Salsa - Party - Fania - Salsa …

Bekanntermaßen entstand die heute in der ganzen Welt beliebte Salsa (so wie ihr kleiner Cousin Boogaloo) nicht in Lateinamerika, sondern im New York der 1960er Jahre: Musiker wie Rubén Blades, Ray Barretto, Johnny Pacheco oder Willi Colón mixten aus kubanischen und karibischen Rhythmen, Rock, Jazz und Soul ein explosives Gemisch, teilweise mit sozialkritischen Texten. Die Clubs und Tanzsäle brodelten, die Konzerte entwickelten sich zu Manifestationen lateinamerikanischer Lebensfreude im Big Apple. Eine wichtige Rolle in der Vermarktung dieser Musik spielte das 1964 gegründete Label "Fania". Dort nahmen alle Latino-Stars auf; neben den zuvor genannten auch Celia Cruz, Mongo Santamaria, Tito Puente und Eddie Palmieri. Viele von ihnen spielten zudem in der Salsa-Supergroup Fania All Stars.

V.A.
New York City Salsa 2
Fania/ V2 Records

Die salsa dura ergoss sich in den 70ern über Lateinamerika, entwickelte sich zu einer latino-identitätsstiftenden Musik und löste dort einen Boom von Interpreten und Bands aus. In den 80ern gelangte sie dann nach Europa und Japan. Ihre geographische und stilistische Diversifizierung trug zu einem Bedeutungsverlust der New Yorker Szene und von "Fania" bei. Das Label wurde 2006 verkauft. Dabei tauchten viele verloren geglaubte Masterbänder der rund 2.000 Fania-Produktionen wieder auf, was seither zu einer erfreulichen Schwemme von Re-Issues führt.

V.A.
El Barrio
Fania/ V2 Records

Die Compilations "New York City Salsa 2" und "El Barrio” von V2-Records fahren mit ihren treibenden Rhythmen von Richie Ray ("Aguzate”), Celia Cruz ("Tres dias de Carnaval"), Orchestra Harlow ("Rise up") oder Pete & Louie ("Evil ways") in die Beine. Die jeweils 15 Titel haben erfreulicherweise noch nichts mit der kitschigen salsa romantica der 80er Jahre zu tun.

Willie Colón
The Player
Fania/ V2 Records

Posaunist und Sänger Willie Colón ist den neuen Besitzern des Fania-Backkatalogs sogar eine Doppel-CD wert (inkl. dickem Booklet). Der auch als "El Malo" bekannte Puertorikaner hat in seinen 23 Jahren bei Fania (1966-1989) unzählige Hits produziert, oft im Duett mit anderen Stars. Viele davon finden sich hier: einlegen und abtanzen!

V.A.
Latin Jazz
Putumayo/ Exil 90330-2

Nicht aus dem Fania-Archiv aber ebenso partytauglich sind die beiden CDs, die Exil-Records in Deutschland vertreibt: Auf "Latin Jazz" finden sich vor allem die langsamerem Latino-Rhythmen Son, Mambo und Cha Cha Cha, die aber nicht weniger tanzbar sind. Herausragend: Ray Barrettos Version des Gershwin-Klassikers "Summertime" sowie "Rumdrum" des isländischen (!) Percussionisten Tómas Einarsson, eingespielt in Havanna.

Spanish Harlem Orchestra
United we swing
Six Degrees/ Exil 90262-2

Das Spanish Harlem Orchestra, gegründet von Oscar Hernández im Jahr 2000, läßt die alten Salsa-Dura-Zeiten wieder aufleben, spielt aber auch die langsameren kubanischen Rhythmen. Salsa in der Spielweise des neuen Jahrtausends, eine gelungene Kombination. Als besonderes Schmankerl singt am Ende Paul Simon seinen Hit "Late in the evening" zu einem Salsa-Arrangement.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 11/2007] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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