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[art_1] Brasilien: Zwischen Kunst und Schmiererei
Grafitti in São Paulo

Was ist Kunst und welche Art von Kunst ist erlaubt? Darf sie von den Regierenden bewertet und eventuell sogar verboten werden?

Es war der große Clou für Buergermeister Gilberto Kassab. Vor etwas mehr als einem Jahr verabschiedete das Stadtparlament in São Paulo die Verordnung der Cidade Limpa, der sauberen Stadt. Innerhalb weniger Monate verwandelte sich die einst visuell vollkommen verschmutzte und verstopfte Stadt in eine werbefreie Zone. Keine Outdoors, keine überdimensionalen Schriftzüge und Fotos mehr.


Jetzt erobern Grafittis die freigewordenen Häuserflächen. Für die Spraykünstler ist São Paulo zu einem Paradies geworden - solange man Kunst produziert, die der Stadtverwaltung gefällt. Und keine Pichação, eine Bezeichnung, die für die unerwünschten Grafittis steht. Schmierereien halt.

Anfang der 90er Jahre geriet der Sprayer Eduardo Kobra des Öfteren in Konflikt mit der Polizei, die ihn zweimal wegen seiner hip-hop Grafittis festnahm. Danach sprühte er für Skate- und Surggeschäfte, wechselte von der einfachen Spraydose zum Airbrush und begann, sein Geld mit gesprühter Werbung zu verdienen.

"Mit der Einführung der Verordnung der Cidade Limpa haben es einige Geschäftsinhaber mit der Angst bekommen und auf Grafitti-Werbung verzichtet. Sie waren verunsichert, was noch erlaubt war und was nicht. Andere besser Informierte haben erkannt, dass man nur die bisherige Werbung abnehmen und durch eine richtig coole Sache mit Illustrationen ersetzen brauchte. Eine Art indirekter Werbung halt, die die Stadtverwaltung als Kunstwerk anerkennt."


Doch die Stadtverwaltung ist wählerisch. Denn gleichzeitig überpinseln die Angestellten der Stadtreinigung all das, was nach der Meinung der Regierenden zu anstößig ist. Dabei werden dann auch schon mal Kunstwerke von international erfolgreichen Sprayern wie "Os Gêmeos", einem Sprayerbruderpaar aus São Paulo, "gelöscht" - während die beiden ihre Kunst in anderen Städten der Welt präsentieren.

Eduardo hat mittlerweile von der Stadtverwaltung den Auftrag bekommen, Teile der Minhocão-Überführung und die Mauern des Consolação-Friedhofs mit seinen Bildern des alten São Paulo zu verzieren. Die Stadtverwaltung akzeptiert und fördert seine Postkartenmotive des São Paulo der Jahre 1910 und 1920, die überall in der Stadt auftauchen.

Doch kann und darf es die Aufgabe und das Recht der Stadtverwaltung sein, zu definieren, was Kunst ist und was nicht?


Der brasilianische Künstler Washington Arléo hält den Eingriff der Regierenden in die Frage, was Kunst und was Schmiererei ist, für fragwürdig.

"Grafitti ist eine Reaktion der Jugend. Allerdings wird sie zu einer dominierten Kunst, wenn das Kapital und die Dirigenten der sozialen Strukturen anfangen, die wahren und puren Gefühläußerungen zu organisieren. Die Pichação ist immer unorganisiert, unverfroren, politisch aktiv und extrem verantwortlich innerhalb der marginalisierten Strukturen einer Gesellschaft. Denn wenn man sieht, dass Jugendliche 10 oder 15 Meter an den Hauswänden hochklettern, um ihre Erkennungsmarken zu hinterlassen, wollen sie damit sagen: ich existiere, ich habe das Recht etwas zu sagen, und ich kann es tun. Respektiert mich."


Ob Bürgermeister Kassab nach erfolgreicher Schlacht gegen die offizielle Werbebranche jetzt auch den Kampf gegen die Pichação gewinnen kann, bleibt fraglich. Über Nacht tauchen neue Grafittis dort auf, wo die Pinsel der Stadtverwaltung am Nachmittag zuvor für weiße Wände gesorgt haben.

So einfach scheint man es Herrn Kassab und seiner Verordnung der Sauberen Stadt in São Paulo, dann doch nicht machen zu wollen.

Text + Fotos: Thomas Milz

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