caiman.de 10/2014

[kol_1] Helden Brasiliens: Brasilien am Scheideweg
Kommt Marina oder bleibt Dilma?

Der Oktober wird ein richtungweisender Monat für Brasilien. Am 5. Oktober stellt sich die bisherige Staatspräsidentin Dilma Rousseff zur Wiederwahl. Doch die Herausforderin Marina Silva ist ihr in den letzten Monaten bedrohlich nahe gekommen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen bahnt sich an.

Marina Silva war einst Umweltministerin unter Dilmas Vorgänger Lula da Silva. Doch mit Dilma hat sie sich damals schon nicht gut verstanden. Je mehr Macht Lulas rechte Hand in der Regierung auf sich zog, desto größer wurden die Meinungsverschiedenheiten mit Marina Silva.

Schließlich warf Marina Silva das Handtuch, verabschiedete sich aus Lulas Regierung und der Arbeiterpartei PT, der sie seit den 80er Jahren angehörte. Bei den Wahlen 2010 kandidierte sie für die Grüne Partei PV, mit der sie auf Anhieb 20% der Stimmen gewann. Doch auch sie konnte nicht verhindern, dass Lulas Wunschkandidatin Dilma zur Präsidentin gekürt wurde.

In den letzten Jahren widmete sich Marina Silva der Gründung ihrer eigenen Partei REDE, dem "Netzwerk Nachhaltigkeit". Die Welt und Brasilien im Besonderen seien bereit für einen neuen Entwicklungsschritt hin zu mehr Nachhaltigkeit und einem vernünftigen Umgang mit der Natur.

Doch der "Rede" wurde die Zulassung zu den Wahlen 2014 verweigert, die Behörden sprachen von Formfehlern. Kurz entschlossen trat Marina Silva als Vize-Kandidatin an der Seite des eher unbekannten Eduardo Campos an. Dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz im August katapultierte sie jedoch in den Spitzenkandidatensessel.

Nachdem erste Umfragen sie plötzlich sogar vor Dilma Rousseff sahen, sorgte eine breit angelegte Schlammkampagne gegen Silva dafür, dass sie in Umfragen mehr als 10% verlor. Doch sollte im ersten Wahlgang niemand über 50% erlangen, und danach sieht es aus, kämen die beiden Damen in die Stichwahl am 26. Oktober. Und das würde Marinas Chancen beträchtlich verbessern.

Marina Silva will der dritte Weg sein, weg vom Grabenkampf zwischen der Arbeiterpartei PT und der stärksten Oppositionskraft, der PSDB. Von beiden will sie die "guten Programmpunkte" übernehmen, mit Politikern beider Lager auch zusammen arbeiten. Schluss müsse sein mit dem alten Links-Rechts-Denken, so Silva, Brasilien müsse endlich im 21. Jahrhundert ankommen.

Damit greift sie das Anliegen der Protestbewegung des letzten Sommers auf. Millionen Brasilianer sprachen sich für einen Neuanfang in Brasiliens Politik aus, auf die alten und verbrauchten Kräfte wollten sie nicht mehr setzen. "Der Gigant sei endlich erwacht", riefen sie. Doch die Massenbewegung von damals ist längst Geschichte, Proteste gibt es keine mehr. Trotz zuletzt schlechter Wirtschaftsdaten.


Dilma Rousseffs PT wirkt ideenlos, ausgelaugt nach 12 Jahren an der Macht. Es wäre wohl gut, wenn mal jemand anders dran käme, und zwar jemand, der nicht tief im verfilzten Parteiensumpf feststeckt. Ob die Mehrheit der Brasilianer das genau so sieht, wird der Oktober zeigen. Erwacht der Gigant ein weiteres Mal?

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]