ed 10/2013 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Elfte Etappe: Die Kathedrale mit Hühnerstall
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Es waren viele Pferde
Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato
THOMAS MILZ
[art. 2]
argentinien: Charly im Wunderland
Die letzte argentinische Diktatur in den Liedern von Charly García
LARS BORCHERT
[art. 3]
macht laune: Aztekischer Abgang über Colonia
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
pancho: Hähnchenfilet in Mirabellensoße – ein sommerliches Herbstgericht
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 2]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 14)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 3]
lauschrausch: Tupi or not Tupi
"Brasilien hören" aus dem Silberfuchs Verlag
TORSTEN EßER
[kol. 4]
grenzfall: Buenos Aires - Zum Dienstschluss ein Taxi
ANDREAS DAUERER
[kol. 5]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Elfte Etappe: Die Kathedrale mit Hühnerstall
 
Montag, 27. August 2012.Am nächsten Tag geht es weiter durch die Weinfelder der Rioja, in der Morgensonne wandern wir durch eine sanft hügelige Landschaft mit kleinen Wäldchen, umschwirrt von unzähligen Schmetterlingen.



Nur das letzte Stück des Weges ist mühsam, mit der Mittagshitze verdrängen Fliegenschwärme die Schmetterlinge und attackieren uns während des langen Abstiegs nach Santo Domingo de la Calzada. Hier kommen wir an der ältesten Pilgerherberge des ganzen Jakobsweges vorbei. Der Hauptgrund, in diesem Ort zu verweilen, ist aber einer der größten Kunstschätze des Camino. Die Dorf-Kathedrale von Santo Domingo de la Calzada übertrifft die Klosterkirche von Nájera, obwohl sie von außen – bis auf den schönen barocken Glockenturm – zunächst enttäuschend wirkt. Die Renaissance-Fassade will nicht zum romanisch-gotischen Rest des Bauwerks passen. Aber innen kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.



Die vier Etagen hohe, großzügig vergoldete Altarwand ist das Werk des genialen Renaissance-Bildhauers Damian Forment (1480 – 1540) aus Valencia, der außerhalb von Spanien weitgehend unbekannt ist. Ein halbes Leben lang dürfte der Künstler an diesem Universum, das von tausenden Figuren bevölkert wird, gearbeitet haben, bevor er – das gigantische Opus fast vollendet – an Weihnachten 1540 mit dem Meißel in der Hand starb.



Dieser Hochaltar übertrifft zwar nicht an Größe, aber vielleicht an künstlerischer Qualität die Hauptaltäre der drei größten spanischen Kathedralen (Sevilla, Toledo, Burgos). Hier ist jede Skulptur ein Meisterwerk, umrankt von phantasievollen Fabelwesen. Besonders beeindruckend in ihrer dynamischen Lebendigkeit sind die Figuren des heiligen Evangelisten Johannes mit dem Adler zu seinen Füßen und der heilige Sebastian.



Dass die Kathedralen von Burgos oder León zu den schönsten der Welt gehören, weiß man vorher, aber vor diesem golden strahlenden Geniestreich in einer unbekannten Dorf-Kathedrale steht man – wie jetzt Cayetana – überrascht mit offenem Mund und könnte stundenlang davor verweilen, immer neue Details sind zu entdecken.



Und diese Kirche hat noch mehr erstrangige Kunstwerke zu bieten: gotische Hochaltäre mit wunderbar gemalten Passionsgeschichten, eine elegante Verkündigungsszene mit dem Engel Gabriel und der Jungfrau Maria aus Alabaster, hoch oben rätselhafte Fratzen an den Säulenkapitellen und unter den Sterngewölben der Vierungskuppel der kleine gotische Tempel von 1513, unter dem sich das Grabmal des heiligen Domingo (1019 – 1109) befindet.



Dieser hünenhafte Heilige wollte unbedingt in ein Kloster eintreten, wurde aber zweimal abgewiesen, weil er nicht lesen konnte. Beleidigt wurde er zu einem Einsiedler, der in Wäldern lebte. Er war also kein großer Intellektueller, doch er wurde zu einem heiligen Herkules, der seine immense Körperkraft in den Dienst des Camino stellte. Er baute eine Brücke, rodete allein halbe Wälder, um den mittelalterlichen Pilgern einen Weg durch die Montes de Oca zu bahnen, und er zerquetschte angeblich wilde Stiere mit purer Muskelkraft.



"Sehr sympathisch, dieser Heilige", resümiert anerkennend meine andalusische Begleiterin, nachdem sie sich alle Legenden über ihn angehört hat. An das berühmteste Wunder, das dem heiligen Domingo zugeschrieben wird, erinnert eine weltweit einmalige Einrichtung: ein Hühnerstall mitten in der Kirche! Im 14. Jahrhundert kam eine deutsche Pilgerfamilie nach Santo Domingo und die Tochter des spanischen Herbergsvaters verliebte sich in den Sohn der Deutschen. Da dieser ihre Liebe nicht erwiderte, versteckte sie aus Rache einen goldenen Becher in seinem Gepäck, um ihn als Dieb anzuklagen. Er wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Legende erzählt, dass Domingo aus seinem Grab stieg und den unschuldig Verurteilten am Galgen stützte, so dass er am Leben blieb. Als die Leute dies aufgeregt dem Richter mitteilten, der ihn verurteilt hatte, meinte dieser nur, verärgert über die Störung seines Mittagsmahls: "Der Junge wird so lebendig sein wie das gebratene Huhn hier auf meinem Teller!" Da erhob sich das Brathuhn und flog durchs Fenster und der junge Pilger wurde nach diesem Gottesurteil begnadigt und durfte nach Santiago ziehen. So erklärt sich das spanische Sprichwort:

"In Santo Domingo war es Gottes Willen, dass die Henne noch krähte nach dem Grillen."



Seit 600 Jahren befindet sich der gotische Hühnerkäfig mit einem Hahn und einer Henne in der Kathedrale. Deutsche Tierschützer können unbesorgt sein. Die Federviecher müssen nicht ihr ganzes Leben eingesperrt an diesem heiligen Ort verbringen, sondern werden jeden Monat durch eine "Ablösung" ausgetauscht, damit jedes Huhn des Ortes mal in den Genuss der Heiligkeit kommt. Man sagt, es bringt einem Pilger Glück, wenn der Hahn kräht, während man die Kathedrale besichtigt. In unserem Fall blieb er leider stumm. "Blödes Vieh", urteilt Cayetana und wirft dem Hühnerkäfig noch einen bösen Blick zu, als wir das Gotteshaus verlassen.

Bevor wir den heutigen Endspurt durch die Gluthitze der Siesta antreten, müssen wir noch unsere Rucksäcke abholen, die wir während der Besichtigung in der Obhut von zwei entzückenden Omas gelassen haben. Zum Abschied singt die eine uns ein altes Lied über einen Pilger, der sich auf dem Camino verliebt. Die andere will mich mit zwei (!) hübschen Holländerinnen verkuppeln, die auch ihre Rucksäcke abholen. Wir schenken den beiden alten Damen ein paar Madonnenbildchen aus Sevilla. Die ältere lächelt selig beim Anblick der Macarena und meint dann aber, das wäre ja die Madonna in Sevilla, die blutige Tränen weint und bei der letzten Prozession hätte das Publikum zwei Stäbe ihres Baldachins zerbrochen, so dass das Dach über ihr eingestürzt sei. Ich glaube da wirft unsere Rucksack-Hüterin einiges durcheinander (vielleicht hat sie zu oft "Ben Hur" gesehen). Aber eine Prozession ist kein Wagenrennen und meines Wissens ist in 400 Jahren niemals der Baldachin der Macarena eingestürzt. Es wird ein wortreicher Abschied, bei dem man uns viele Enkel wünscht.

Kurz hinter Santo Domingo überholen wir zwei ältere Frauen mit großen Rucksäcken. Eine der beiden sagt etwas auf Italienisch, lächelt mich auffordernd an, als sei sie hier auf einer Cocktail-Party für Singles statt auf einem abgeernteten Weizenfeld. Wir gehen schnell vorbei. Nach einem anstrengenden Marsch durch eine öde Ebene erreichen wir Grañón, wo uns eine besonders heilige Herberge erwartet – sie befindet sich in der Dorfkirche. Die obere Etage im Turm ist schon voll, so dass wir unsere Schlafsäcke in der rechten Seitenkapelle ausbreiten dürfen.



Hier gibt es (ähnlich wie bei unserer "Apostelgemeinschaft" in Arrés – siehe Caiman-Ausgabe 2/2013) ein gemeinsames Abendmahl für alle anwesenden Pilger. Dabei kommt die betagte, aber temperamentvolle Italienerin zufällig genau neben mir zum Sitzen. Überfallartig verwickelt sie mich in ein Gespräch. Ich komme kaum zum Essen. Ich weiß nicht, ob sie meine knappen Antworten auf Spanisch versteht (ich hatte ihr erklärt, dass ich kein Italienisch verstehe). Das scheint sie überhaupt nicht zu beeindrucken, ein Wasserfall von Worten in leidenschaftlichem Italienisch ergießt sich mit Ferrari-Geschwindigkeit über mich. Ihr Lächeln war schon auf dem verdorrten Weizenfeld erschreckend eindeutig, dem lässt sie nun Taten folgen. Sie streichelt plötzlich meinen Bizeps, kurz danach zwickt sie mich in die Hüfte, begleitet von einem unverständlichen Wortschwall, dann tätschelt sie meinen Nacken. Man liest ja ab und zu etwas über sexuelle Belästigung von Frauen durch Männer auf dem Camino – wie man sieht, gibt es auch den umgekehrten Fall. Ich bin ja nun wirklich nicht prüde (wer mich kennt wird dies entschieden bestätigen), aber das ist jetzt zu viel. Denn erstens hasse ich es, beim Essen gestört zu werden, und zweitens gehört eine 20 Jahre ältere Dame nicht zu den Verlockungen, die mein Keuschheitsgelübde ernsthaft gefährden könnte. Sanft aber entschieden führe ich also ihre Hand von meinem Nacken zurück zu ihrer Gabel. Cayetana, die diese Szene mit wachsender Belustigung beobachtet hatte, prustet nun einen Schluck Wein über den halben Tisch.



Nach dem Abendmahl ist gottlob Spiritualität angesagt. Zuerst zelebriert der charismatische Priester von Grañón eine der schönsten Pilgermessen, die wir auf dem ganzen Camino erleben durften. Im Anschluss lädt er alle ein zur Gruppen-Meditation im Hochchor der wunderschönen Dorfkirche. Wir sitzen im Kreis im Dämmerdunkel. Die einzigen Lichtquellen sind der ferne Goldglanz des Hochaltars und eine Kerze, die von Hand zu Hand weiter gereicht wird in unserer Runde. Jeder kann spontan sagen, was er oder sie auf dem Camino zu finden hofft oder ein Schlüsselerlebnis schildern, das man auf einer Etappe des Weges schon im Schatz der Erinnerungen abgespeichert hat.

Ich versuche, den sehr emotionalen Moment in der Kapelle von Eunate (siehe Caiman 5/2013) in Worte zu fassen. Eine französische Pilgerin singt mit bezaubernder Stimme ein Taizé-Lied ("Dans les obscurités…" ). Und Cayetana – sie beginnt ihren Wortbeitrag fast flüsternd, aber steigert sich zu einem lauten Appell: "Wieso kann Kirche nicht immer so sein wie hier und heute? Einfach und herzlich statt pompös und bürokratisch, wieso nicht alle zusammen statt einer von oben, von der Kanzel herab? Wieso spielen Kardinäle noch immer gern Inquisition und klagen an, statt wie Jesus zu handeln, der mit Liebe alle umarmt hat?" Zur Bekräftigung ihrer kurzen aber heftigen Predigt umarmt sie stürmisch den jungen Engländer neben sich, der leicht erschreckt wirkt. Sie erklärt ihm, dass ihre Umarmung "mystisch" gemeint sei.

In der Nacht träumt Cayetana in der Kapelle von Grañón, sie sei Maria Magdalena und ginge mit einem Kerzenlicht durch die Finsternis einer nächtlichen Wüste. Sie muss einen hohen Berg erklettern. Auf dem Gipfel steht ein steinernes Tor, davor sitzt auf einem Thron im Purpurmantel der heilige Petrus und will ihr den Eintritt verwehren. "Du hast mir gar nichts zu sagen, denn ICH trage das Licht!", spricht Maria Magdalena Cayetana und schreitet mitten durch das Tor.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Nájera über Santo Domingo nach Grañón: knapp 28 Kilometer

Unterkunft in Santo Domingo de la Calzada: Kirchliche Herberge der "Cofradía del Santo", Calle Mayor 42, Tel. 941-343390: älteste Traditionsherberge in prachtvollem, saniertem Palastbau, mit Küche, Internet, Übernachtung: Spende

Verpflegung in Santo Domingo de la Calzada:
Empfehlenswert: Restaurant "Mesón Los Arcos", Calle Mayor 68, Tel. 941-342890
Gediegenes Restaurant mit gutem Pilgermenü (12 Euro) und hervorragendem Hauswein (Señorío de Uñuela)

http://www.lacalzada.com/#
http://www.santodomingodelacalzada.org/contenidos.php?sec=2

Unterkunft in Grañón: Kirchliche Pilgerherberge in der Kirche San Juan Bautista, in den Turmetagen und Seitenkapellen der Kirche, Küche, gemeinsames Abendessen und gemeinsame Meditation nach der Pilgermesse, schöne Atmosphäre, Spendenbasis, das Engagement der Freiwilligen, die hier Dienst tun, ist bewundernswert.

Verpflegung in Grañón: in der Bar "Teo" schräg gegenüber der Kirche, wo man auch den Stempel von Grañón erhält.

Kirchen:
http://es.wikipedia.org/wiki/Catedral_de_Santo_Domingo_de_la_Calzada
www.catedraldomingo.es


Kathedrale Santo Domingo de la Calzada: Geöffnet Mo. – Sa. 9.30 – 13.00 und 16.00 – 18.00 Uhr, So. ähnlich, aber je vor- und nachmittags ca. 1 Stunde wg. Messen nicht für Besichtigung zugänglich, ermäßigter Eintritt für Pilger: 2,50 Euro. Email: catedraldomingo@terra.es

Kirche San Juan Bautista in Grañón: Garantiert geöffnet nur zur täglichen Abendmesse ca. 19.00 – 21.00 Uhr

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]




[art_2] Brasilien: Es waren viele Pferde
Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato
 
"Dass ich überhaupt Schriftsteller geworden bin, ist letztlich ein Wunder." Luiz Ruffato schaut aus dem Fenster seiner Wohnung in São Paulo hinaus auf das graue Meer aus Häusern, Beton und einen Regen verhangenen Himmel. Seine Mutter sei Analphabetin gewesen, die im Interior von Minas Gerais als Wäscherin die Familie über Wasser hielt. Der Vater, ebenfalls im stetigen Kampf mit dem geschriebenen Wort, verkaufte Popcorn auf der Straße.

Sein Weg durch Brasiliens Gesellschaft sei eigentlich vorgezeichnet gewesen, realistisch "maximal Hilfsarbeiter". Doch neben seinem Schlosserjob in einer Fabrik strebte Luiz seinem Traum an, Journalist zu werden. Was ihm schließlich gelang.

"Irgendwann merkte ich dann, dass es mir liegt, Geschichten meiner Kindheit und meines frühen Arbeitslebens aufzuschreiben, in Literatur zu verwandeln." Das Ergebnis waren zwei erste Erzählbände, Histórias de remorsos e rancores (1998) und Os sobreviventes (2000).

Der Rest sei eigentlich Glück gewesen, meint er heute. 2001 erschien der experimentelle Roman Eles eram muitos cavalos, den Brasiliens Kritiker begeistert aufnahmen. Mit "James Joyce im Kopf", wie ein Kritiker später schreiben sollte, schildert Luiz hierin einen Tag im Leben von 69 Bewohnern der Megastadt São Paulo. Ein Mosaik von Momentaufnahmen mit dem der Schriftsteller der Unfassbarkeit der gigantischen Stadt an den Kragen geht.

"Ab 2003 machte das Buch plötzlich wie von selbst international Karriere," grinst Luiz. Mittlerweile ist es in mehrere Sprachen übersetzt, die deutsche Ausgabe Es waren viele Pferde erschien 2012 beim Hamburger "Assoziation A" Verlag. "Eigentlich ist es seltsam, wenn man bedenkt, dass es sich um ein schwieriges Buch handelt, um ein sehr unkonventionelles Werk."

Luiz hing den Journalismus an den Nagel und kümmerte sich fortan ganz um seine Schreiberei. Im Durchschnitt veröffentlicht er seitdem ein Buch pro Jahr; viel Zeit für andere Dinge bleibt da sowieso nicht.

Luiz ist ein Erfolgsfall der zeitgenössischen Literatur seines Landes. In Brasilien wird gerade die 11. Auflage von Es waren viele Pferde vorbereitet, ungewöhnlich für einen Gegenwartsautor in dem südamerikanischen Land. Auch in Deutschland war die Erstausgabe ziemlich schnell vergriffen.

Es waren viele Pferde
Luiz Ruffato
Gebundene Ausgabe: 158 Seiten
Assoziation A; Auflage: 1 (Oktober 2012)
ISBN-10: 3862414205
ISBN-13: 978-3862414208

Leben kann Luiz von seiner Schriftstellerei trotzdem nicht – wie eigentlich alle brasilianischen Autoren mit Ausnahme von Paulo Coelho. "Ich habe viele Aktivitäten rund um das Schreiben entwickelt, mit denen ich mein täglich Brot verdiene." Dazu gehörten Vorträge, Workshops und Jurytätigkeiten bei Literaturfestivals.

Gemeinsam mit rund 70 schreibenden Kollegen wird Luiz Mitte Oktober auf der Frankfurter Buchmesse präsent sein, wo Brasilien als diesjähriges Gastland besondere Aufmerksamkeit erregen wird.

Er selber hat auch einen triftigen Grund vor Ort zu sein. Soeben ist bei "Assoziation A" sein Buch Mama, es geht mir gut erschienen. Das Buch ist das erste einer fünfteiligen Reihe mit dem portugiesischen Titel Inferno provisório (Vorläufige Hölle). Zwischen 2005 und 2011 veröffentlichte Luiz die die letzten 100 Jahre umspannenden Geschichten über Brasiliens Arbeiter. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Reihe nun auch in ihrer Gänze in Deutschland erscheinen wird.

Mama, es geht mir gut
Luiz Ruffato
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Assoziation A; Auflage: 1 (Juli 2013)
ISBN-10: 3862414213
ISBN-13: 978-3862414215

Wer Luiz Ruffato auf seiner rund einmonatigen Lesereise durch deutschsprachige Lande sehen will, dem bieten sich reichlich Gelegenheiten. Man sollte sie nicht verpassen!

04.10. Köln, Literaturhaus Köln mit DLF & DLR-Kultur, 19:30 Uhr
07.10. Frankfurt, Union International Club, 19:00 Uhr, Anmeldung erforderlich
08.10. Frankfurt Buchmesse – Eröffnungsrede
09.10. Frankfurt Buchmesse - Blaues Sofa, Übergang Halle 5.1 zu Halle 6.1, 11:30 Uhr
10.10. Frankfurt Buchmesse – Leseinsel, Halle 4.1., 14-16 Uhr
10.10. Frankfurt Buchmesse – Halle 5.0, Weltempfang mit Ilija Trojanow, 16:30 Uhr
11.10. Frankfurt, Literaturbahnhof, 16-17 Uhr
11.10. Hofheim, Kulturverein, 20 Uhr
12.10. Frankfurt Buchmesse, LitCam, 11 Uhr, Fußball-Buch
14.10. Mainz, Itaú Cultural
15.10. Bad Berleburg, Berleburger Literaturpflaster, 20 Uhr
17.10. Wien, Itaú Cultural
18.10. München, Literaturhaus München, 20:00 Uhr
20.10. Zofingen - Schweiz, OX. Kultur im Ochsen, 11:15 Uhr, Historie als Kulisse
20.10. Zofingen, OX. Kultur im Ochsen, 14:15 Uhr, Von der Härte des Lebens
21.10. Freiburg, Literaturbüro mit Radio Dreyeckland & Jos Fritz Buchladen, 20:00 Uhr
22.10. Wuppertal, Literaturhaus NRW, 19:30 Uhr
23.10. Düsseldorf, Literaturbüro NRW, 19:30 Uhr
25.10. Berlin, Buchladen Schwarze Risse, 20 Uhr
27.10. Hamburg, Golem, 20 Uhr
29.10. Leipzig, GRASSI, Museum für Völkerkunde, 19 Uhr
30.10. – 2.11. Frankfurt, Romanfabrik

Text: Thomas Milz
Fotos: amazon

Weitere Links zu Luiz Ruffato:
"Es waren viele Pferde" bei Perlentaucher

"Mama, es geht mir gut" beim Assoziation A Verlag

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Argentinien: Charly im Wunderland
Die letzte argentinische Diktatur in den Liedern von Charly García
 
Der Terrorismus auf dieser Welt – egal wie und wo – ist immer grauenvoll. Er lähmt die Menschen, und er zerstört ihre Hoffnungen. Ob eine Bombe in einem Café explodiert, ein Gebäude in die Luft fliegt oder Menschen entführt werden. Gewöhnlicher Weise richten die Terroristen ihre Angriffe gegen die politische oder wirtschaftliche Elite. Aber es gab und gibt immer wieder Fälle, bei denen es umgekehrt ist: Am 24. März 1976 begann in Argentinien die Militärdiktatur mit dem Sturz der damals amtierenden Präsidentin Isabel Perón. Er leitete die Ära des sogenannten "Proceso de Reorganisación Nacional" (der Prozess der Nationalen Reorganisation) ein. In dieser Zeit (1976 – 1982) war es die Regierung, die Militärjunta der Triple-Alianza, die mittels staatlich organisierten Terrors die Bevölkerung beherrschte. In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unruhen durchbrach sie die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, mit dem offiziellen Ziel, die nationale Sicherheit wiederherzustellen.

Erst später stellte sich heraus, dass die Militärs 50.000.000 US-Dollar aus internationalen Krediten auf ihre privaten Konten transferiert hatten. Geld, das eigentlich dazu bestimmt war, die argentinische Wirtschaft zu sanieren und heute noch Bestandteil der Auslandsschulden des Landes darstellt.

Die Maßnahmen des Regimes waren die Entführung, die Folter und der Mord an 30.000 Argentiniern; darunter Ärzte, Studenten, Nonnen, Pfarrer, Priester und Bischöfe, Schriftsteller, Politiker, Richter, Landwirte und Guerilleros, sowie Arbeiter, Lehrer, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Babys und Kleinkinder. Eine scheinbar wahllose Kombination verschiedenster Berufsgruppen, Altersstufen und sozialer Schichten ohne erkennbare Logik. Denn die wenigsten der Verschleppten waren politisch aktiv. Im Umkehrschluß bedeutete dies, daß es jeden in der Bevölkerung treffen konnte.

Da die Entführungen meistens heimlich geschahen, entwickelte sich über sechs Jahre eine Atmosphäre, die gleichermaßen Ignoranz und Paranoia zwischen den Menschen schuf.

In dieser Zeit, in der der Staat die Medien einer starken Kontrolle und Zensur unterwarf, war an Kritik oder gar Widerstand nicht zu denken. Selbst der Besitz des "Kleinen Prinzen" von Antoine de Saint Exupèry reichte aus, um als Staatsfeind zu gelten.

Lediglich eine Handvoll Musiker, darunter Mercedes Sosa, thematisierte in ihren Liedern die Repression im Land. Und dies auch erst in den letzten Jahren der Diktatur (1980-82). Sosa ließ sich lange Zeit nicht einschüchtern, doch nach der dritten Bombendrohung bei ihren Konzerten ging auch sie ins Exil und kehrte erst nach dem Ende des Regimes zurück. León Gieco, der sich bereits in den frühen Siebzigern einen Namen als argentinischer Rock-and-Roll-Musiker gemacht hatte, musste einige Jahre im Süden Argentiniens untertauchen. Die Generäle hatten ihm zu verstehen gegeben, dass seine Stimme zu kritisch und zu bedeutsam unter den Argentiniern geworden war. Allen voran aber war es Charly García, der in seinen Liedern die traumatische Situation seines Landes beschrieb.

Hervorzuheben ist das Lied "Canción de Alicia en el País". García hat dieses Lied an die Novelle von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" angelehnt und mit zweideutiger Metaphorik gearbeitet, um so der staatlichen Repression zu entgehen.

Canción de Alicia en el país

Quién sabe, Alicia, este país
no estuvo hecho porque sí.
Te vas a ir, vas a salir,
pero te quedás.
?Dónde mas vas a ir?
Es que aquí ?sabes?
el trabalenguas traba lenguas,
el asesino te asesina
y es mucho para tí.
Se acabó ese juego que te hacía feliz...

No cuentes lo que viste en los jardínes,
el sueño acabó;
ya no hay morsas ni tortugas.
Un rio de cabezas aplastadas por el mismo pie
juegan cricket bajo la luna.

"Estamos en la tierra de nadie,
pero es mía.
Los inocentes son los culpables,"
dice su señoría el Rey de Espadas.

No cuentes que hay detrás de aquel espejo;
no tendrás poder,
ni abogados ni testigos.
Enciende los candiles que los brujos
piensan en volver
a nublarnos el camino.
Estamos en la tierra de todos
en la mira.
Sobre el pasado y sobre el futuro
ruina sobre ruina,
querida Alicia.
Das Lied von Alice in dem Land

Wer weiß schon, Alicia, dieses Land
Ist nicht umsonst so geworden.
Du wirst gehen, wirst es verlassen,
aber du bleibst.
Wo willst Du noch hingehen?
Es ist ja so, weißt Du, dass hier
der Zungenbrecher Zungen bricht,
und der Mörder mordet.
Das ist viel für Dich.
Das Spiel ist aus, dass Dich sonst so glücklich machte...

Rede nicht darüber, was Du in den Parks gesehen hast,
der Traum ist aus;
es gibt keine Walrösser und keine Schildkröten mehr.
Ein Fluß mit zertrümmerten Köpfen, zertrümmert durch denselben Fuß, sie spielen Cricket im Mondlicht.

"Wir befinden uns im Niemandsland,
aber es gehört mir.
Die Unschuldigen sind die Schuldigen,"
Sagt seine Hoheit, der Pikkönig.

Rede nicht darüber, was sich hinter jenem Spiegel befindet;
denn Dir wird die Macht fehlen,
und die Anwälte und die Zeugen.
Zünde die Laternen an, mit denen die Hexer
uns den Weg vernebeln wollen.
Wir befinden uns im Land, das allen gehört
in der Betrachtung.
Über die Vergangenheit und über die Zukunft
Ruinen über Ruinen,
liebe Alicia.

In Carrolls Roman ist der von García benutzte Zungenbrecher eine Figur, die Alice viel Vergnügen bereitet und sie zum Lachen bringt. Der argentinische Sänger dagegen benutzt ihn, um auf die Foltermethoden des Regimes hinzuweisen: Sehr häufig wurden die Verschleppten mit Elektroschocks mißhandelt, die man ihnen neben den Geschlechtsteilen auch am oder im Mund anbrachte.

Die zweite Strophe leitet García mit der Warnung ein, nicht offen über die Situation des Landes zu sprechen. Der Traum ist aus: es gibt keine "tortugas", keine Schildkröten, und keine Walrösser mehr. Mit diesen beiden Tieren bezieht sich der Liedermacher auf den Präsidenten Illía Er regierte nach dem Sturz von Juan Domingo Perón, und seine Amtszeit zeichnete sich durch eine für Argentinien bemerkenswerte politische und wirtschaftliche Stabilität aus.

Im starken Kontrast dazu schildert der Sänger wiederum die Realität, indem er das Bild des Flusses mit den zertrümmerten Köpfen benutzt. Eine deutliche Anspielung auf die Grausamkeiten der Diktatur. Aber auch hier schwächt García das Bild ab durch die Karten-Figuren, die er, so wie in Carolls Novelle, in seinem Lied Cricket im Mondlicht spielen läßt. Bei ihnen handelt es sich ganz offensichtlich um die Generäle der Militärjunta.

"Die Unschuldigen sind die Schuldigen" – eine Umkehr der Werte wie sie Alice im Wunderland erlebt hat, genauso wie viele Argentinier und Argentinierinnen, die vollkommen schuldlos verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Dieser Grundsatz wurde von dem Rey de Espadas, dem Pikkönig, diktiert, der ebenfalls die Generäle der Triple-Alianza symbolisiert.

"Rede nicht darüber, was sich hinter jenem Spiegel befindet" reflektiert den Zustand des erzwungenen Schweigens und der Ohnmacht der Argentinier, die machtlos, ohne Anwälte und ohne Zeugen gewesen wären, hätten sie die Situation offen zur Sprache gebracht.

Charly García schließt dieses Lied mit einer Betrachtung, die die Resignation aus den Erfahrungen der letzten Jahre und den Pessimismus im Hinblick auf die Zukunft ausdrückt: "ruina sobre ruina, querida Alicia." Die argentinischen Künstler wurden von den Generälen der Militärjunta vorgeladen. Dies geschah zumeist in der scheinbar zwanglosen Atmosphäre eines gemeinsamen Frühstücks. Die Generäle befragten hierbei ihre "Gäste" einerseits zu deren persönlichen Ansichten über die allgemeine politische Situation. Andererseits nutzten sie die Gelegenheit, um die Gefahren anzudeuten, die ihnen widerfahren könnten, sollten sie ihre Stimmen zu laut gegen das Regime erheben.

1979 erhielt Charly García seine Einladung zu einem solchen Frühstück. Früh am Morgen hatte er sich in dem Büro von Arguindeguy, Innenminister der Junta, einzufinden. Aufgrund seiner Grausamkeit wurde dieser vom Volk hinter vorgehaltener Hand "diablo" genannt. In Anlehnung an diese Unterredung verfaßten der Sänger und seine Gruppe, Seru Giran, einige Zeit später ein Lied über seine "Begegnung mit dem Teufel":

Encuentro con el diablo

Nunca pensé encontrarme con el diablo
Tan vivo y sano como vos y yo,
tenía la risa que le dan los años,
y la confianza que le da el temor.

Nunca pensé encontrarme con el sabio,
que te analiza como una educación,
que espera una respuesta de mis labios
mientras estoy cantando está canción.

Yo sólo soy un pedazo de tierra,
no me confunda señor, por favor.

Nunca pensé encontrarme con el jefe,
en su oficina de tan buen humor,
pidiendome que diga lo pienso,
que pienso yo de nuestra situación.

Yo sólo soy un pedazo de tierra,
no me confunda señor, por favor.
Yo sólo soy uno mas en la tierra,
yo sólo soy uno mas bajo el sol.

!Qué tensión que hay en el ambiente!
!Cuantos pensarían como yo!
Si las papas están calientes,
?Por que ser yo
que dé el primer mordiscón?

Nunca pensé encontrarme con el diablo
tan vivo y sano como vos y yo,
pidiendome que diga lo que pienso,
que pienso yo de nuestra situación,
esto es lo que pienso nena:

Yo sólo soy un pedazo de tierra,
no me confunda señor, por favor.
Yo sólo soy uno mas en la tierra,
yo sólo soy uno mas bajo el sol.
Begegnung mit dem Teufel

Niemals hätte ich erwartet, je dem Teufel zu begegnen,
so gesund und lebendig wie Du und ich.
Er hatte das Lachen, das einem die Jahre verleihen
und das Selbstbewußtsein, das ihm die Furcht verleiht.

Niemals hätte ich erwartet, dem Weisen zu begegnen,
der dich wie eine Ausbildung analysiert,
der eine Antwort aus meinem Mund erwartet,
während ich dieses Lied singe.

Ich bin doch nur ein Stück Erde,
verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mein Herr.

Niemals hätte ich erwartet, dem Chef persönlich zu begegnen, in seinem Büro mit so guter Laune.
Und dass er mich bittet, ich solle ihm sagen, was ich denke, was ich über unsere Situation denke.

Ich bin doch nur ein Stück Erde,
verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mein Herr.
Ich bin doch nur einer mehr in dieser Welt,
nur einer mehr unter der Sonne.

Was für eine spannungsgeladene Stimmung!
Wie viele denken wohl wie ich!
Wenn die Kartoffeln heiß sind,
warum muss ich derjenige sein,
der zuerst zubeißt.

Ich hätte niemals erwartet, dem Teufel zu begegnen,
so lebendig und gesund wie Du und ich.
Der mich auffordert zu sagen, was ich denke,
was ich über unsere Situation denke.
Das ist es, was ich denke, Kleine:

Ich bin doch nur ein Stück Erde,
verstehen Sie mich bitte nicht falsch, mein Herr.
Ich bin doch nur einer mehr auf dieser Erde,
ich bin doch nur einer mehr unter der Sonne.

Normalerweise hat der Krieg für uns Menschen ähnliche Konsequenzen wie der Terrorismus, mit dem Unterschied, dass er omnipräsent ist. Im Fall Argentiniens war es jedoch etwas anders: 1981 ließ die Junta die unter britischer Herrschaft stehenden Falklandinseln (Islas Malvinas) besetzen. "Las Malvinas son nuestras" war der Schlachtruf, mit dem sie den Patriotismus anstachelten und einen Großteil der Bevölkerung auf ihre Seite bringen konnten. Darauf begann im März 1982 Krieg zwischen den beiden Ländern, der schon drei Monate später, im Juni, von Großbritannien gewonnen wurde.

Aber mit dem Ende des Falklandkriegs (oder der Guerra de las Malvinas) fand auch die Militärjunta ihr Ende. Der "Prozeß der Nationalen Reorganisation" hatte sich mit seinem internationalen Machstreben sein eigenes Grab geschaufelt. Die Generäle hatten nunmehr weder Rückhalt in der Bevölkerung noch in den Truppen, die zuvor immer loyal hinter ihnen gestanden hatten. Zudem hatten sie sich auf der internationalen Bühne blamiert. Kurze Zeit später dankten sie selbst ab.

Doch die Argentinier konnten sich nach dem jahrelangen Staatsterror nicht so einfach lösen von ihrer Paranoia und dem Zustand der Lähmung. Viele hatten es verlernt, sich in ihrem Land sicher zu fühlen. Es dauerte, bis sie sich auf ihre wiedergewonnene Freiheit einlassen konnten.

Schon zu Zeiten der Diktatur waren die, die es sich leisten konnten, nach Brasilien in den Urlaub gefahren, um sich frei bewegen zu können und nicht in ständiger Angst leben zu müssen. So kam es, dass auch nach dem Untergang des Regimes die brasilianische Lebensfreude von den Argentiniern mit Leichtigkeit und Freiheit assoziiert wurde, während diese Dinge sich in ihrem eigenen Land nicht einstellen wollten.

In "Yo no quiero volverme tan loco" forderte Charly García seine Landsleute dazu auf, ihre Ängste zu verlieren und das Leben wieder zu genießen. Mit der Thematisierung der nationalen Depression versuchte er die Lebensfreude wieder nach Argentinien zu bringen; seine Landsleute sollten erkennen, dass es sich hierbei nicht um eine ausschließlich brasilianische Form zu Leben handelte.

Yo no quiero volverme tan loco

Yo no quiero volverme tan loco,
yo no quiero vestirme de rojo,
yo no quiero morirme en el mundo hoy.
Yo no quiero ya verte tan triste,
yo no quiero saber loque hiciste.
Yo no quiero esta pena en el corazón.

Escucho el beat en el tambor
Entre la desolacíón de una radio
En una calle desierta.
Están las paredes cerradas
Y las ventanas también –
No será que nuestra gente está muerta?

Presiento el fin de un amor
En la era del color,
la televisión está en las vidrerías –
toda esta gente parada
que tiene grasa en la piel
no se entera ni que el mundo da vueltas.

Yo no quiero meterme en problemas,
yo no quiero asuntos que queman,
yo tan sólo les digo que es un bajón.
Yo no quiero sembrar la anarquía,
yo quiero vivir como digan,
tengo algo que late en mi corazón.

Escucho un tango y un rock
Y presiento que soy yo
Y quisiera ver al mundo de fiesta.
Veo tantas chicas castradas
Y tantos tantos que al fin
Yo no se si vivir tanto les cuesta.

Yo quiero ver muchos más
Delirantes por ahí,
bailando en una calle cualquiera;
en Buenos Aires se ve
que ya no hay tiempo de más,
la alegría no sólo es brasileña.

Yo no quiero vivir paranóico,
yo no quiero ver chicos con odio,
yo no quiero sentir esta depresión.
Voy buscando el placer de estar vivo,
no me importa si soy un bandido,
voy pateando basura en el callejón.
(Yo nunca quise estar loco...
yo creo que todo es una mentira).
Ich will nicht noch einmal so wahnsinnig werden

Ich will nicht noch einmal so wahnsinnig werden,
ich will mich nicht noch einmal in Rot kleiden,
ich will nicht in der Welt von heute sterben.
Ich will dich nicht schon wieder so traurig sehen,
ich will nicht wissen, was Du gemacht hast.
Ich will diesen Schmerz in meinem Herzen nicht.

Ich lausche dem Rhythmus der Trommel
In der Trostlosigkeit eines Radiosenders
in einer verlassenen Straße.
Die Wände sind verschlossen
Und die Fenster auch –
Kann es sein, dass unsere Leute tot sind?

Ich ahne den Tod einer Liebe voraus
in dem Zeitalter der Farben,
das Fernsehen ist in den Schaufenstern –
all diese Menschen im Stillstand,
die doch eigentlich der Hafer sticht,
sie wissen nicht einmal mehr,
dass sich die Welt noch dreht.

Ich will mich nicht in Schwierigkeiten bringen,
ich will keine Angelegenheiten, die brennen,
ich will nur sagen, dass dies der totale Abturner ist.
Ich will nicht die Anarchie säen,
ich will leben wie man es zuläßt,
ich habe etwas, das schlägt, in meinem Herzen.

Ich höre einen Tango und einen Rock-and-Roll,
und ich ahne, dass ich es bin,
und ich möchte die Welt feiern sehen.
Ich sehe so viele entmannte Frauen,
und so viele, die es immer noch
so viel Überwindung kostet zu leben.

Ich möchte so viel mehr Schwärmer sehen,
die in irgendeiner Straße tanzen.
In Buenos Aires sieht man,
dass keine Zeit mehr zu verschenken bleibt,
die Lebensfreude ist nicht nur brasilianisch.

Ich will ohne Paranoia leben,
ich will keinen Hass mehr sehen,
ich will diese Depression nicht mehr spüren.
Ich suche die simple Freude daran zu leben,
es ist mir egal wenn man mich Räuber nennt,
ich laufe durch die Gassen und kicke den Müll.
(Ich wollte niemals verrückt sein ...
ich glaube, daß alles eine Lüge ist).

Text: Lars Borchert

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]




[kol_1] Macht Laune: Aztekischer Abgang über Colonia
 
Als die kleine Cucaracha auf die Welt kam, hatte sie eine unbändige Lust auf Tacos al Pastor. Sie verschmähte Muttermilch und Flasche und verdrückte zur Nachspeise eine mit Kokosnuss-Creme gefüllte Ananas.

Eines Tages machte sich die kleine Cucaracha mit ihrem Papi auf in Richtung Colonia, der schönsten Stadt der Welt. Dort, wo alle Menschen schon bei der Einfahrt in den Bahnhof Denn wenn et Trömmelche jeht singen. Nahe bei Colonia lebten die Omi linda, el Opi gigante und die fürchterlich alte Mama Malinche. Cucaracha fand die alte Mama Malinche immer ein wenig merkwürdig. Sie lag viel im Bett oder saß in einem unglaublich großen Rollstuhl. Und wenn sie gut drauf war, plapperte sie in einem fort: Ga gagag gggaagaa aggagagaggaggag. Die kleine Cucaracha und Omi mussten dann immer lachen. Und Mama Malinche lachte mit: Ga gagagaga ga.

Die kleine Cucaracha fuhr nun schon seit ein paar Jahren nach Kölle mit Mami, Papi und ihren Schwestern und Cousinen. Zu Omi linda, dem Opi gigante und Mama Malinche. Nachdem sie den ganzen Nachmittag mit Mama Malinche auf der Terrasse verbracht hatten, erzählte ihr Papi, dass sie früher, als er noch klein war, in den Ferien immer zu Mama Malinche gefahren waren. Er und sein Bruder liebten Mama Malinche. Sie durften immer bei ihr im Bett schlafen. Und Mama Malinche kochte unheimlich gut. Und sie war top modern und fuhr den bis heute an Eleganz unerreichten Ford Diplomático mit Ledersitzen und eingebautem Kühlschrank voller Schokolade. Die beiden durften immer mitfahren. Denn wenn sie bei Mama Malinche waren, standen sie im Mittelpunkt und die Welt drehte sich um Mama Malinches Jungs. Mama Malinche erzählte dann von ihren Reisen. Am spannendsten waren die Erzählungen von den Pyramiden, den scharfen Speisen und dem Gott mit der grünen Maske. Letzterer, ein gewisser Quetzalcoatl, hatte es ihnen besonders angetan. Es gab einen Schrank in Mama Malinches Esszimmer, in dem sie jedes Mal unglaubliche Dinge fanden. Trommeln, Pfeifen aus Stein, bunte Federn und Jadeschmuck. Sie glaubten, dass all diese wertvollen Dinge Grabbeigaben des Quetzalcoatl waren. Und sie glaubten, dass Mama Malinche irgendetwas mit der vorhergesagten Rückkehr des Quetzalcoatl zu tun hatte.

Das letzte Mal als sie nach Colonia fuhren, sah Cucaracha Mama Malinche kaum noch. Mama Malinche schlief den ganzen Tag und das Bett machte komische Pfeifgeräusche. In der dritten Nacht bei Omi linda und dem Opi gigante hatte die kleine Cucaracha einen Traum. Sie war alleine aufgestanden und hatte sich in Mama Malinches Zimmer geschlichen. Mama Malinche war wach und sagte statt ga ga ga ganz klar und deutlich: wie schön dich zu sehen. Cucaracha nahm Mama Malinche an die Hand und öffnete das Fenster, dann flogen sie zusammen los. Immer höher schraubten sie sich in den Himmel, schlugen Purzelbäume und Räder, drehten Pirouetten und lachten. Sie sprangen von Wolke zu Wolke und sangen.

Ohne dass sie es merkten, waren sie nach Mexiko geschwebt. Von oben sahen sie die schlafenden Sombreros, streiften im Flug die Spitzen der Sonnen-Pyramide Teotihuacáns und dann hörten sie Musik. Musik, die Mama Malinche früher, als sie noch jung war, immer so gern gehört hatte. Sie sahen die Menschen, die ihnen zuwinkten und hörten ihr Rufen nach Quetzalcoatl. Dann drehte sich Mama Malinche um, schaute der kleinen Cucaracha lachend in die Augen und entschwand zu der Gottheit mit der grünen Jademaske und den Ihren im Valle de los Muertos – im Tal der Toten.

Am nächsten Morgen erwachte die kleine Cucaracha mit einem unbändigen Hunger auf Enchiladas. Sie verschmähte Haferflocken und Müsli und verdrückte eine Sopa de Lima und einen verheißungsvollen Topf schwarzer Bohnen, der das neue Zeitalter einläutete.

Text: Dirk Klaiber

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_2] Pancho: Hähnchenfilet in Mirabellensoße – ein sommerliches Herbstgericht
 
Wenn es Herbst wird und die Soßen wieder schwerer, die Weine im Glas wieder dunkler und heiße, deftige Eintöpfe ihren Siegeszug beginnen, haben wir hier ein Gericht, das in Farbe, Duft und Geschmack noch einmal den (Spät)sommer auf den Teller zurück holt.

Die Farbe ist sonnengelb, der Duft nach gelben Pflaumen intensiv und der Geschmack – das mussten bisher auch alle Skeptiker von süßlich-pikanten Soßen zugeben – so überzeugend, dass man "in dieser Soße am liebsten baden möchte" wie eine Freundin es enthusiastisch formulierte. Und die Zubereitung ist auch nicht schwer.

Folgende Zutaten braucht man (für 4 Personen):
Ein Kilo schöne Hähnchenbrustfilets, am besten in Bioqualität
Ein halbes Kilo möglichst reife Mirabellen
1 Becher Sahne und 2 Gläser Weißwein (am besten fruchtigen Riesling oder Sauvignon Blanc)
Etwas Olivenöl, 3 oder 4 Knoblauchzehen, 2 kleinere Zwiebeln oder Schalotten, Salz, weißer Pfeffer, sehr viel Curry und evtl. Kurkuma, etwas Zitrone und evtl. ein wenig Chili und Dill.

Zubereitung:
Man kann zwar auch Mirabellen aus dem Glas verwenden, aber besser schmeckt es mit frischen, die man vorher am besten mit etwas Weißwein kurz aufkochen. Die Hähnchenfilets mit Zitrone abreiben, salzen und pfeffern, mit sehr fein gehacktem Knoblauch (evtl. auch Chili und Dill) bestreuen und Weißwein begießen. Man kann die Filets in dieser Marinade über Nacht stehen lassen oder sie erst unmittelbar vor dem Braten so vorbereiten.

Zuerst die (lange oder kurz) marinierten Hähnchenfilets zusammen mit klein gehackten Zwiebeln/Schalotten kurz bei großer Hitze in Olivenöl von allen Seiten anbraten, dann das Fleisch herausnehmen und in Alufolie wickeln oder sonstwie warm halten.

Die Mirabellen und den restlichen Weißwein gibt man in die Pfanne, in der das Fleisch angebraten wurde und köchelt alles nun bei schwacher Hitze langsam und mit viel Curry, Kurkuma, weißem Pfeffer. Schließlich püriert man das Ganze, gibt einen Becher Sahne dazu und legt die Filets wieder hinein. Man lässt alles noch ein paar Minuten köcheln, bis das Fleisch gar ist. Diese pikant-fruchtige Soße sieht nicht nur schön aus – nämlich sommerlich sattgelb durch Mirabellen, Kurkuma und Curry, sie schmeckt auch ebenso originell  und passt ideal zu Geflügel. (Wer keine Mirabellen mag, kann ersatzweise Pfirsichen nehmen, auch diese Variante ist köstlich.)

Begleitet wird das Mirabellen-Hähnchen am besten von Basmati-Reis mit Erdnüssen oder von Kartoffelgratin (wobei man hier statt Sahne am besten Olivenöl nimmt, um der Sahne der Mirabellensoße etwas entgegen zu setzen.) Guten Appetit auch!

Text: Berthold Volberg

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_3] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 14)
 
Original: La prueba del pudín consiste en comer.
Wortwörtlich: Der Beweis des Puddings besteht darin, ihn zu essen.
Sinngemäß: Probieren geht über studieren.



Original: Hacer la vista gorda.
Wortwörtlich: Die Sicht breit machen.
Sinngemäß: Ein Auge zudrücken.

Original: Un día es un día.
Wortwörtlich: Ein Tag ist ein Tag.
Sinngemäß: Einmal ist keinmal.

Original: Del dicho al hecho hay un gran trecho.
Wortwörtlich: Vom Gesagten zum Getanen liegt ein großer Schritt.
Sinngemäß: Einfacher gesagt als getan.

Original: Ir de Guatemala a Guatepeor.
Wortwörtlich: Von Guate(schlecht) nach Guate(schlechter) gehen.
Sinngemäß: Vom Regen in die Traufe kommen.

Original: Cuando el río suena, agua lleva.
Wortwörtlich: Wenn man den Fluss hört, ist Wasser drin.
Sinngemäß: Wo Rauch ist, ist auch Feuer.

Original: No es tan fiero el león como lo pintan.
Wortwörtlich: Der Löwe ist nicht so wild, wie er gemalt wird.
Sinngemäß: Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird.



Original: Aquí hay gato encerrado.
Wortwörtlich: Hier gibt es eingesperrte Katze.
Sinngemäß: Hier ist etwas faul.

Text: Camila Uzquiano
Fotos: Andreas Dauerer

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 6
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 7
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 8
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 9
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 10
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 11
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 12
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 12
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 13

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_4] Lauschrausch: Tupi or not Tupi
"Brasilien hören" aus dem Silberfuchs Verlag
 
Im Mai 2010 wurde an der brasilianisch-peruanischen Grenze ein indigener Stamm entdeckt und fotografiert, der zuvor wohl noch nie Kontakt mit Weißen hatte. Im droht nun – weniger blutig, aber ähnlich tödlich – wie vor 513 Jahren, die "Entdeckung" durch die weißen Eroberer des Kontinents, die inzwischen allerdings mehrheitlich Mestizen sind.

Brasilien hören
Silberfuchs-Verlag
Auflage: 1 (8. April 2013)

Das neue Hörbuch über Brasilien beginnt mit diesen beiden Zusammentreffen. Im Jahre 1500 treten die überraschten Portugiesen gegenüber den Indigenen aus der Tupi-Sprachgruppe noch freundlich auf, aber das ändert sich schnell mit dem Wunsch nach Reichtümern und Missionierung. Die Indigenen werden ermordet, sterben zu Tausenden an eingeschleppten Krankheiten oder müsen ihren Lebensraum verlassen, weil die Portugiesen die Ressourcen ausbeuten, wie z.B. den Brasilholz-Baum, der innerhalb weniger Jahre durch Abholzung aus den Küstengebieten verschwindet. Alles das wissen wir u.a. deshalb, weil der hessische Söldner Hans Staden im Jahr 1553 von den Tupinambá gefangen genommen wurde und - obwohl er ihren Frauen zurufen musste "Ich, euer Essen komme" – überlebte, und seine Erlebnisse in einem Reisebericht niederschrieb.

Ein wichtiges Ereignis in der Geschichte Brasiliens ist im 16. Jahrhundert die Entscheidung, schwarze Sklaven zu importieren, um die Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen etc. erledigen zu können. Ihre Leiden schildert eindrücklich der Jesuit Andrea Joao Antonio. Die Schwarzen vermischen sich mit den Weißen (seltener mit Indigenen) und so entsteht die heutige brasilianische Mestizen-Bevölkerung. Der Schriftsteller Gilberto Freire schreibt den schwarzen Ammen eine große Bedeutung zu, da sie die weiße Nachkommenschaft an ihrer Brust nährt, ihr ihre afrikanischen Lieder vorsingt und so die Gesellschaft bis heute kulturell prägt. Der afrikanische Beitrag zur brasilianischen Kultur ist kaum zu unterschätzen: Afoxé, Candomblé, Berimbau, nicht zuletzt die Capoeira, das Kampfspiel, das Jorge Amado als typischsten Ausdruck afro-brasiliansicher Kultur bezeichnet. Die brasilianische Gesellschaft entfernt sich nach und nach vom portugiesischen Mutterland, im Jahr 1820 schließlich auch politisch, ironischerweise beschleunigt durch die Flucht des portugiesischen Königshauses vor Napoleon nach Brasilien. Denn bei dessen Rückkehr sagt sich der Kronprinz vom Vater los und übernimmt 1822 als Pedro I. die Macht im nun unabhängigen Brasilien. Auf ihn gehen auch die Farben der Nationalflagge zurück. 1889 übernimmt im "Land der zwei Geschwindigkeiten" das Militär die Macht und fügt das Motto "Ordem e progresso" und die 27 Sterne für die Bundesstaaten hinzu. Fortschritt für den rückschrittlichen Sertão, durch einen blutigen Bürgerkrieg.

Im 20. Jahrhundert betritt das Land vor allem musikalisch die Weltbühne: nachdem Heitor Villa-Lobos mit einer neuen nationalen Musik, in der er auch afrikanische und indigene Klänge einarbeitet, Europa begeistert hat, erobern später Samba und Bossa Nova die Welt und untermalen das neue brasilianische Lebensgefühl, das sich auch in Oscar Niemeyers Hauptstadt Brasilia manifestiert. In den letzten Jahren hat Brasilien vor allem mit Gewalt, Drogenverbrechen und guten Wirtschaftsdaten bei uns Schlagzeilen gemacht. Die anstehenden Großereignisse – Fußball-WM, Olympia - hätten helfen können, das zu ändern, aber wahrscheinlich werden wieder nur Wenige profitieren und danach alles so sein wie zuvor: "Tupi or not Tupi, that is the question”, wie es einst Oswald de Andrade ironisch formulierte.

Andreas Fröhlich spricht diese kurze Geschichte Brasiliens wunderbar, begleitet wird sie, wie immer in dieser Serie, von einem feinen kleinen Booklet.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





[kol_5] Grenzfall: Buenos Aires - Zum Dienstschluss ein Taxi

Nach der Arbeit kann die Heimfahrt mit einem Taxi zuweilen anstrengend werden und trotzdem das kurzweiligste sein, was man sich vorstellen kann.

Sie haben das doch sicherlich auch schon einmal erlebt: Man ist bei Freunden zum Essen geladen, eine kleine Feier mit zehn bis zwölf Leuten soll es werden und bis auf die Gastgeber und ein Pärchen kennt man niemanden. Und obwohl man erst gar nicht in Feierlaune ist, wird es eine wunderbare Nacht werden. Einfach so. Weil man auf jemanden trifft, der einen tief beeindruckt. Mit seinem Charme, seinem Charisma, mit seinen lustigen Geschichten oder einfach nur, weil ihre Augen strahlen und sie schlichtweg in dieser Konstellation das Umwerfendste ist, was man sich vorstellen kann. Nein, wir sprechen nicht vom nächsten Morgen, wir sprechen vom Augenblick, den es bekanntlich ja zu genießen gilt. Am besten immer. Und am einfachsten überall.

Es kommt ja nicht oft vor, dass man in Buenos Aires ein Taxi anhält, hinten einsteigt und dann irgendwann bemerkt, dass irgendwas ein klein wenig anders ist als sonst. Und das schlimmste: dass ich partout nicht benennen kann, woran es liegt. Ist es stickig oder doch so wie immer? Habe ich einfach nur einen schlechten Tag erwischt? Stinkt es hier im Wagen, nimmt der Fahrer nicht die gleiche Strecke, wie sonst oder was ist es, dass mich denken lässt, hier würde etwas anders sein, als eben sonst?

Natürlich darf man in Argentiniens Hauptstadt nicht einsteigen und erwarten, der Taxista würde einen in Ruhe lassen. Im Gegenteil, irgendwo scheint in deren Handbuch zu stehen, zumindest ein Drittel eines Fragenkatalogs abzuarbeiten, ehe man den Fahrgast wieder in die Freiheit entlässt. Und wenn ich sage, dass der Katalog gefühlte 1500 Fragen umfasst, dann ist das wahrscheinlich noch leicht untertrieben. Aber, mal ganz ehrlich, schön ist es ja trotzdem, wenn jemand Anteil nimmt an unserem Leben. Denn selbst wenn hier jeder zweite Porteño zum Psychologen läuft, sind eigentlich die Taxistas die wahren Therapeuten. Oder Professoren. Oder irgendwas dazwischen. Es gibt kaum ein Thema, wo sich ein Taxista nicht auszukennen scheint, zumindest weiß er immer durchaus Sinnvolles beizutragen. Verwunderlich irgendwie. Aber schön. Und unheimlich.

Dabei vermischen sich natürlich jedwede Themen, die den Argentiniern auf den Nägel brennen oder ihnen herzlich egal sind. Schnell oszillieren wir zwischen „Warum es gut ist, dass Cristina die Schulden nicht zurückzahlen will“ und „Warum es Maradonas Ansehen auch nicht schadet, wenn er mal eben einen Fünftligisten unterstützt“. Als Mental-Coach wohlgemerkt. Aber Maradona ist nun mal Maradona und auf ihn lassen sie eh nie was kommen. Interessanter da schon das schwere Thema Nietzsche und Freud, beide gerne in einem Atemzug genannt, wenn es um die Anfänge der Psychoanalyse geht, aber wer hat schon einen Taxifahrer, der einem detailliert die Unterschiede ihrer Denkweisen beleuchtet?

Ob’s stimmt, werde ich nicht mehr nachvollziehen können, ich habe relativ schnell die Zusammenhänge verloren und konzentriere mich eher auf das, was hier irgendwie einfach nicht stimmig ist. Es ist tatsächlich der Geruch, der rein gar nichts mit den Duftbäumen zu tun hat, die hier eigentlich regelmäßig vom Rückspiegel baumeln. Es ist der Geruch von Damenparfüm. Und der nicht vorhandene Duftbaum führt mich auch zum Rückspiegel, wo ich einen Teil einer hübschen Frauenaugenpartie zu sehen bekomme. Gibt’s denn sowas? Jetzt höre ich endlich auch das weibliche in ihrer Stimme, die sich mittlerweile lautstark ein Wortgefecht mit einem anderen Taxi neben uns liefert. Ich hingegen wundere mich noch immer, dass ich das nicht sofort gemerkt habe. Zum ersten Mal werde ich hier von einer Señora nach Hause chauffiert. Zum aller ersten Mal. Bis dato war ich davon ausgegangen, dass dieser Beruf in dieser Stadt ausschließlich Männern vorbehalten ist und auch jetzt dürfte der prozentuale Anteil an Frauen, die mich chauffiert haben, weit unter einem Prozent liegen. Es gibt sie eigentlich nicht. Ob das jetzt ein Fingerzeig ist, dass ich mal wieder die Lotería Nacional  beehren sollte? In jedem Fall ist es ein untrügliches Zeichen, dass nun endlich der Frühling kommen kann.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





.