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[kol_1] Macht Laune: Aztekischer Abgang über Colonia
 
Als die kleine Cucaracha auf die Welt kam, hatte sie eine unbändige Lust auf Tacos al Pastor. Sie verschmähte Muttermilch und Flasche und verdrückte zur Nachspeise eine mit Kokosnuss-Creme gefüllte Ananas.

Eines Tages machte sich die kleine Cucaracha mit ihrem Papi auf in Richtung Colonia, der schönsten Stadt der Welt. Dort, wo alle Menschen schon bei der Einfahrt in den Bahnhof Denn wenn et Trömmelche jeht singen. Nahe bei Colonia lebten die Omi linda, el Opi gigante und die fürchterlich alte Mama Malinche. Cucaracha fand die alte Mama Malinche immer ein wenig merkwürdig. Sie lag viel im Bett oder saß in einem unglaublich großen Rollstuhl. Und wenn sie gut drauf war, plapperte sie in einem fort: Ga gagag gggaagaa aggagagaggaggag. Die kleine Cucaracha und Omi mussten dann immer lachen. Und Mama Malinche lachte mit: Ga gagagaga ga.

Die kleine Cucaracha fuhr nun schon seit ein paar Jahren nach Kölle mit Mami, Papi und ihren Schwestern und Cousinen. Zu Omi linda, dem Opi gigante und Mama Malinche. Nachdem sie den ganzen Nachmittag mit Mama Malinche auf der Terrasse verbracht hatten, erzählte ihr Papi, dass sie früher, als er noch klein war, in den Ferien immer zu Mama Malinche gefahren waren. Er und sein Bruder liebten Mama Malinche. Sie durften immer bei ihr im Bett schlafen. Und Mama Malinche kochte unheimlich gut. Und sie war top modern und fuhr den bis heute an Eleganz unerreichten Ford Diplomático mit Ledersitzen und eingebautem Kühlschrank voller Schokolade. Die beiden durften immer mitfahren. Denn wenn sie bei Mama Malinche waren, standen sie im Mittelpunkt und die Welt drehte sich um Mama Malinches Jungs. Mama Malinche erzählte dann von ihren Reisen. Am spannendsten waren die Erzählungen von den Pyramiden, den scharfen Speisen und dem Gott mit der grünen Maske. Letzterer, ein gewisser Quetzalcoatl, hatte es ihnen besonders angetan. Es gab einen Schrank in Mama Malinches Esszimmer, in dem sie jedes Mal unglaubliche Dinge fanden. Trommeln, Pfeifen aus Stein, bunte Federn und Jadeschmuck. Sie glaubten, dass all diese wertvollen Dinge Grabbeigaben des Quetzalcoatl waren. Und sie glaubten, dass Mama Malinche irgendetwas mit der vorhergesagten Rückkehr des Quetzalcoatl zu tun hatte.

Das letzte Mal als sie nach Colonia fuhren, sah Cucaracha Mama Malinche kaum noch. Mama Malinche schlief den ganzen Tag und das Bett machte komische Pfeifgeräusche. In der dritten Nacht bei Omi linda und dem Opi gigante hatte die kleine Cucaracha einen Traum. Sie war alleine aufgestanden und hatte sich in Mama Malinches Zimmer geschlichen. Mama Malinche war wach und sagte statt ga ga ga ganz klar und deutlich: wie schön dich zu sehen. Cucaracha nahm Mama Malinche an die Hand und öffnete das Fenster, dann flogen sie zusammen los. Immer höher schraubten sie sich in den Himmel, schlugen Purzelbäume und Räder, drehten Pirouetten und lachten. Sie sprangen von Wolke zu Wolke und sangen.

Ohne dass sie es merkten, waren sie nach Mexiko geschwebt. Von oben sahen sie die schlafenden Sombreros, streiften im Flug die Spitzen der Sonnen-Pyramide Teotihuacáns und dann hörten sie Musik. Musik, die Mama Malinche früher, als sie noch jung war, immer so gern gehört hatte. Sie sahen die Menschen, die ihnen zuwinkten und hörten ihr Rufen nach Quetzalcoatl. Dann drehte sich Mama Malinche um, schaute der kleinen Cucaracha lachend in die Augen und entschwand zu der Gottheit mit der grünen Jademaske und den Ihren im Valle de los Muertos – im Tal der Toten.

Am nächsten Morgen erwachte die kleine Cucaracha mit einem unbändigen Hunger auf Enchiladas. Sie verschmähte Haferflocken und Müsli und verdrückte eine Sopa de Lima und einen verheißungsvollen Topf schwarzer Bohnen, der das neue Zeitalter einläutete.

Text: Dirk Klaiber

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