caiman.de 10/2013
[art_3] Argentinien: Charly im Wunderland Die letzte argentinische Diktatur in den Liedern von Charly García Der Terrorismus auf dieser Welt egal wie und wo ist immer grauenvoll. Er lähmt die Menschen, und er zerstört ihre Hoffnungen. Ob eine Bombe in einem Café explodiert, ein Gebäude in die Luft fliegt oder Menschen entführt werden. Gewöhnlicher Weise richten die Terroristen ihre Angriffe gegen die politische oder wirtschaftliche Elite. Aber es gab und gibt immer wieder Fälle, bei denen es umgekehrt ist: Am 24. März 1976 begann in Argentinien die Militärdiktatur mit dem Sturz der damals amtierenden Präsidentin Isabel Perón. Er leitete die Ära des sogenannten "Proceso de Reorganisación Nacional" (der Prozess der Nationalen Reorganisation) ein. In dieser Zeit (1976 1982) war es die Regierung, die Militärjunta der Triple-Alianza, die mittels staatlich organisierten Terrors die Bevölkerung beherrschte. In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unruhen durchbrach sie die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, mit dem offiziellen Ziel, die nationale Sicherheit wiederherzustellen. Erst später stellte sich heraus, dass die Militärs 50.000.000 US-Dollar aus internationalen Krediten auf ihre privaten Konten transferiert hatten. Geld, das eigentlich dazu bestimmt war, die argentinische Wirtschaft zu sanieren und heute noch Bestandteil der Auslandsschulden des Landes darstellt. Die Maßnahmen des Regimes waren die Entführung, die Folter und der Mord an 30.000 Argentiniern; darunter Ärzte, Studenten, Nonnen, Pfarrer, Priester und Bischöfe, Schriftsteller, Politiker, Richter, Landwirte und Guerilleros, sowie Arbeiter, Lehrer, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Babys und Kleinkinder. Eine scheinbar wahllose Kombination verschiedenster Berufsgruppen, Altersstufen und sozialer Schichten ohne erkennbare Logik. Denn die wenigsten der Verschleppten waren politisch aktiv. Im Umkehrschluß bedeutete dies, daß es jeden in der Bevölkerung treffen konnte. Da die Entführungen meistens heimlich geschahen, entwickelte sich über sechs Jahre eine Atmosphäre, die gleichermaßen Ignoranz und Paranoia zwischen den Menschen schuf. In dieser Zeit, in der der Staat die Medien einer starken Kontrolle und Zensur unterwarf, war an Kritik oder gar Widerstand nicht zu denken. Selbst der Besitz des "Kleinen Prinzen" von Antoine de Saint Exupèry reichte aus, um als Staatsfeind zu gelten. Lediglich eine Handvoll Musiker, darunter Mercedes Sosa, thematisierte in ihren Liedern die Repression im Land. Und dies auch erst in den letzten Jahren der Diktatur (1980-82). Sosa ließ sich lange Zeit nicht einschüchtern, doch nach der dritten Bombendrohung bei ihren Konzerten ging auch sie ins Exil und kehrte erst nach dem Ende des Regimes zurück. León Gieco, der sich bereits in den frühen Siebzigern einen Namen als argentinischer Rock-and-Roll-Musiker gemacht hatte, musste einige Jahre im Süden Argentiniens untertauchen. Die Generäle hatten ihm zu verstehen gegeben, dass seine Stimme zu kritisch und zu bedeutsam unter den Argentiniern geworden war. Allen voran aber war es Charly García, der in seinen Liedern die traumatische Situation seines Landes beschrieb. Hervorzuheben ist das Lied "Canción de Alicia en el País". García hat dieses Lied an die Novelle von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" angelehnt und mit zweideutiger Metaphorik gearbeitet, um so der staatlichen Repression zu entgehen.
In Carrolls Roman ist der von García benutzte Zungenbrecher eine Figur, die Alice viel Vergnügen bereitet und sie zum Lachen bringt. Der argentinische Sänger dagegen benutzt ihn, um auf die Foltermethoden des Regimes hinzuweisen: Sehr häufig wurden die Verschleppten mit Elektroschocks mißhandelt, die man ihnen neben den Geschlechtsteilen auch am oder im Mund anbrachte. Die zweite Strophe leitet García mit der Warnung ein, nicht offen über die Situation des Landes zu sprechen. Der Traum ist aus: es gibt keine "tortugas", keine Schildkröten, und keine Walrösser mehr. Mit diesen beiden Tieren bezieht sich der Liedermacher auf den Präsidenten Illía Er regierte nach dem Sturz von Juan Domingo Perón, und seine Amtszeit zeichnete sich durch eine für Argentinien bemerkenswerte politische und wirtschaftliche Stabilität aus. Im starken Kontrast dazu schildert der Sänger wiederum die Realität, indem er das Bild des Flusses mit den zertrümmerten Köpfen benutzt. Eine deutliche Anspielung auf die Grausamkeiten der Diktatur. Aber auch hier schwächt García das Bild ab durch die Karten-Figuren, die er, so wie in Carolls Novelle, in seinem Lied Cricket im Mondlicht spielen läßt. Bei ihnen handelt es sich ganz offensichtlich um die Generäle der Militärjunta. "Die Unschuldigen sind die Schuldigen" eine Umkehr der Werte wie sie Alice im Wunderland erlebt hat, genauso wie viele Argentinier und Argentinierinnen, die vollkommen schuldlos verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Dieser Grundsatz wurde von dem Rey de Espadas, dem Pikkönig, diktiert, der ebenfalls die Generäle der Triple-Alianza symbolisiert. "Rede nicht darüber, was sich hinter jenem Spiegel befindet" reflektiert den Zustand des erzwungenen Schweigens und der Ohnmacht der Argentinier, die machtlos, ohne Anwälte und ohne Zeugen gewesen wären, hätten sie die Situation offen zur Sprache gebracht. Charly García schließt dieses Lied mit einer Betrachtung, die die Resignation aus den Erfahrungen der letzten Jahre und den Pessimismus im Hinblick auf die Zukunft ausdrückt: "ruina sobre ruina, querida Alicia." Die argentinischen Künstler wurden von den Generälen der Militärjunta vorgeladen. Dies geschah zumeist in der scheinbar zwanglosen Atmosphäre eines gemeinsamen Frühstücks. Die Generäle befragten hierbei ihre "Gäste" einerseits zu deren persönlichen Ansichten über die allgemeine politische Situation. Andererseits nutzten sie die Gelegenheit, um die Gefahren anzudeuten, die ihnen widerfahren könnten, sollten sie ihre Stimmen zu laut gegen das Regime erheben. 1979 erhielt Charly García seine Einladung zu einem solchen Frühstück. Früh am Morgen hatte er sich in dem Büro von Arguindeguy, Innenminister der Junta, einzufinden. Aufgrund seiner Grausamkeit wurde dieser vom Volk hinter vorgehaltener Hand "diablo" genannt. In Anlehnung an diese Unterredung verfaßten der Sänger und seine Gruppe, Seru Giran, einige Zeit später ein Lied über seine "Begegnung mit dem Teufel":
Normalerweise hat der Krieg für uns Menschen ähnliche Konsequenzen wie der Terrorismus, mit dem Unterschied, dass er omnipräsent ist. Im Fall Argentiniens war es jedoch etwas anders: 1981 ließ die Junta die unter britischer Herrschaft stehenden Falklandinseln (Islas Malvinas) besetzen. "Las Malvinas son nuestras" war der Schlachtruf, mit dem sie den Patriotismus anstachelten und einen Großteil der Bevölkerung auf ihre Seite bringen konnten. Darauf begann im März 1982 Krieg zwischen den beiden Ländern, der schon drei Monate später, im Juni, von Großbritannien gewonnen wurde. Aber mit dem Ende des Falklandkriegs (oder der Guerra de las Malvinas) fand auch die Militärjunta ihr Ende. Der "Prozeß der Nationalen Reorganisation" hatte sich mit seinem internationalen Machstreben sein eigenes Grab geschaufelt. Die Generäle hatten nunmehr weder Rückhalt in der Bevölkerung noch in den Truppen, die zuvor immer loyal hinter ihnen gestanden hatten. Zudem hatten sie sich auf der internationalen Bühne blamiert. Kurze Zeit später dankten sie selbst ab. Doch die Argentinier konnten sich nach dem jahrelangen Staatsterror nicht so einfach lösen von ihrer Paranoia und dem Zustand der Lähmung. Viele hatten es verlernt, sich in ihrem Land sicher zu fühlen. Es dauerte, bis sie sich auf ihre wiedergewonnene Freiheit einlassen konnten. Schon zu Zeiten der Diktatur waren die, die es sich leisten konnten, nach Brasilien in den Urlaub gefahren, um sich frei bewegen zu können und nicht in ständiger Angst leben zu müssen. So kam es, dass auch nach dem Untergang des Regimes die brasilianische Lebensfreude von den Argentiniern mit Leichtigkeit und Freiheit assoziiert wurde, während diese Dinge sich in ihrem eigenen Land nicht einstellen wollten. In "Yo no quiero volverme tan loco" forderte Charly García seine Landsleute dazu auf, ihre Ängste zu verlieren und das Leben wieder zu genießen. Mit der Thematisierung der nationalen Depression versuchte er die Lebensfreude wieder nach Argentinien zu bringen; seine Landsleute sollten erkennen, dass es sich hierbei nicht um eine ausschließlich brasilianische Form zu Leben handelte.
Text: Lars Borchert [druckversion ed 10/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien] |