caiman.de 10/2011

[art_1] Spanien: Segovia – rebellisch und romanisch
Ein Besuch in Spaniens kleinster Kulturhauptstadt (Teil 1)
 
In nur 30 Minuten von Madrid aus erreicht man mit dem neuen Schnellzug AVANT die 90 Kilometer nordöstlich auf genau 1000 Metern Höhe gelegene Provinzhauptstadt Segovia. Von den zehn spanischen Altstädten, deren Zentren von der UNESCO komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurden, ist Segovia die kleinste. Ihre Lage ist spektakulär – wie auf einem Präsentiertablett breitet sich der monumentale Ortskern auf einem lang gezogenen Felsrücken vor dem Hintergrund der meist mit Schnee bedeckten Berggipfel der Sierra de Guadarrama aus.

Alcazar [zoom]
Kathedrale [zoom]

Der neue Bahnhof liegt außerhalb und wenn man sich von dort mit dem Bus dem Stadtzentrum nähert, glaubt man für einen Moment, im falschen Bahnhof ausgestiegen zu sein. Denn das erste, was man sieht, ist keiner der berühmten Postkartenblicke mit Aquädukt oder Alcázar, sondern ein abschreckendes Neubauviertel. Aber wenig später, an der Endhaltestelle des Shuttle-Busses, der auch schon mal die viel versprechende Aufschrift "Segovia – un sueño" ("Segovia – ein Traum") trug, steht man direkt vor dem bedeutendsten Monument der Römerzeit in Spanien: dem Aquädukt. Es erhebt sich ähnlich imposant wie der Pont du Gard bei Nimes, allerdings nicht in der Einsamkeit eines Flusstals. Dafür bilden die Bögen dieses bis zu 30 Meter hohen und 818 Meter langen Bauwerks heute das gigantische Eingangstor zum Gebirgsstädtchen Segovia – die majestätischste Pforte, um eine spanische Altstadt zu betreten.

Aquädukt [zoom]
Aquädukt [zoom]

Es ist noch gar nicht so lange her, dass diese Konstruktion aus dem 2. Jahrhundert nicht nur Dekorationsstück war, sondern eine ureigene Funktion erfüllte. Bis 1974 fungierte das Aquädukt als Wasserleitung. Heute liegt es wie eine Art Stadtmauer vor Segovia. Seine Arkaden werfen einen bizarren, riesigen Schatten auf die ersten Häuserzeilen und Gassen der Stadt, als wollten sie auch heute noch die Dominanz des Imperium Romanum verkünden. Denn es war ein hartes Stück Arbeit für die Römer, diese zentrale Gebirgsregion der Iberischen Halbinsel endgültig zu erobern. Schon die Keltiberer nutzten den strategischen Vorteil dieses Felsensattels, bis er um 80 v. Chr. erstürmt wurde. Die römischen Eroberer verfuhren hier so wie in Masada oder ähnlich stolzen Widerstandsnestern: alle rebellischen Ureinwohner, die sich auf diesen Felsen zurückgezogen hatten, wurden massakriert.

Heute werden die Segovianer jedoch den Nachfahren der grausamen römischen Konquistadoren dankbar sein, denn die von ihnen errichtete monumentale Wasserleitung zieht Millionen von Touristen an, die staunend ihre Torbögen durchschreiten. Segovia besteht jedoch nicht nur aus dem Aquädukt; es hat ähnlich wie Toledo auf engstem Raum eine Rekordzahl an architektonischen Sehenswürdigkeiten aus verschiedenen Epochen und Religionen und eine intakte Altstadt zu bieten, die von der UNESCO 1985 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Die Westgoten und die Araber, die den Ort Siqubiya nannten, haben wenig Spuren hinterlassen. Aber die Synagoge der im Mittelalter großen jüdischen Gemeinde gehörte zu den wichtigsten in Spanien. Heute ist sie eine Klosterkirche und wurde auf den Namen "Corpus Christi" umgetauft. Nach der tragischen Vertreibung der Juden wurde sie zur Kirche umfunktioniert und 1899 durch einen Brand zerstört.

Synagoge [zoom]
Synagoge [zoom]

Das heutige Bauwerk ist eine gelungene Rekonstruktion, die demonstriert, dass die Segovianer Synagoge große Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild in Toledo hatte: der ältesten Synagoge Europas, die heute den Kirchennamen Santa Maria la Blanca trägt. Die Säulen zeigen die gleichen Kapitelle mit Pinienzapfen und Mudéjar-Blendarkaden wie in der schon 1190 erbauten Toledaner Synagoge. Durch die Fenster in Form von Hufeisenbögen, die sehr passend mit farbigem Glas in Violett, Blau und Grüntönen ausgestattet sind, fällt gefiltertes Licht und erfüllt den dreischiffigen Raum mit einem diffusen, mystischen Licht. Trotz der Rekonstruktion wirkt der Innenraum der Synagoge dadurch authentisch und die Stimmung in diesem schlichten Tempel mahnt zur Stille und wirkt sakraler als in den meisten Kirchen von Segovia. Doch mit der Thronbesteigung der machtbesessenen Königin Isabella war es vorbei mit der religiösen Toleranz. Das "Spanien der drei Kulturen" (christlich, muslimisch, jüdisch) fand sein endgültiges Ende und ab 1492 war Schluss mit Synagogen in Stadtlandschaften.

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Kommen wir also zur nächsten Station der Stadtbesichtigung – zur spätgotischen Kirche San Miguel, die schon deutliche Stilelemente der Renaissance präsentiert. Im Vorgängerbau an gleicher Stelle der aktuellen Kirche wurde Isabella die Katholische im Dezember 1474 zur Königin von Kastilien proklamiert. Von außen wirkt die Michaelskirche mit ihrem wuchtigen Turm und schmucklosen, abweisenden Mauern wie eine Festung und scheint damit die intolerante Haltung der Herrscherin zu reflektieren. Aber der Innenraum überrascht mit deutlich freundlicheren Attributen. Da glänzt golden ein barocker Hochaltar von 1672. Schöne Sternen- und Rautenmuster schmücken die Deckengewölbe, deren Abschluss-Steine als elegante Medaillons herab hängen.

Synagoge [zoom]
Kirche San Miguel [zoom]

Noch kunstvoller und filigraner präsentieren sich in Segovia nur die Sterngewölbe der Kathedrale, die zu den schönsten von ganz Spanien gehören.

Die beiden Hauptmonumente Segovias, Kathedrale und Alcázar, werden immer wieder mit zwei Metaphern definiert, wobei diese beim Alcázar zutreffend, die Kathedralen-Metapher jedoch unpassend wirkt. Denn es möge uns bitte mal jemand erklären, warum dieser wuchtige Tempel, der späteste aller gotischen Dome Spaniens, hartnäckig als die "Dame unter den spanischen Kathedralen" bezeichnet wird. Von außen wirkt dieser 1525 begonnene Kirchenbau wie eine massige Burg, die nicht nur durch den gewaltigen, 88 Meter hohen Turm eher männlich dominant als damenhaft wirkt. Die zierlichen Fialen, die den Chor von außen bekrönen, sollen dem Erscheinungsbild etwas von seiner Schwere nehmen, was aber nur bedingt gelingt. Die breit gelagerten Mauern, nur unterbrochen durch sehr kleine Fenster und der mächtige, beinahe schmucklose Turm verstärken den Eindruck einer Kirchenfestung.

Aquädukt [zoom]
Kathedrale [zoom]

Ähnlich wie San Miguel wirkt Segovias Kathedrale im Innenraum sehr viel schöner. Zwar wird der Gesamteindruck wie so oft in Spanien durch den Einbau des Chorgestühls gestört, aber besonders die harmonischen Proportionen des Chorumgangs mit den grandiosen Gewölben mildern die Strenge der breiten Säulen. Zudem präsentieren die Kapellen beeindruckende Kunstwerke wie einen Hochaltar mit dem Begräbnis Christi vom Renaissance-Bildhauer Juan de Juni (im rechten Seitenschiff), einen Barockaltar von Churriguera und einen ergreifenden toten Christus vom kastilischen Bildhauergenie Gregorio Fernández (linkes Seitenschiff).

Kathedrale [zoom]
Kathedrale [zoom]

Auf der linken Seiter vor dem Chorraum kann man durch ein Gitter ein überraschend altes Kirchenportal erkennen. Es stammt von der alten, romanisch-frühgotischen Kathedrale, die während der Comuneros-Rebellion 1520 zerstört wurde. Damals wehrte sich das rebellische Segovia gegen eine vom neuen König Karl (Kaiser Karl V.) erhobene Sondersteuer. Nach der Niederschlagung dieses Aufstands im April 1521 war auch der Alcázar gegenüber der Kathedrale teilweise zerstört und wurde restauriert.

Alcazar [zoom]
Alcazar [zoom]

Von dieser Märchenburg, die von einem hundert Meter hohen Felsen weit in die nördliche Steppe grüßt, sagt man, sie sei wie der Bug eines Schiffes. Die Metapher trifft zu. Vor allem wenn man sich Segovia von Nordosten her nähert, wirkt die Stadt auf dem Felsplateau wie ein Schiff, das aus den Bergen in die Steppe ragt – und der Alcázar wie der Bug dieses Schiffes. Nicht umsonst wurde der imposante Anblick der kastilischen Felsenburg auf den Titelbildern unzähliger Spanien-Bildbände verewigt.

Text + Fotos: Berthold Volberg



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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