ed 08/2012 : caiman.de

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spanien: Die Kunst des Bildhauers Francisco Romero Zafra
Der schönste Erfolg ist, wenn die Menschen weinen
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


bolivien: Junge Hoffnungsträger gegen Pestizide
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
THOMAS MILZ
[art. 3]
kuba: Hunger
NORA VEDRA
[art. 4]
helden brasiliens: 50 Jahre Garota de Ipanema
THOMAS MILZ
[kol. 1]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 8)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 2]
grenzfall: Gelungene Müllentsorgung – Eine Frage der Perspektive
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Traurige Klänge zur Krise
Mísia, Mafalda Arnauth und Dona Rosa
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Die Kunst des Bildhauers Francisco Romero Zafra
Der schönste Erfolg ist, wenn die Menschen weinen
 
Córdoba, am Karsamstag 2011. Wir sind soeben mit dem Zug aus Sevilla angekommen, wo wir wie so oft in den letzten Jahren eine reichlich verregnete Semana Santa erlebt haben. Heute regnet es nicht und der Fußweg vom Bahnhof durch die Altstadt von Córdoba zur Werkstatt des Bildhauers Francisco Romero Zafra in der Calle Anqueda wird unerwartet zu einem Romantik-Spaziergang, vorbei am laternenumrankten Cristo de los Faroles und einer purpurfarbenen Bougainvillea-Lawine über der Treppe neben der Kapelle der Jungfrau des Friedens.



Diese Schritte durch Córdobas Gassenlabyrinth sind schon mal eine gute Lektion in Entschleunigung. Denn "Europas Weltstadt des 10. Jahrhunderts" atmet eine zeitlose Grandeza. Hier hetzt man nicht von Termin zu Termin, man nimmt sich die passenden Momente für die wirklich wichtigen und schönen Dinge im Leben und die Zeit ist hier kein hektisch vorrückender Sekundenzeiger, sondern eher ein gleichmütig plätschernder Brunnen, dessen Wasser aus unergründlicher Tiefe emporsteigt. Und eines darf man hier auf keinen Fall, da es (ähnlich wie in Sevilla) als unhöflich gilt: überpünktlich zu einem (Interview)Termin erscheinen. Also schlendern wir noch eine Ehrenrunde und besichtigen die Kirche Santa Marina, bevor wir an der Tür des Künstlers Romero Zafra anklopfen.

Dann öffnet sich der Vorhang für eine Bilderflut, die uns mitreißt und mich meinen Plan von einem streng strukturierten Interview mit Fragenkatalog spontan über Bord werfen lässt. Córdoba ist Spaniens Stadt der Philosophen (Seneca, Averroes und Maimonides, um nur die wichtigsten zu nennen), in dieser Stadt der Denker führt man keine Interviews, sondern philosophische Gespräche.

Der Maestro öffnet uns lächelnd die Tür zu seiner Welt, die bevölkert wird von Christusskulpturen, Engeln und tränenreichen Madonnen. Romero Zafra widmet sich sakraler Kunst, seine wichtigsten Auftraggeber sind Klöster und vor allem religiöse Bruderschaften zwischen Cádiz und Salamanca, die Skulpturen für ihre Prozessionen während der Semana Santa benötigen. Und ich fühle dieselbe Ergriffenheit wie in der Karwoche 2007, als ich in der Kirche Santo Ángel in Sevilla zum ersten Mal eine seiner Schöpfungen entdeckte: die Jungfrau der Sieben Schmerzen. Das Gesicht dieser Madonna beeindruckte mich so sehr, dass ich sie auf das Titelbild meines Sevilla-Buches platzierte.



Wie viele der anderen von Romero Zafra geschaffenen Himmelsköniginnen hat sie blaue Augen. "Ich halte helle Augen für ausdrucksstärker", kommentiert der Künstler, "ich male winzige Punkte verschiedener Couleur, es gibt mehr Farbschattierungen, mehr Lichtreflexe.""Deshalb wirken sie oft geheimnisvoller.", ergänzt Vicente, ein befreundeter Kunsthistoriker aus Madrid, der mich zu diesem Interview begleitet hat.

Schon befinden wir uns mitten in einem Gespräch über die zentrale Bedeutung des Blicks einer Statue. Romero Zafra definiert seine Intention: "Eine Skulptur muss atmen und über einen lebendigen Blick verfügen. Der Zuschauer muss das Gefühl haben, von den Augen einer Statue persönlich angeschaut zu werden; nur dann hat man als Bildhauer ein Ziel erreicht."

Nun, dieses Ziel erreicht der Künstler aus Córdoba spielend, vor allem die rätselhaften, oft tränenerfüllten, hypnotischen Augen seiner Madonnen und Christusstatuen sind sein Markenzeichen. Dabei wurde Zafra als Autodidakt, der nun pro Jahr vier lebensgroße Skulpturen modelliert, erst sehr spät zur Bildhauerkunst berufen. Der 1956 geborene Romero Zafra war bereits 34, als er 1990 seine erste Madonna (die Jungfrau der Tränen) für einen Skulpturen-Wettbewerb in Córdoba präsentierte und prompt gewann. Vorher war er 13 Jahre als Vertreter für ein Juweliergeschäft tätig und entwarf nebenbei auch selbst Schmuck, wie er heute noch in seiner kunstvollen Künstler-Signatur demonstriert: alle seine Madonnen tragen eine Brosche, die seine Initialen FMZ sowie das M für Maria und einen Hufeisenbogen der Moschee von Cordoba ineinander verschnörkelt zeigt.

Seit 1990 hat er für Bruderschaften, Kirchen und Klöster in ganz Spanien sakrale Kunstwerke geschaffen, von La Orotava auf Teneriffa über Córoba und Sevilla bis Salamanca. Darunter sind geniale Meisterwerke – neben der schon erwähnten Madonna der sieben Schmerzen vor allem zwei majestätische Statuen des auferstandenen Christus (Pozoblanco 1995, Martos 2004), die tragische Jungfrau der Bitterkeit (Guadix 2002), eine heilige Theresa für die Kirche Santo Angel in Sevilla (2007), die Engel für das berühmte Salzillo-Museum in Murcia, für seinen Geburtsort La Victoria bei Córdoba den dramatisch sterbenden Cristo de la Expiración (2002) und für seine Heimatstadt Christus im Priestergewand (Sagrado Corazón).

Vor einem goldenen Vorhang präsentiert er uns stolz seine neueste Kreation, den erst vor ein paar Tagen vollendeten gekreuzigten Christus. Lebensgroß, blutüberströmt und eindrucksvoll modelliert schwebt dieser tote Erlöser mit geschlossenen Augen über uns.



Sein Kreuz wartet in irgendeiner Kirche auf ihn. Unheimlich ragen die monströsen Schrauben, mit denen er ans Kreuz befestigt werden soll, aus seinen Händen. "Darf ich ihn kurz berühren?", fragt Vicente. "Ja natürlich, dafür wurde er geschaffen! Ein Erlöser zum Anfassen!" Ich frage Romero Zafra, ob er für seine Werke lebende Modelle als Inspirationsquelle wählt. Er entgegnet lächelnd: "Nur für manche Nebenfiguren, aber niemals für Christus oder die Jungfrau Maria, denn es würde mir nicht gefallen, wenn ich oder Gläubige, die sie anbeten, dieser Madonna am nächsten Tag in der Straße beim Einkaufen begegnen würden."

Beim Gespräch über die einzelnen Schritte hin zur Vollendung eines seiner Werke, von denen jedes etwa drei bis vier Monate in Anspruch nimmt, kommentiert der Meister: "Das Modellieren ist der eigentliche schöpferische Akt, alles andere wie zum Beispiel die Bemalung, dient nur noch zur Akzentuierung des schon Geschaffenen. Aber ich sehe bereits beim Modellieren die zukünftigen Farben einer Figur vor mir", erklärt er uns. Die Bemalung ist nur die wichtigste einer Reihe von Schritten, die zum endgültigen Erscheinungsbild seiner Werke beitragen. Mit verschmitztem Lächeln präsentiert uns der Bildhauer eine ganze Palette von Tricks, um seine sakralen Skulpturen effektvoller zu gestalten: mit verstellbaren Schrauben konstruierte Armgelenke, ganze Reihen verschiedener Handgelenke, leichte Holzgestelle, die von Madonnengewändern verdeckt, massive Statuen simulieren sollen. Letztere sind schon seit dem Barock im Einsatz, um das Gewicht der Statuen beim Tragen zu reduzieren, andere entsprangen dem Innovationsgeist von Romero Zafra.



Ein ganz besonderes Merkmal seiner Kunst, an dem Kenner sofort eines seiner Werke identifizieren, sind die Augen seiner Skulpturen. Sie sind stets von beunruhigender Ausdruckskraft. Ich sage ihm, dass sie mich an die Augen der Heiligen in Gemälden von El Greco erinnern. Sie haben einen ähnlichen Tränenglanz und wirken so lebendig, dass man glaubt, im nächsten Moment müsste eine Träne aus dem Auge kullern. Romero Zafra verrät uns, wie er diesen Effekt erzielt. Den geheimnisvollen Glanz der Augen, die aus bemaltem Holz sind, erreicht er, indem er nach der Bemalung mehrere Schichten von Keramikglasur aufträgt. Die Tränen seiner Madonnen stellt er aus hauchdünnen Glasröhrchen her, wie sie in Labors benutzt werden: diese erhitzt er und trennt dann winzige Teile davon ab, die er zu Tränen formt. Ihre Wimpern fertigt er aus den sehr feinen schwarzen Borsten von Make Up Pinseln.

Wir staunen über solch überraschende Details und er kommentiert: "Ja, man muss auch neue Dinge ausprobieren. Oft kann man seine Kunst nur durch Experimentieren weiterentwickeln – das haben die großen Meister des Siglo de Oro in Sevilla und Granada auch so gemacht." Und er kann sich einen kritischen Seitenhieb auf die aktuelle Künstlerszene Sevillas nicht verkneifen. "Dort glaubt man, dass alles, was bisher nicht gemacht und ausprobiert wurde (neue Methoden, neue Materialien) auch jetzt nicht verwendet werden darf – aber so kann man sich nicht weiter entwickeln."

Vicente und ich beichten ihm, dass wir und viele andere es kaum erwarten können, endlich eine seiner schönen Madonnen oder Christusstatuen in der berühmtesten Semana Santa – in Sevilla – zu sehen. Romero Zafra gibt zu, dass Sevilla seit vierhundert Jahren die Hochburg sakraler Kunst ist und sich das Prestige eines Bildhauers in Spanien immer noch daran misst, ob er in Sevilla den endgültigen Durchbruch schafft, denn dort ist die Konkurrenz am größten. Er berichtet uns, dass ein Großmeister einer Bruderschaft aus Sevilla ihm vorgeschlagen hatte, er könne eine Jungfrau Maria für die Prozession als "Schenkung" anfertigen – nur um seinen Namen auf dem Kunstmarkt Sevilla zu platzieren. Er schüttelt den Kopf: "Ein unfaires Angebot. Natürlich habe ich das abgelehnt. Ich will Sevilla durch das Hauptportal kommend erobern – und mich nicht durch die Hintertür gratis hinein schleichen!"



Eines seiner beeindruckenden Werke der letzten Jahre ist eine blutüberströmte Christusstatue für eine Kirche in Cádiz. Als sie am Palmsonntag 2009 zum ersten Mal in einer Prozession durch die Straßen der andalusischen Hafenstadt getragen wurde, erregte diese Skulptur solches Aufsehen, dass danach viele bei ihm "Kopien" dieses Meisterwerks bestellen wollten. "Dann ergibt sich das Problem, dass man sich in seiner Kunst nicht wiederholen, und doch dem Wunsch des Auftraggebers entsprechen will", kommentiert er. So entstand 2011 der Cristo Despojado für eine Kirche in Salamanca – eine ähnliche Ikonographie und doch anders als der Christus für Cádiz. Mir persönlich gefällt letzterer besser, er wirkt andalusischer, stolzer und weniger leidend. Kichernd verrät uns der Maestro, wie er bei der Palmsonntags-Prozession in Cádiz eine vielleicht nicht mehr ganz nüchterne Zuschauerin sagen hörte, dieser Christus sei so schön, den würde sie gern mal begrapschen.



"Was fühlt man denn als Bildhauer, wenn man das erste Mal Zeuge wird, wie sein Werk bei einer Prozession durch die Straßen getragen wird?", will Vicente wissen. Romero Zafra lächelt und nickt: "Ja, das ist die Frage, die jeder irgendwann stellt. Ich kann nur sagen: große Aufregung und sogar Angst. Nicht nur Angst, dass meine Statue den Leuten nicht gefallen könnte, sondern eher Angst, dass mein Werk mir selbst nicht mehr gefallen könnte. Denn eine solche Statue wurde für die Altarbühne geschaffen, um mit dieser durch die Stadt getragen zu werden. Und bevor man sie nicht bei vollem Tageslicht oder im Kerzenlicht einer nächtlichen Prozession gesehen hat, bevor man sie nicht in Bewegung gesehen hat, kann man nicht sagen, ob das Werk wirklich gelungen ist oder nicht. Aber wenn man dann die Reaktionen und Gefühle der Menschen beobachtet, wenn man sieht, dass sie ergriffen sind und weinen, ist das für mich das Schönste, die wunderbarste Belohnung für meine Kunst!"

Dem können wir nur zustimmen und Vicente ergänzt: "Ja, die Semana Santa ist lebende Kunst außerhalb von Museen." Ich nehme diesen Gedanken auf und lege meine Überzeugung dar, dass der Semana Santa Kunst etwas gelingt, was der Kirche heute immer seltener zu gelingen scheint: die Menschen, bis hin zu Atheisten, im Gefühl mitzureißen, ihnen wenigstens in ein paar Momenten für die Ewigkeit eine sakrale Ergriffenheit zu schenken, die sie sonst vielleicht vergeblich suchen. Der Bildhauer stimmt zu: "Die religiöse Dimension der Semana Santa erfasst wohl nur der Gläubige, aber die menschliche Dimension kann jeder sehen. Denn es geht um menschliches Leid, um ein menschliches Gefühl – das wir automatisch vergöttlichen. Wenn ich eine Madonna erschaffe, dann stelle ich eine Frau dar, die leidet, die leidet wegen grauenhafter Ungerechtigkeit." Vicente ergänzt: "Ja, dieses Thema ist ewig und leider immer aktuell. Jeder kann das nachvollziehen – auch ein Atheist. Auch deshalb ist die Semana Santa so erfolgreich: sie zeigt uns das menschliche Gesicht des Göttlichen." Und dieses reflektiert sich in der genialen Kunst von Francisco Romero Zafra ganz besonders lebendig.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Vicente Camarasa + Berthold Volberg

Website des Bildhauers Francisco Romero Zafra: www.franciscoromerozafra.com

Bildergalerie:
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Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Bolivien: Junge Hoffnungsträger gegen Pestizide
 
Pestizide sind giftig und wer mit ihnen hantiert, muss Schutzkleidung tragen und Vorsicht walten lassen. Das steht hier in Deutschland auf jeder Flasche Pflanzenschutzmittel. Zudem gibt es hierzulande Behörden, die Mittel aus dem Verkehr ziehen, wenn sich herausstellt, dass es für Mensch oder Umwelt zu gefährlich ist. Soweit, so gut. Doch in den Ländern der 3. Welt gibt es oft keine Instanz, die diese giftigen Substanzen kontrolliert, und so können dort Insektizide ungehindert in den Kreislauf gelangen, die hier schon lange verboten sind.

Lehrer: Was macht der Mann da?
Schüler: Er besprüht seine Pflanzen.
Lehrer: Und was wird passieren?
Schüler: Das Wasser wird vergiftet.
Lehrer: Und was passiert, wenn die wir die Fische, die in diesem Wasser schwimmen, essen?
Schüler: Dann werden auch wir vergiftet.

27 Kinder sitzen dicht gedrängt auf ihren Holzschulbänken der Grundschule von Parotani in Bolivien. Einmal pro Woche dreht sich in ihrem Unterricht alles um das Thema Pestizide. Wie ihre Klassenkameraden trägt die 10jährige Nancy als Schuluniform einen mehr oder weniger weißen Kittel. Pestizide, das hat sie hier gelernt, sind gefährlich: "Die Pestizide schädigen die Pflanzen, die Menschen und die Tiere. Mein Vater hat früher auch Pestizide benutzt, einfach so, ohne Handschuhe oder anderen Schutz."

Parotani ist ein etwas größeres Dorf, rund zwei Autostunden von der Großstadt Cochabamba entfernt. Fast alle Menschen hier leben von der Landwirtschaft. Die Bauern verwenden massenhaft Pestizide und wissen meistens nichts über die Gefahren, die damit verbunden sind. Deswegen hat Giovanna Quiros Goméz das Thema auf den Lehrplan gesetzt: "Die Kinder helfen zu Hause auf dem Feld mit und werden später selber Bauern werden. Deshalb ist es wichtig, dass sie über Pestizide Bescheid wissen. Bislang verwenden die meisten Bauern hier das Gift. Die Kinder erzählen, dass es bei ihnen zu Hause in großen Behältern herumsteht." Giovanna Quiros Goméz ist sich sicher, dass die Pestizide gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder haben. Anders kann sie sich vieles, was ihr an den Schülern auffällt, nicht erklären: "Manchmal werden Kinder mit Missbildungen geboren und viele Kinder haben große Schwierigkeiten beim Lernen."

Im städtischen Krankenhaus von Cochabamba wird die Vermutung, dass Pestizide gesundheitliche Schäden anrichten, geteilt. Dr. Ramiro Cadima Flores ist Toxikologe und hat eine Studie durchgeführt, in der er untersucht hat, ob es Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch von Pestiziden und Missbildungen von Kindern gibt: "Was uns am meisten Sorgen bereitet, sind die chronischen Vergiftungen. Wir wissen von unseren Besuchen in den ländlichen Gebieten, dass es bei den Familien, die schon lange und übermäßig viele Pestizide verwenden, häufiger Missbildungen von Kindern gibt. Wir müssten noch weitere Studien machen, um den Zusammenhang eindeutig nachweisen zu können. Aber es ist auffallend."

Besonders häufig fällt ein Zusammenhang zwischen Fehlbildungen und Pestiziden dann auf, wenn  das verwendete Herbizid den Wirkstoff Glyphosat enthält,. "Glyphosat ist günstiger als andere Pestizide und wird deshalb am häufigsten verwendet. Vor allem dann, wenn es mit anderen Pestiziden vermischt wird, ist es besonders giftig. Es gibt eine Kombination, die bis zu 22 Mal giftiger ist als herkömmliche Mittel und dementsprechend gesundheitsschädlich. Das Glyphosat wird mit Flugzeugen über den Feldern versprüht. Alle möglichen Lebensmittel werden so behandelt: Zucker, Reis, Kochbananen, Palmherzen, Ananas …", erklärt Ramiro Cadima Flores. Doch einen wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, ist schwierig. Es fehlt an Geld für weitergehende Studien und es gibt in Bolivien keine Behörde, die regelmäßig Lebensmittel auf chemische Rückstände untersuchen würde. Doch Dr. Cadima Flores und sein Team fanden bei Stichproben unter anderem schwer belastete Tomaten und Gurken. Und das Gift findet sich nicht nur in den Lebensmitteln, es verbleibt auch im Boden und gerät ins Wasser.

Die Pestizide werden bei Weitem nicht nur von Plantagenbesitzern mit Flugzeugen verwendet, sondern auch von den Kleinbauern – und die kaufen die Chemikalien nicht in Fachgeschäften. Sie wissen nichts von Wechselwirkungen mit anderen Mitteln. Dass das Tragen von Schutzkleidung und Atemmasken beim Sprühen dringend angeraten wird, hat ihnen beim Kauf niemand gesagt. Warnhinweise oder Gebrauchsanweisungen gibt es meistens nicht. "Es gibt beim Vertrieb dieser Produkte keinerlei Kontrollen. Man kann die Pestizide einfach auf der Straße kaufen. Fliegende Händler bieten sie auf dem Markt in großen Kanistern an und haben selber keine Ahnung von dem, Produkt. Sie verkaufen die Pestizide, als wären es Brot oder Süßigkeiten", so Flores.

Die bolivianische Organisation centro de estudios e investigacion en impactos socio ambientales, kurz CEIISA, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Pestizide. Nach den Recherchen von CEIISA werden in Bolivien jedes Jahr 2.000 Personen in Krankenhäusern behandelt, die sich bei der Arbeit mit Pestiziden akut vergiftet haben. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. "Die Leute klagen über Kopfschmerzen und Übelkeit. Oft gibt es schlimme Hautausschläge. Und bei den langfristigen Folgen reden wir über Krankheiten wie Krebs", berichtet Alex Santivanies Camacho von CEIISA. Er kämpft dafür, dass zumindest die giftigsten Mittel auch hier vom Markt genommen werden. Doch bislang waren alle Bemühungen vergeblich. "Es fehlt uns an politischer Macht und es gibt bei diesem Thema enorme wirtschaftliche Interessen. Die Institution, die die Agrochemie reguliert, ist die SENASAC. Sie spricht jedoch nur die Empfehlung aus, bestimmte Mittel nicht zu verwenden, verbietet sie aber nicht."

Die wirtschaftlichen Interessen liegen nicht nur bei den Händlern, die mit dem Verkauf der Pestizide gute Geschäfte machen, sondern ebenso bei den Herstellern der Chemikalien. Und die sitzen ausnahmslos im Ausland; vorwiegend in den USA und Westeuropa. Den Zugang zum bolivianischen Markt verschafften sich die Unternehmen über Hilfsprojekte. "Die Einführung der konventionellen Landwirtschaft geschah größtenteils über amerikanische Hilfsorganisationen, die Bauern zum Thema Nahrungsmittelsicherheit schulten. Sie empfahlen für eine bessere Produktion den Einsatz von Pestiziden. Und diese Anbaumethode wird von Generation zu Generation weiter gegeben", erklärt Camacho.

Der Hof von Mario Valderama Penaloza ist nicht besonders groß: Acht Kühe, Hühner, Kaninchen und ein paar kleine Felder. Der Bauer nahm in den 90er Jahren an einer dieser Schulungen teil. "Meine Eltern und Großeltern haben keinerlei Chemie auf ihren Feldern verwendet. Aber im Jahr 2000 gab es hier ein Projekt zum Anbau von Zwiebeln. Die Agraringenieure sagten ‚Sprüht sie mit dem hier ein‘ und eure Ernte wird ergiebiger. Das haben wir gemacht", erzählt Penaloza.

CEIISA versucht nun das Rad zurück zu drehen und propagiert Anbaumethoden, bei denen auf die giftigsten Pestizide der Klassen 1a und 1b verzichtet wird. Die Organisation stellt Plakate auf, verteilt Flugblätter und sendet Radiospots wie folgenden: "Die Läuse auf meinen Tomaten werde ich mit diesem starken Insektizid besprühen. Die werden schon sehen … Oh, was passiert mit mir? Ich bekomme Kopfschmerzen und sehe nicht mehr richtig!" Mit Spots wie diesem sollen Bauern aufgeklärt werden. Die Überzeugungsarbeit ist mühsam, schon deshalb, weil viele Bauern gar keinen Zusammenhang zwischen dem Pestizideinsatz und gesundheitlichen Beschwerden herstellen. Aber manchmal gelingt sie – so, wie bei Mario Valderama Penaloza: "Als ich erfuhr, wie schädlich die Chemie für den Körper ist, dachte ich an meine Kinder und entschloss mich, Lebensmittel wieder wie früher anzubauen..." Heute verzichtet der Bauer auf Pestizide und künstliche Düngemittel – auch wenn seine Zwiebeln jetzt nicht mehr ganz so groß und makellos sind. Und er versucht, seine Nachbarn davon zu überzeugen, es ihm nachzumachen.

Die Kleinbauern zu erreichen ist aufwendig und mühsam – einfacher ist es, in die Dorfschulen zu gehen und das Thema Pestizide auf den Lehrplan zu setzen. CEIISA hat deswegen eine ganze Reihe Unterrichtsmaterialien aufgelegt, die den Schulen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Die Hilfsorganisation Terre des Hommes unterstützt die Arbeit von CEIISA. Sie setzt sich besonders für die Rechte von Kindern ein und der Vertreter von Terre des Hommes in Bolivien, Peter Strack, sieht beim Thema Pestizide eine Verletzung der Menschenrechte – denn die Menschenrechtskonvention sieht vor, dass alle Kinder das Recht haben, in einer gesunden Umwelt aufzuwachsen: "Wenn ein Kind mit einer Behinderung geboren wird, das keine Behinderung gehabt hätte, wenn es nicht diesen Pestiziden ausgesetzt wäre, dann ist das eine Verletzung seines Rechts. Wenn ein Kind in der Schule Lernschwierigkeiten hat, dann ist das eine Verletzung des Rechts auf bestmöglichste Entwicklung. Wenn die Kinder, sobald sie groß sind, dann soviel Gift angesammelt haben, dass sie an Krebs erkranken, dann sind das Menschenrechtsverletzungen."

Peter Strack sieht sich gerade als Vertreter einer deutschen Organisation besonders in der Pflicht – schließlich ist Deutschland ein wichtiger und bekannter Standort der chemischen Industrie und die in Bolivien eingesetzten Pestizide stammen zu einem guten Teil aus Deutschland. Manche sind hierzulande schon seit Jahren verboten. "Wir engagieren uns bei diesem Thema nicht nur in Bolivien,  sondern versuchen auch in Deutschland ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass dieses industrialisierte Entwicklungsmodel Folgen hat, die auch in Deutschland wahrgenommen werden sollten", so Strack.

Wenn in Deutschland der politische Wille dazu vorhanden wäre, dann könne auch von hier aus eine Menge getan werden, um den Einsatz der giftigsten Pestizide in der 3. Welt zu reduzieren.  "Der deutsche Staat sollte auf internationaler Ebene dafür sorgen, dass die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Regelungen im Umgang mit Agrarchemikalien von den entsprechenden Ländern auch angewendet werden", sagt Strack.

Doch solche politischen Prozesse sind langwierig – und bis die Kinder der 4. Klasse von Parotani in ein paar Jahren selber ihre Felder bestellen, dürfte sich noch nicht allzu viel verändert haben. Deshalb setzt das Schulprojekt von CEIISA nicht nur darauf, die Schüler über die Gefahren der Pestizide aufzuklären. In kleinen Schulgärten lernen die Kinder, wie sie Lebensmittel ohne Chemie anbauen können. Heute erklärt der Agraringenieur Elias Peres Sanchez die Herstellung eines natürlichen Düngemittels, bestehend aus Mist, Eierschalen, Zucker, Jogurt und anderen Zutaten. "Wir bringen den Kindern bei, wie man ökologischen Landbau betreibt. Hier in Parotani werden sehr viele Pestizide verwendet und wir wollen Alternativen aufzeigen. Die Kinder sind sehr interessiert. Sie bringen oft Insekten mit und sagen ‚Schau, ich habe neues Ungeziefer entdeckt, was können wir machen, um es zu bekämpfen‘", berichtet Sanchez.

Wenn die Kinder von früh auf lernen, dass es noch andere Möglichkeiten als den Einsatz von Chemie gibt, dann, so die Hoffnung, werden sie später auf Pestizide verzichten. Und vielleicht können sie heute schon ihre Eltern davon überzeugen.

Der 10jährigen Nancy ist das gelungen: " Es hat funktioniert! Meine Eltern habe  mir zugehört und mich verstanden und sie haben mir versprochen in Zukunft keine Pestizide mehr zu verwenden."

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_3] Brasilien: Caetano Veloso zum 70. (Teil 4)
Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
 
Frühjahr 1972: Zurück in Brasilien aus dem londoner Exil begibt sich Caetano umgehend ins Studio: Auf "Transa", sein erstes "experimentelles" Album, folgt "Araçá Azul", das noch ein Stückchen über das vorangegangene hinaus geht. Vielleicht ist konfus ein besseres Wort, um die LP zu beschreiben, mit der er "die Albträume von 1968 wieder aufleben" lassen und "das reaktivieren wollte, was [er] in jenem Moment des Konflikts im Sinn hatte." Und das war eine "verspätete Version des Albums, das [er] 1968/69 im Stile concretista-paulista zu gedenken hielt."



Was dabei heraus gekommen ist, ist eine LP mit avangardistischem Anspruch. Aber trotzdem eine schlechte Platte, technisch wie musikalisch, wie Caetano schnell klar wird: "In Brasilien gab es zu der Zeit bessere Musik wie Jorge Ben Jor..." Jahre später bezeichnet er den Caetano von damals als "verwöhntes Jüngelchen", unfähig zur Selbstkritik.

Fast durchgängig zeigt sich "Araçá Azul" ohne Sinn und Zweck, seltsame Gesprächsfetzen, die ohne ersichtlichen Grund planlos mit Geräuschen gemischt wurden wie "De palavra em palavra" und "De palavra / cravo e canela". Einzig "Tu me acostumaste", eine Komposition des Kubaners Frank Dominguez aus dem Jahr 1957, ist zu ertragen. Ansonsten ein wenig Rock ("De cara / eu quero essa mulher"), Batucada mit Samba ("Sugar cane fields forever") und ein Lied für den zukünftigen Nachwuchs ("Júlia / Moreno").



Nach dem grandiosen Scheitern der Platte – angeblich brachen die Rückgaben der Käufer an die Plattenläden sämtliche Rekorde – setzt sich Caetano zunächst ein vernünftiges Ziel: "Erst einmal die Bescheidenheit zurückgewinnen und danach bei technischen und kommerziellen Errungenschaften mitwirken."

Es folgt noch 1972 eine Liveplatte mit Chico Buarque, "Caetano e Chico juntos ao vivo", aufgenommen im Teatro Castro Alves in Salvador. Caetano zeigt eine wütende und deshalb brillante Interpretation von Chicos "Partido alto", danach "Tropicalia" (ebenfalls gelungene Interpretation) und Chicos "Morena dos olhos d`agua" und das in einer selten gehörten Schönheit. Caetano at his best! Weitere Höhepunkte der Platte sind "Você não entende nada / Cotidiano", "Os argonautas" und "A Rita".

Auf der Bühne präsentieren Chico und Caetano mehrere Stücke des damals von der Zensur verbotenen Musicals "Calabar". Überhaupt die Zensur – sie überdeckt ungewünschte Textzeilen einfach mit dem Applaus des Publikums.



Kurz darauf zieht es Caetano nach Rio de Janeiro, wo er eine Therapie beginnt. Die 70er Jahre gefallen ihm nicht, die neuen Kulturwellen aus Europa und den USA ebenfalls nicht. Er kommt einfach nicht an in diesem neuen Jahrzehnt und nach zwei Jahren in London irgendwie auch nicht in der alten Heimat.

Erst 1974 gibt er ein Lebenszeichen von sich: "Temporada de verão", live mit den Freunden Gilberto Gil und Gal Costa aufgenommen. Ein erster Hinweis auf die "Doces Bárbaros", die Band, die er mit den beiden und seiner Schwester Maria Bethânia 1976 ins Leben rufen wird. "Temporada de verão" bringt aber erst einmal nicht viel Neues, bis auf das nette "De noite na cama", mit dem Jahrzehnte später Marisa Monte einen Hit landen sollte.



Das Jahr 1975 wird zwei "Brüdern gleichende" LPs bringen, die mageren Jahre für Caetano sind vorüber und er setzt zu einem erneuten Höhenflug an. Der Meister ist zurück. Tudo Jóia?

Text + Fotos: Thomas Milz



Hier kommt ihr zu:
Teil. 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil. 2: London, London
Teil. 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





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[kol_1] Helden Brasiliens: 50 Jahre Garota de Ipanema
 
Die Mädels aus Rios mondänem Stadtteil Ipanema gelten als die schönsten des Landes. Ob wahr oder Legende – befeuert hat diese Idee das Bossa-Lied "Garota de Ipanema", das der Musiker Tom Jobim und sein Dichterfreund Vinicius de Moraes vor einem halben Jahrhundert geschrieben haben.

Various
Garota de Ipanema
Emarcy Records (Universal)

In der "Bar Veloso", im Herzen Ipanemas unweit des Strandes gelegen, hatten sich die beiden von einer damals 17-jährigen Blondine inspirieren lassen. "Olha que coisa mais linda…" – ob das wohl Tom Jobim ausgerufen hat? Oder eher der als Lüstling bekannte Vinicius? Immerhin weiß man, wer die damals vorbeischwingende Blondine war.

Heloísa Pinheiro heißt die heute 67-jährige. Mitte der 60er Jahre hatte Vinicius de Moraes sie in einem Zeitschrifteninterview als die wahre "Garota" enthüllt. Heloísa setzte diese Tradition fort und enthüllte sich selbst noch bis ins hohe Alter in Zeitschriften wie dem Playboy.

All das konnte die Welt nicht davon abhalten, "Garota de Ipanema" zum zweit-meist-gecoverten Song der Musikgeschichte zu machen. Nur "Yesterday" soll noch öfters von anderen Künstlern gecovert worden sein. Den Anfang machte dabei die Gesangscombo "Os Cariocas" aus Rio, die am 2. August 1962 zum ersten Mal "Garota de Ipanema" einspielte. Dieses Ereignis jährt sich damit nun zum 50.ten Mal. Wem man gratulieren soll? Am besten den Mädels vom Ipanemastrand, die immer noch atemberaubend schön sind.

Text: Thomas Milz
Foto: amazon

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 8)
 
Original: A buena hambre no hay pan duro.
Wortwörtlich: Bei großem Hunger gibt es kein (zu) trockenes Brot.
Sinngemäß: In der Not frisst der Teufel Fliegen.



Original: A poco pan, tomar primero.
Wortwörtlich: Bei wenig Brot, nimm Dir zuerst.
Sinngemäß: Jeder is(s)t sich selbst der Nächste.

Original: A más doctores, más dolores.
Wortwörtlich: Je mehr Ärzte, desto mehr Schmerzen.
Sinngemäß: Viele Köche verderben den Brei.

Original: Tener malas pulgas.
Wortwörtlich: Schlechte Flöhe haben.
Sinngemäß: Schlecht gelaunt sein.

Original: Mañana otro gallo cantará.
Wortwörtlich: Morgen wir ein anderer Hahn singen.
Sinngemäß: Morgen ist ein neuer Tag.

Original: Nadie nace con el manual bajo el brazo.
Wortwörtlich: Niemand wird mit der Gebrauchsanweisung unter dem Arm geboren.
Sinngemäß: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Original: Perro ladrador, poco mordedor.
Wortwörtlich: Bellender Hund, wenig bissig.
Sinngemäß: Hunde, die bellen, beissen nicht.

Original: Quien se acuesta con niños, mojado se levanta.
Wortwörtlich: Wer sich mit Kindern schlafen legt, wacht morgens nass auf.
Sinngemäß: Wie man sich bettet, so liegt man.

Original: Robando a Pedro para pagar a Pablo.
Wortwörtlich: Von Pedro rauben, um Pablo zu bezahlen.
Sinngemäß: Nimm es von den Armen und gib es den Reichen.

Text: Camila Uzquiano
Foto: Dirk Klaiber

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 6
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 7

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_3] Grenzfall: Gelungene Müllentsorgung – Eine Frage der Perspektive
 
Totale Aufregung in einem kleinen Dorf Kataloniens. Nach Jahrzehnten des Zerfalls wird gebaut: Sechs Reihenhäuser, ein Mehrfamilienhaus, das acht Wohnungen umfasst, und eine Straße, die neben allen anderen neu gepflastert wird. Das hat Signalwirkung – wir streichen auch. Im Februar / März 2012 ist die Bepflasterung der Straße zwischen den beiden neuen Wohnkomplexen an der Reihe inklusive dem Freiraum neben dem Wohnhaus. Und tatsächlich hat es den Anschein als entstünde ein Platz. Mit Spannung erwarten wir Bänke, Spielplatzgerät, Boulebahnen.

Der Freiraum befindet sich strategisch günstig in der Dorfmitte und direkt vor dem Gemeindezentrum für die älteren Herrschaften. Der Gedanke einer Begegnungsstätte für Alt und Jung ist beinahe eine städteplanerische Glanzleistung. Dann eines Morgens, die Bänke und ein kleiner Frischwasserbrunnen sind installiert, erhält die Querseite des neuen kleinen Platzes entlang der Straße eine Müllentsorgungsanlage. Diese besteht aus sieben Müllschluckern: vier für Restmüll, einen für Papier, einen für Glas und einen für Plastik.



Wir sind entsetzt und testen den Glascontainer. Wie nicht anders zu erwarten, knallen die Glasflaschen ungedämpft in die Tiefe und verursachen einen ohrenbetäubenden Lärm. Selbst auf unserer Terrasse in 50 Meter Entfernung ist der Aufprall noch deutlich zu vernehmen. Unsere Bekannten, die die Wohnung im ersten Stock des neuen Wohnhauses beziehen werden, von deren Balkon aus die Müllschlucker zum Greifen nahe sind, bedauern wir schon vor deren Einzug.

Dann kommt der große Tag der ersten Leerung. Zunächst wird die gesamte Anlage für den Restmüll nach oben gefahren und die selben grünen Tonnen, die bislang im Dorf verteilt standen, kommen zum Vorschein. Sie werden geleert wie gehabt und im Anschluss gewaschen. Auf unserer Terrasse zieht ein intensiver Duft nach Müll vorüber. Erneut müssen wir an unsere Freunde denken. Bevor die Anlage wieder runtergefahren wird, verschwindet die Müllabfuhr für gut eine Stunde. Als sie wieder da sind, kommen Glas, Plastik und Papier an die Reihe. Das Prozedere dauert gut zwei Stunden. Katalonien ist halt doch nur Spanien!



Nach dem Winter zurück in Berlin relativiert sich mein Entsetzen über die Wahl des Standortes für die dörfliche Müllanlage. Bei uns im Hinterhof quellen die Mülleimer über. Aufgerissene Tüten sind rund um die sechs Tonnen verteilt. In der Tonne für Organisches befindet sich auch nur Organisches, allerdings noch in Plastiktüten verpackt. Dann muss ich an meine Zeit in Köln denken als sich in den Straßen zu Papier- und Flaschencontainern kurzzeitig auch Container für Gelben-Punkt-Müll gesellten. Schnell sammelte sich Sperrmüll und normaler Hausmüll rund um die immer überfüllten Container. Es dauerte nicht lang bis sich Ratten eingenistet hatten. Ratten von der Sorte, bei deren Begegnung ich die Straße wechselte. Das schärfste in die Richtung ist mir am Messegelände passiert: Ein Job, Beginn sieben Uhr morgens. Ich warte auf Einlass und höre zunächst ein Rascheln, das sich schnell zu einem heftigen Sturm durchs Unterholz ausweitet. Gefühlt zieht fünf Minuten lang eine Armee riesiger Ratten im Laufschritt an mir vorbei. Eine nach der andern, Nase an Schwanz, grimmig dreinschauend, keine Angst kennend und auf Vernichtung aus.

Zurück in Katalonien erscheint mir die Müllanlage kaum noch als Störfaktor. Ich muss zudem gestehen, dass ich mit meiner Skepsis allein da stehe. Unsere Bekannten hebt die unmittelbare Nähe zum Müllschlucker nicht wirklich an. In der neuen Wohnung haben sie keinen Kamin mehr, in dem sie Verpackungen und Plastikflaschen verbrennen können. Sie haben sich daher schnell und schmerzlos mit der Situation des Mülltrennens angefreundet. Auf dem Platz sitzen sie und ich auch sehr gerne. Die Dorfalten haben ihn ebenfalls angenommen. Ratten habe ich schon seit Jahren keine mehr im Dorf gesehen. Und irgendwie beschleicht mich das sonderbare Gefühl, dass zumindest Teile Spaniens in Sachen Sauberkeit meiner deutschen Heimat um Längen voraus sind.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 08/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_4] Lauschrausch: Traurige Klänge zur Krise
Mísia, Mafalda Arnauth und Dona Rosa
 
Drei neue Produktionen aus Portugal stehen heute auf meiner Liste. Nicht unbedingt Musik für den Sommer, aber angesichts der Krise angebracht, obwohl Portugal von den "Südstaaten" die Wirtschaftskrise noch am besten meistert.

Mísias neue, extravagante Frisur läßt nicht darauf schließen, dass sich ihr neues Album, "Senhora Da Noite", wieder dem traditionellen Fado zuwendet, im Gegenteil. Aber tatsächlich stammen die meisten der 13 Titel aus dem klassischen Repertoire und sind entsprechend instrumentiert – portugiesische Gitarre, Gitarre, Bassgitarre –, ergänzt hier und da um Akkordeon, Geige und Klavier, was aber auch schon als "klassisch" gelten darf, seit Mísia diese Instrumente vor 20 Jahren, begleitet von viel Widerstand, in den Fado einführte.

Mísia
Senhora Da Noite
Pinorrekk / Edel

Die Texte hingegen stammen nicht aus dem "klassischen" Fado-Repertoire, sondern wurden von Dichterinnen verfasst, entweder direkt für Mísia oder von ihr ausgesucht. So wählte sie für den instrumentalen Klassiker "Fado das violetas" Worte der 1930 gestorbenen Dichterin Florbela Espanca aus, für "Ulissipo" ein Gedicht von Rosa Lobato de Faria. Für das Titelstück, dessen Musik vom Gitarristen Armandinho komponiert wurde, schrieb Hélia Correia über eine geheimnisvolle Frau in der Nacht, "Tarde longa" von Lidia Jorge, handelt von der Liebe, wie überhaupt fast alle der Stücke. Mísia hat nur für den Fado-Menor "O manto da rainha" selbst einen Text verfasst. Heraus sticht der fröhliche Fado-Corrido "Garras dos sentidos II", in dem es heißt: "Leidenschaften sind ein fröhliches Fest der Tränen". Die Rückwendung zum klassischen Repertoire wird unterstrichen durch einen fröhlichen Potpourri traditioneller Fados mit Texten der "Königin" des Fado, Amália Rodrigues.

Auch Mafalda Arnauth widmet sich auf "Fadas (Feen) dem traditionellen Fado. Aus einem Konzert von Standards ging die Idee hervor, den bedeutenden Frauen des Fado ein Album zu widmen. So interpretiert sie Titel, die von Legenden wie Amália Rodrigues, Hermínia Silva, Fernanda Baptista und anderen gesungen wurden, erweitert um ein Stück von Astor Piazzolla ("Invierno porteño") mit einem Text von Eládia Blásquez.

Mafalda Arnauth
Fadas
galileo mc

Allerdings erweitert sie die klassische Instrumentierung, so dass auch schon mal ein Saxophon erklingt ("Marujo portugues"), ebenso Akkordeon ("Vira da minha rua") und Cello ("Antigamente") - und auch Bläsersätze finden ihren Raum. Nicht alles klingt melancholisch, "Tendinha" flott, "Vou dar de beber à alegria" sogar fröhlich. Ein innovativer und respektvoller Umgang mit dem traditionellen Fado.

Dona Rosa macht es noch einmal anders. Ihre Lieder sind überwiegend nicht dem klassischen Fado zuzurechnen, trotzdem klingt ihr Gesang ähnlich und ist von gleicher (oder größerer?) Melancholie durchdrungen. Sie singt eher Volkslieder oder Fado-Castiço, eine volkstümliche Variante. Auf "Sou luz" wechseln sich Ohrwürmer, wie "Mudei de olhar" oder "Lago de ontem", die als Folk-Pop durchgehen, mit bekannten Melodien, wie dem (Kinder)Lied "Alecrim" ab, und schrappen dabei manchmal nah am Kitsch vorbei.


Dona Rosa
Sou Luz
Jaro

Dann aber erdet uns die blinde Sängerin wieder mit traurigen Balladen ("Asa de anjo"), einem traditionellen Lied, "Nesta terra portuguesa", in dem sie nur die Triangel spielt, so wie sie es viele Jahre als Straßensängerin gemacht hat, oder mit ihrer eingesprochenen, traurigen Lebensgeschichte, die von eben diesem Leben auf der Straße berichtet, von ihrer Erblindung und weiteren Schicksalsschlägen: "Ich schließe meine Augen, um besser sehen zu können!"

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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