caiman.de 08/2010

[kol_2] 200 Jahre Befreiung: Im Interview mit Barbara Potthast

In den Jahren 2009 bis 2011 feiern neun Staaten Lateinamerikas ihre Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien, wobei im Jahr 2010 die 200-Jahr-Feiern - bicentenario - ihren Höhepunkt erreichen. Torsten Eßer hat mit Barbara Potthast, Professorin für Iberoamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln, über die Unabhängigkeit, ihre Folgen und die Perspektiven für den Kontinent und Argentinien, das Gastland der Buchmesse in Frankfurt 2010, gesprochen.


1810/ 2010! Viele Staaten Lateinamerikas feiern ihre 200-jährige Befreiung von der Kolonialherrschaft. Was hat ihnen die Befreiung gebracht?
Durch die Eigenstaatlichkeit konnten die Eliten die Geschicke ihrer Regionen in die eigenen Hände nehmen. Allerdings befreite sie das nicht völlig vom Einfluss externer Mächte. Die neue Freiheit war daher begrenzt: In Argentinien zum Beispiel durch die Exportabhängigkeit. Das Grundproblem, das dort seit Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Eingliederung in die Weltwirtschaft existierte, bestand in der ausschließlichen Nutzung des komparativen Vorteils, also in der Produktion von Rohstoffen. Somit war man abhängig von den Weltmarktpreisen. Und heute setzt die argentinische Wirtschaft wieder auf den Export, diesmal von Soja und reproduziert so dieselben Abhängigkeiten wie schon in der Vergangenheit. Das Land hinterfragt diese Politik immer nur in Krisenzeiten und kehrt sonst zum business as usual zurück.

Sie haben sich sehr stark mit der Geschichte der Rolle der Frauen in Lateinamerika/Argentinien beschäftigt. Da fällt mir Carmen Lavera ein, die schon 1896 in Argentinien das Recht auf freie Liebe gefordert hat. Das war doch auch mit Sicht auf Europa sehr fortschrittlich, oder?
Ja, aber das blieb eine Ausnahmeerscheinung, auch wenn es in Mexiko ebenfalls solche Forderungen gab. Sie stießen leider bei den meisten Frauen auf großes Unverständnis. Andererseits ist es so, dass Frauen in Lateinamerika gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine andere Rolle spielten, als wir uns das allgemein vorzustellen scheinen. Man findet dort sehr früh gebildete Frauen, die Universitäten hatten ihre Tore - widerwillig - für Frauen geöffnet, zu einer Zeit als in Deutschland noch keine Frau studieren durfte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielten Frauen durchaus eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, in ihrer Funktion als Ärztinnen und Lehrerinnen, allerdings nur in Bereichen, die der Gesellschaft als Verlängerung der Mutterrolle galten und dem Männlichkeitsideal nicht gefährlich werden konnten.

Aber Evita hat sich doch darüber hinweggesetzt…
Sie ist zugleich eine spannende und eine zwiespältige Figur. Einerseits hatte sie sich vom traditionellen Feminismus abgewandt, andererseits durch ihr Beispiel und auch durch einige Gesetze, die sie anschob, sehr viel für die Frauen in Argentinien bewirkt. Und sie hat sich um die Frauen der Unterschicht bemüht. De facto hatte sie aber keine politische Macht, alles geschah nur aufgrund ihrer starken Persönlichkeit.

Kann man einen Vergleich zu Cristina Kirchner ziehen?
Nein, sie ist nur genauso hartnäckig. Aber sie ist keine Frau aus dem Volk und handelt kaum eigenständig, nur im Tandem mit ihrem Mann.

Ist der Feminismus durch Revolutionen - z.B. in Kuba oder Nicaragua - gestärkt worden?
In der kubanischen Revolution gab es einige Fortschritte, in Nicaragua eher weniger. Es ist das alte Dilemma zwischen Feminismus und linker Politik, dass nämlich die Männer auf dem Standpunkt stehen, dass sich die Probleme der Ungleichheit durch den Sieg der Revolution von selbst lösen würden. Aber nach der Revolution haben viele Frauen, die in der Guerrilla gekämpft hatten, im revolutionären Staat gesehen, dass das nicht so ist. Das Machtgefälle blieb erhalten. Allerdings entwickelten sich aus diesem Grund im weiteren Verlauf einige Frauen zu radikalen „Frauenpolitikerinnen“.

Wieso ist die Identität für viele Lateinamerikaner ein so wichtiges Thema?
Einerseits, weil eine so große ethnische Heterogenität, wie sie sich in vielen Ländern Lateinamerikas darstellt, keine simplen Identitäten zuläßt. In der Oberschicht existieren oft länderübergreifende kulturelle Traditionen, die sich aber von den unteren Bevölkerungsschichten im eigenen Land stark unterscheiden. Andererseits ist diese Frage verknüpft mit dem Problem der Abgrenzung: Lateinamerikaner haben oft das Problem, nicht zu wissen, von wem sie sich abgrenzen sollen. Wie grenzt sich ein Argentinier von einem Chilenen ab, oder ein Peruaner von einem Ecuadorianer? Sie sprechen die gleiche Sprache, waren - zumindest bis vor kurzem - alle katholisch, sie haben alle die spanische Verwaltungsstruktur geerbt etc. So sind Abgrenzungskriterien wesentlich schwieriger zu finden als in Europa. Anscheinend gehört der Wille zur Abgrenzung aber zum menschlichen Charakter dazu. Das zusammen zu bringen und daraus eine eigene Identität zu entwickeln, ist problematisch.

„Ich werde sterben, doch ich werde wieder auferstehen und Millionen sein“, sagte der Aymara-Häuptling Tupaq Katari kurz vor seiner Hinrichtung durch die Spanier 1781. Die Geburtsraten der indigenen Bevölkerung nehmen überall überproportional zu. Wird er Recht behalten?
Ich denke schon. Und das kann man nicht nur numerisch belegen; entscheidender ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren, aber auch schon einmal vor rund 100 Jahren, die indigenen Völker sich auf ihre eigene Kultur besinnen und politische Forderungen stellen. Ausschlaggebend wird sein, nicht wie viele Individuen sie sind, sondern wie stark sie ihre Identität wahrnehmen und verteidigen.

Argentinien hat sich dieses „Problems“ ja durch die nahezu vollkommene Ausrottung der Urbevölkerung entledigt…
Nein, die Indigenen wurden nicht komplett ausgerottet. Aber diese Annahme gefällt den Regierenden, denn so braucht sich die Gesellschaft nicht um den Rest zu kümmern.

Was kann die Welt von Lateinamerika lernen?
Ein wichtiger Faktor, der Lateinamerika von allen anderen Kontinenten unterscheidet, ist die lange Erfahrung mit interkulturellen Situationen. Es ist der Multikultikontinent par exellence. Natürlich existiert auch dort noch Rassismus, aber man hat Formen entwickelt, damit umzugehen. Die Kulturen fast aller Länder dort sind stark geprägt von verschiedenen ethnischen Substraten und über die Jahrhunderte hat man nicht nur gelernt, damit zu leben, sondern auch etwas daraus zu machen.

Zum Schluß noch ein Klischee oder eine Wahrheit: Lateinamerikaner sind lebensfroher als Europäer!
Die Lateinamerikaner leben stärker in der Gegenwart und machen sich nicht ganz so viele Gedanken um ihre Zukunft, was sie in vielen Fällen auch nicht können, da ihre Lebenssituation sehr viel instabiler ist und die politischen Verhältnisse ebenso. Das führt zu einer größeren Unbeschwertheit im täglichen Leben. Lateinamerikaner arbeiten oft auch sehr hart, aber sie feiern ausgelassener und zeigen ihre Lebensfreude deutlicher als z.B. die Deutschen. Hinzu kommt das Klima; das Leben findet weitestgehend "auf der Straße" statt. Das macht die Freude sichtbarer und die Fröhlichkeit wirkt ansteckend.

Interview: Torsten Eßer

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