caiman.de 07/2010
[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VIII) Sturzfahrt auf der Todesstraße Der Ausflug in die Höhen um La Paz war wie ein Blasebalg gewesen, dessen Luft in die Glut meiner Abenteuerlust gefahren war. Allzu lang hatte sie vor sich hingeschwelt. Einige Wasserfälle emporklettern hier, ein paar Entführungsversuche dort, das war ja nichts. Jetzt galt es, Gefahren aufzusuchen, sich in Situationen zu begeben, in denen die Kontrolle ein Seiltänzer war, der jederzeit abstürzen konnte! Gleich in der Nähe von La Paz wurde ich fündig. Während sich Hannah anschickte, ihren ersten Fünftausender zu besteigen, beschloss ich, dem Camino de la Muerte einen Besuch abzustatten. Folgende Gründe sprachen dagegen, dass ich die "Todesstraße" auf einem ausgeliehenen Mountain Bike herunterbretterte:
Den genannten Einwänden standen allerdings ebenso relevante Argumente gegenüber, die dafür sprachen, dass ich es doch versuchen sollte:
"Mal sehen, wie viele von uns unten ankommen!", frotzelte Marc, der aus Wisconsin stammte und versuchte, seine Furcht zu bekämpfen, indem er pausenlos witzige Bemerkungen absonderte. Listo?, "bereit?", rief unser bolivianischer Anführer, dann saßen wir auf und folgten ihm in die erste Nebelwand hinein. Ich war als Vierter gestartet. Gleich nach dem Start überholte ich eine Schweizerin, die sich noch an die Löcher im Asphalt gewöhnen musste. Kurz darauf ließ ich auch Marc rechts hinter mir zurück. Jetzt befand sich nur noch Christian zwischen mir und unserem bolivianischen Führer. Ich ließ beide Bremsen los. Das Geräusch der Reifen, die sich immer schneller auf dem Teerbelag drehten, schwoll an, bis es die Lautstärke eines Motors erreichte. Unseren Führer konnte ich nur hören. Er musste direkt vor mir sein, blieb jedoch von dichtem Nebel verschluckt. Links huschten gezackte Felsen vorbei, überzogen von schmutzigbraunen Schneefeldern, aus denen heraus Rinnsäle quer über die Straße flossen. Ich preschte durch sie hindurch, ohne sie genauer wahrzunehmen. Um mich herum wirbelten Schneeflocken; manchmal stieß mich eine Böe derb in die rechte Flanke. Was für ein verrückter Tanz am Rand des Abgrunds! Ich überholte spuckende Traktoren und rostübersäte Lastwagen. Mein Vorderrad schlang Boden in sich hinein, spuckte ihn hinter sich wieder aus. Wäre Hannah jetzt bei mir, hätte sie mir vermutlich erklärt, dass in ebendiesem Moment das Mark meiner Nebenniere vermehrt ein vasokonstriktives Catecholamin mit Namen Adrenalin herstellte. Sie hätte mir erläutert, dass dieses Adrenalin die Muskelphosphorylasen über Betarezeptoren und auch das Adenylatcyclasesystem aktiviert und gleichzeitig die Fettsäurenoxidation anregt, was einen erhöhten Sauerstoffverbrauch nach sich zieht. In diesen Höhen sei mir das ebenso wenig zuträglich wie der gleichzeitige Blutdruckanstieg, zumal die Nierendurchblutung zeitgleich eingeschränkt werde. Nicht verkneifen würde sie sich den Hinweis, dass all dies dafür sorgte, dass meine Libido eine Pause einlegte. Zu meinem Glück werde das Adrenalin aber rasch durch Catechol-O-Methyltransferase abgebaut und als 3-Methoxy-4-hydroxymandelsäure mit dem Harn ausgeschieden. Da Hannah jedoch nicht bei mir war, blieben mir diese Vorgänge allesamt verborgen. Ich nahm nur wahr, dass mein Herz wie wahnsinnig klopfte, dass ich nach Atem hechelte, und dass mir alles unglaublich viel Spaß bereitete. Ich schrie und jauchzte die Felswände an; jubelte auf Deutsch und Spanisch in die Nebel hinein. Bis ich plötzlich an einem grünroten Farbfleck vorbeischoss, der mir irgendetwas hinterher schrie: unserem Reiseführer. Als ich mich umdrehte, war er bereits im Nebel verschwunden. Sofort zog ich beide Bremsen an. Die Vorderbremse reagierte unverzüglich und verbiss sich in das Gummi des Reifens. Die Hinterbremse tat es ihr vorerst nach, lockerte dann jedoch unvermittelt ihren Biss und sprang auf. Sofort geriet das Fahrrad unter mir ins Schlingern. Ich musste auch die Vorderbremse lösen. Ungleich sachter zog ich den Bremsgriff anschließend zum Lenker hin bis mein Gefährt nach einer gefühlten Ewigkeit zum Stillstand kam. Mein Bremsweg betrug über einen halben Kilometer.
"Eine Schraube ist heruntergefallen", bemerkte unser Reiseführer lapidar, als er mich nach knapp zehn Minuten eingeholt hatte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass diese Schraube ein zugegebenermaßen kleines, nichtsdestotrotz aber wichtiges Teil der Hinterbremse gewesen war. Unser Reiseführer murmelte unverständliche Worte. "Da hast du Recht!", gab er sich schließlich verständig. "In deinem Tempo würdest du auf keinen Fall heil unten ankommen! Da ich nicht annehme, dass du die Geschwindigkeit drosseln willst, geben wir dein Rad einfach dem langsamsten Teilnehmer. De acuerdo, einverstanden?". Das war eine echt bolivianische Lösung. Zum Glück war die letzte Teilnehmerin, eine Französin, die mit weit aufgerissenen Augen in den Nebel starrte, gerne bereit, ihr Rad mit meinem zu tauschen. Auf diese Weise habe sie einen Grund mehr, langsam zu fahren, betonte sie. Als ich sie fragen wollte, weshalb sie dieses Wagnis überhaupt eingegangen war, hatte unser Reiseführer bereits wieder sein listo? gerufen und mir einen Wink gegeben. Bei meinem Neuerwerb griffen beiden Bremsen problemlos was ein guter Grund für mich war, sie vorerst nicht zu benutzen. Weit über den Lenker gebeugt, preschte ich die "Todesstraße" hinab. Farben und Formen huschten an mir vorbei; in den immer häufiger werdenden Nebellöchern wehte mir der Wind Landschaft in die tränenden Augen. Der Boden wurde zunehmend weicher; Lehm und Matsch nahmen Geröll und Kieseln immer mehr Terrain ab. Längst hatte ich unseren Reiseführer überholt und lieferte mir ein Wettrennen mit Christian, der ebenso besessen war wie ich, immer wieder von Neuem gerade bis an den Punkt zu gehen, an dem man die Kontrolle verlor. In einer besonders engen Linkskurve ging ich gar eine Spur über diesen Punkt hinaus. Ein winziges Quentchen nur, aber das genügte vollauf. Ein Felsbrocken lag auf der Straße. Ich sah ihn eine halbe Sekunde, bevor er den Schlauch meines Vorderrads aufgeschlitzt hätte. Seine gezackten Ränder erinnerten an die Zähne eines Raubtiers. Ich riss mein Rad rechts an ihm vorbei. Weg, nur weg vom Abgrund links von mir, schoss es mir durch den Kopf. Durch das Ausweichmanöver geriet ich in eine Mischung aus Lehm und Matsch, die mein Rad sofort in eine Schräglage schob. Plötzlich war der Boden ganz nah. Er flog auf mein Gesicht zu, das mit Matsch besprenkelt wurde. Geistesgegenwärtig warf ich mich auf die rechte Seite, wodurch sich mein Rad kurzfristig wieder aufrichtete. Dafür geriet es im schlammigen Untergrund ins Schlingern. Links und rechts brach es aus, schlitterte mit dem Hinterrad über den Boden und verhakte sich schließlich an einem besonders großen Kiesel. Ich bemerkte noch, wie der Lenker meines Fahrrads plötzlich unter mir war und fragte mich, was er dort zu suchen hatte; er gehörte doch definitiv nicht an diesen Platz. Dann bekam ich einen herben Schlag auf den Kopf. Schwarz zog vor meinen Augen auf. Als ich sie wieder öffnete, saß ich in einem kniehohen Bach. Christian rief mir immer wieder etwas zu. Mein Rad lag zehn Meter weiter auf der Straße. Mein rechtes Schienbein gab ohne Unterlass Blut an das umgebende Wasser ab. Es breitete sich aus und entwarf interessante Muster an der Oberfläche. In meiner rechten Hand hatte ich kein Gefühl mehr. Christian stieg jetzt vom Rad und rannte auf mich zu. "Bist du okay?", rief er. Seiner Schilderung nach hatte ich mich während meines unfreiwilligen Abstiegs vorbildlich verhalten. Solange es ging, hatte ich gebremst, dann hatte es mich nach vorn über das Rad geschlagen. Ich hatte es im entscheidenden Moment von mir gestoßen und mich nach meiner Begegnung mit dem Boden gekonnt zur Seite gerollt. Dabei hatte ich unglaubliches Glück gehabt: Der Bach hatte meinen Sturz aufgefangen. Wäre dasselbe Ereignis weiter oben passiert, dort, wo der Boden noch gefroren war, hätte ich mir mit Leichtigkeit einige Knochen brechen können. So jedoch hatte es von Christians Warte aus den Anschein gehabt, als wisse ich genau, was ich tat, ja fast, als hätte ich nie etwas anderes gemacht als auf glitschigen Straßen vom Fahrrad zu stürzen. Unser Reiseführer sah den Vorgang etwas anders. Ich musste mir eine Standpauke anhören und ihm versprechen, in Zukunft hinter ihm zu bleiben. "Weißt du, was passiert wäre, wenn du nicht auf die rechte, sondern auf die linke Seite gestürzt wärst?", fragte er herausfordernd. Er führte mich zum linken Straßenrand, von dem aus sich der Bach in eine Leere ergoss, die erst tausend Meter tiefer durch die Baumgipfel des Nebelwaldes gefüllt wurde. "Deine Chancen standen fifty-fifty. Bislang ist übrigens noch keiner meiner Mountain Biker auf die linke Seite gestürzt. Ich möchte, dass dies auch so bleibt." Er konnte es sich nicht verkneifen, mir bei diesen Worten zuzublinzeln. Ich war in seiner Achtung gestiegen, weil ich, genau wie er, meine Grenzen verschieben wollte. Er ging normalerweise auch aufs Ganze, war bereits zweimal an derselben Stelle gestürzt. Einmal hatte er sich zwei Rippen auf der "Todesstraße" gebrochen, dreimal musste ihm ein Bein eingegipst werden. Dies alles erfuhr ich allerdings erst auf der Rückfahrt. Natürlich raste ich trotz blutendem Schienbein und geschwollenem Handgelenk weiter wie zuvor und wurde von den Anderen nach meiner innigen Begegnung mit der bolivianischen Flussflora el alemán loco, "der verrückte Deutsche", genannt. Seit meinem Purzelbaum hatte sich die Landschaft verändert. Links der Straße begannen Sträucher vorbeizurasen, später gar Bäume. Die Wasserfälle trafen nicht länger Hunderte Meter weiter unten auf Grund, sondern bereits mitten auf der Straße. Mehrmals mussten wir direkt durch sie hindurch, wobei unser Reiseführer jedes Mal betonte, die Dusche sei im Preis inbegriffen. Dann führte uns die Straße hinein in die Nebelwälder. Dicht an dicht stehende Giganten schluckten die Wolken, die die Ostflanke der Anden hinab glitten und spuckten sie als Nebel wieder aus. Kolibris umschwirrten uns, als wir in das satte Grün fuhren. Adler kreisten über uns und ein rotgelbgrüner Papagei drehte erst ab, als wir ihn fast über den Haufen gefahren hatten. Es kam mir vor, als wolle die Natur hier unten all das nachholen, was sie im kargen Hochland nicht vollbringen konnte. Von allen Seiten wucherte, rankte, platschte, raschelte, zirpte, schwirrte und schrie es. Manchmal wussten wir nicht, ob wir in einen Garten Eden gelangt waren oder doch versehentlich die Abzweigung zu einer lärmenden, pulsierenden Hölle genommen hatten. Wir waren die üppige Vielfalt der Tropen nicht gewöhnt. Gleichzeitig wussten wir, dass der Wind keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt Eisbrocken auf gefrorene Böden legte und alles über den Haufen pustete, was sich ihm in den Weg stellte. Unser Reiseführer bog in eine Hotelanlage ab. Christian und ich folgten ihm und hielten auf den Gebäudekomplex zu. Die Anderen waren weit abgeschlagen. Die Französin mit meinem ersten Fahrrad sollte erst drei Stunden später ankommen. So blieb Zeit genug, ausgiebig zu duschen, uns durch ein Sonnenbad von den Strapazen zu erholen und anschließend das aufgebaute Büffet zu plündern, das wir uns mit zwei besonders dreisten Papageien teilen mussten. Ich gönnte mir eine Extraportion Ceviche, sushiähnliche Rohfischstücke, gefolgt von einem gut durchgebratenen Lamasteak, dessen Geschmack leicht an Leber erinnert. Erst als die ersten Baumkronen begannen, sich vor die Sonne zu schieben, trommelte unser Reiseführer zum Aufbruch. Ein klapperndes Scheusal, das einem Bus vor vielen Jahren ähnlich gesehen haben mochte, brachte uns die "Todesstraße" wieder hinauf und zurück nach La Paz. Es war kurz vor Mitternacht, als ich das Hotelzimmer betrat, in dem Hannah bereits halb eingeschlafen war. "Und", fragte sie mit halb geschlossenen Lidern und jenem nörgelnden Tonfall, der den Müden gemein ist, "wie war dein Tag? Hast du etwas Besonderes erlebt?"
Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires Teil II: Vom Fluss verschluckt Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten Teil VI: Besuch im "Café Aussichtspunkt" Teil VII: In Boliviens Drogenhauptstadt [druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien] |