caiman.de 07/2010

[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VIII)
Sturzfahrt auf der Todesstraße
 
Der Ausflug in die Höhen um La Paz war wie ein Blasebalg gewesen, dessen Luft in die Glut meiner Abenteuerlust gefahren war. Allzu lang hatte sie vor sich hingeschwelt. Einige Wasserfälle emporklettern hier, ein paar Entführungsversuche dort, das war ja nichts. Jetzt galt es, Gefahren aufzusuchen, sich in Situationen zu begeben, in denen die Kontrolle ein Seiltänzer war, der jederzeit abstürzen konnte!



Gleich in der Nähe von La Paz wurde ich fündig. Während sich Hannah anschickte, ihren ersten Fünftausender zu besteigen, beschloss ich, dem Camino de la Muerte einen Besuch abzustatten. Folgende Gründe sprachen dagegen, dass ich die "Todesstraße" auf einem ausgeliehenen Mountain Bike herunterbretterte:
  1. Die "Todesstraße" stürzt auf vierundsechzig Kilometern Länge die Ostflanke der bolivianischen Anden hinab, von 4.700 auf 1.400 Meter. Von den Vereinten Nationen ist sie zur "gefährlichsten Straße der Welt" gekürt worden. Zu Beginn wartet sie mit Eis und Schnee auf, die der Bergwind die felsigen Hänge hinauf- und hinuntertreibt. Dann überspringt "the world’s most dangerous road" kurzerhand die gemäßigte Klimazone und stürzt direkt in das tropische Tiefland. Genauer gesagt in die yungas, die Nebelwälder, die ihren Namen zurecht tragen: Über ihnen bilden sich jeden Tag dichte Regenwolken, zumindest jedoch feuchte Nebelbänke.  
  2. Die Unzulänglichkeiten einer bolivianischen "Straße" werden von der "Death Road" noch übertroffen. Straßenschilder fehlen ebenso wie Markierungen. Die einzigen Hinweise auf menschliche Eingriffe sind die weißen Kreuze, die entlang der Todesstraße an Verunglückte erinnern. Im Jahr 2003 geschah der bislang schwerste Unfall: Ein Bus mit vierzig Personen an Bord rutschte bei einem Ausweichmanöver über die Böschung. Keiner der Insassen überlebte den Sturz in den dreihundert Meter tiefen Abgrund.
  3. Auf der einen Seite der "Todesstraße" erhebt sich eine gezackte Felswand, die für ihre Steinschläge und Erdrutsche bekannt ist. Auf der anderen Seite geht es zuweilen 1.500 Meter senkrecht nach unten.
  4. Die "Todesstraße" ist praktisch das Gegenteil einer asphaltierten Straße. Kleine Flüsse kreuzen ihren Weg und münden direkt danach in imposante Wasserfälle. Manchmal sind notdürftig ein paar Bretter über sie gelegt. Meist jedoch muss man mitten durch sie hindurch. Im oberen Abschnitt besteht der Boden aus halbgefrorener Erde, die neben Eis und Schneeresten auch mit Geröll und Felsbrocken bedeckt ist. Auf ihrem Weg hinunter in die Nebelwälder geht er dann mehr und mehr in eine Mischung aus Lehm und Schlamm über.
  5. Die "Todesstraße" ist einspurig, was weniger an der fehlenden Fahrbahnmarkierung liegt, als vielmehr daran, dass für mehrere Spuren einfach kein Platz ist. Als einzige Straße in Bolivien wurde hier der Linksverkehr eingeführt. Sollte es während der Fahrt regnen, würde sich der Boden in eine glitschige Mischung aus Schlamm und Geröll verwandeln. Bäche aus abfließendem Wasser würden abwärts stürzen. Erfahrungsgemäß regnet es täglich.
  6. Auf dieser Straße fahren genau die Lastwagen und Busse hinauf und hinunter, die in Europa und in den USA vor fünfzehn Jahren ausgesondert worden sind. In der Regel sind sie überbeladen; nicht selten ragt ihre Ladung links und rechts über die Karosserie hinaus. Sie bringen beispielsweise Bananen nach La Paz oder Stoffe und Kunsthandwerk hinunter in die Dörfer der yungas. Begegnen sich zwei Busse oder Lastwagen unterwegs, muss der obere von ihnen mit den linken Rädern über den Abgrund hinausfahren, damit sie aneinander vorbei passen. Oft geschieht dies mit einer gewissen Beherztheit, weil insbesondere die jungen Fahrer Mutproben bei ihren Freunden abzuliefern haben und dabei gerne mit Alkohol, in jedem Fall jedoch mit Coca nachhelfen, ehe sie sich auf die "death road" wagen.
  7. Ob das ausgeliehene Fahrrad einer kritischen Überprüfung standhalten würde, war mehr als fraglich. Tatsächlich sollte sich schon kurz nach der Abfahrt herausstellen, dass die Hinterbremse nicht funktionierte.
  8. Bei sorgfältiger Betrachtung der oben genannten Punkte verriet mir mein gesunder Menschenverstand, dass es sicherer war, mich zum Beispiel vor einen Zug zu werfen.
Besonders zu schaffen machte mir, dass es wenig originell war, auf einer Straße zu sterben, die die "Todesstraße" genannt wird. So hatte ich mir mein mögliches Ableben, mal abgesehen vom Zeitpunkt, nicht vorgestellt. Lieber hielt ich es mit dem australischen Tierfilmer und "crocodile hunter" Steve Irvin, der jahrelang Krokodile mit bloßen Händen fing, sich an die giftigsten Schlangen der Welt schmiegte, mit Taranteln befreundet war und sich am Ende als zweiter Mensch überhaupt von einem erschreckten Stachelrochen ins Herz stechen ließ.

Den genannten Einwänden standen allerdings ebenso relevante Argumente gegenüber, die dafür sprachen, dass ich es doch versuchen sollte:
  1. Sollte ich heil ankommen, würde ich unten ein T-Shirt mit der Aufschrift "Death Road Survivor" erhalten.
  2. Seit gut einer Woche reiste ich in Begleitung einer jungen Dame. Betrachtet man die Hintergründe von Feldzügen, die Höchstleistungen von Sportlern und Künstlern und die Szenen in Hollywoodfilmen, stellt man fest, dass die bloße Anwesenheit eines weiblichen Wesens die Bereitschaft der Männer, dumme Dinge zu tun, exponentiell steigert. Interessanterweise führt hingegen die Anwesenheit eines Mannes keineswegs zu ähnlichen Aktionen bei den Damen, höchstens zu lang anhaltendem Kichern, wenn sie jung sind, und zu besonders barschen Tönen, wenn sie Temperament vortäuschen wollen. In meinem Fall kam erschwerend hinzu, dass meine Reisebegleiterin abenteuerlichen Aktionen keinesfalls abgeneigt war, was meinen Ehrgeiz anstachelte.
  3. Es war ohnehin mal wieder Zeit für eine sportliche Betätigung.
  4. Was nicht tötet, härtet ab und macht stärker. Kommende Herausforderungen würden an Schrecken verlieren und an Reiz gewinnen. Außerdem gab es in ganz Bolivien keinen Zug, vor den ich mich hätte werfen können.
Wir waren eine seltsam anmutende Armee, angetreten kurz nach Sonnenaufgang, um in die Schlacht gegen unsere Angst zu ziehen. Vom Veranstalter hatten wir schmutzübersäte Fahrräder bekommen und eine Uniform, die aus einem blaugelben T-Shirt, einem Fahrradhelm, dicken Fäustlingen und einer grünroten, Wind abweisenden Regenjacke bestand. Neben mir war ein Dutzend gringos aus Kanada, den USA, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Ungarn aufgereiht – kein Bolivianer käme auf die Idee, eine derart gefährliche Straße freiwillig herunterzufahren. Schon gar nicht mit einem Fahrrad, das hier in Bolivien als Symbol der Armut gilt. Wer etwas auf sich hält und es sich leisten kann, fährt mit einem Auto, selbst wenn es zwanzig Jahre alt sein sollte.



"Mal sehen, wie viele von uns unten ankommen!", frotzelte Marc, der aus Wisconsin stammte und versuchte, seine Furcht zu bekämpfen, indem er pausenlos witzige Bemerkungen absonderte. Listo?, "bereit?", rief unser bolivianischer Anführer, dann saßen wir auf und folgten ihm in die erste Nebelwand hinein.

Ich war als Vierter gestartet. Gleich nach dem Start überholte ich eine Schweizerin, die sich noch an die Löcher im Asphalt gewöhnen musste. Kurz darauf ließ ich auch Marc rechts hinter mir zurück. Jetzt befand sich nur noch Christian zwischen mir und unserem bolivianischen Führer. Ich ließ beide Bremsen los. Das Geräusch der Reifen, die sich immer schneller auf dem Teerbelag drehten, schwoll an, bis es die Lautstärke eines Motors erreichte. Unseren Führer konnte ich nur hören. Er musste direkt vor mir sein, blieb jedoch von dichtem Nebel verschluckt. Links huschten gezackte Felsen vorbei, überzogen von schmutzigbraunen Schneefeldern, aus denen heraus Rinnsäle quer über die Straße flossen.

Ich preschte durch sie hindurch, ohne sie genauer wahrzunehmen. Um mich herum wirbelten Schneeflocken; manchmal stieß mich eine Böe derb in die rechte Flanke. Was für ein verrückter Tanz am Rand des Abgrunds!

Ich überholte spuckende Traktoren und rostübersäte Lastwagen. Mein Vorderrad schlang Boden in sich hinein, spuckte ihn hinter sich wieder aus. Wäre Hannah jetzt bei mir, hätte sie mir vermutlich erklärt, dass in ebendiesem Moment das Mark meiner Nebenniere vermehrt ein vasokonstriktives Catecholamin mit Namen Adrenalin herstellte. Sie hätte mir erläutert, dass dieses Adrenalin die Muskelphosphorylasen über Betarezeptoren und auch das Adenylatcyclasesystem aktiviert und gleichzeitig die Fettsäurenoxidation anregt, was einen erhöhten Sauerstoffverbrauch nach sich zieht. In diesen Höhen sei mir das ebenso wenig zuträglich wie der gleichzeitige Blutdruckanstieg, zumal die Nierendurchblutung zeitgleich eingeschränkt werde. Nicht verkneifen würde sie sich den Hinweis, dass all dies dafür sorgte, dass meine Libido eine Pause einlegte. Zu meinem Glück werde das Adrenalin aber rasch durch Catechol-O-Methyltransferase abgebaut und als 3-Methoxy-4-hydroxymandelsäure mit dem Harn ausgeschieden. Da Hannah jedoch nicht bei mir war, blieben mir diese Vorgänge allesamt verborgen. Ich nahm nur wahr, dass mein Herz wie wahnsinnig klopfte, dass ich nach Atem hechelte, und dass mir alles unglaublich viel Spaß bereitete. Ich schrie und jauchzte die Felswände an; jubelte auf Deutsch und Spanisch in die Nebel hinein. Bis ich plötzlich an einem grünroten Farbfleck vorbeischoss, der mir irgendetwas hinterher schrie: unserem Reiseführer. Als ich mich umdrehte, war er bereits im Nebel verschwunden. Sofort zog ich beide Bremsen an. Die Vorderbremse reagierte unverzüglich und verbiss sich in das Gummi des Reifens. Die Hinterbremse tat es ihr vorerst nach, lockerte dann jedoch unvermittelt ihren Biss und sprang auf. Sofort geriet das Fahrrad unter mir ins Schlingern. Ich musste auch die Vorderbremse lösen. Ungleich sachter zog ich den Bremsgriff anschließend zum Lenker hin bis mein Gefährt nach einer gefühlten Ewigkeit zum Stillstand kam. Mein Bremsweg betrug über einen halben Kilometer.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


"Eine Schraube ist heruntergefallen", bemerkte unser Reiseführer lapidar, als er mich nach knapp zehn Minuten eingeholt hatte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass diese Schraube ein zugegebenermaßen kleines, nichtsdestotrotz aber wichtiges Teil der Hinterbremse gewesen war. Unser Reiseführer murmelte unverständliche Worte. "Da hast du Recht!", gab er sich schließlich verständig. "In deinem Tempo würdest du auf keinen Fall heil unten ankommen! Da ich nicht annehme, dass du die Geschwindigkeit drosseln willst, geben wir dein Rad einfach dem langsamsten Teilnehmer. De acuerdo, einverstanden?".

Das war eine echt bolivianische Lösung. Zum Glück war die letzte Teilnehmerin, eine Französin, die mit weit aufgerissenen Augen in den Nebel starrte, gerne bereit, ihr Rad mit meinem zu tauschen. Auf diese Weise habe sie einen Grund mehr, langsam zu fahren, betonte sie. Als ich sie fragen wollte, weshalb sie dieses Wagnis überhaupt eingegangen war, hatte unser Reiseführer bereits wieder sein listo? gerufen und mir einen Wink gegeben.

Bei meinem Neuerwerb griffen beiden Bremsen problemlos – was ein guter Grund für mich war, sie vorerst nicht zu benutzen. Weit über den Lenker gebeugt, preschte ich die "Todesstraße" hinab. Farben und Formen huschten an mir vorbei; in den immer häufiger werdenden Nebellöchern wehte mir der Wind Landschaft in die tränenden Augen. Der Boden wurde zunehmend weicher; Lehm und Matsch nahmen Geröll und Kieseln immer mehr Terrain ab. Längst hatte ich unseren Reiseführer überholt und lieferte mir ein Wettrennen mit Christian, der ebenso besessen war wie ich, immer wieder von Neuem gerade bis an den Punkt zu gehen, an dem man die Kontrolle verlor. In einer besonders engen Linkskurve ging ich gar eine Spur über diesen Punkt hinaus. Ein winziges Quentchen nur, aber das genügte vollauf.

Ein Felsbrocken lag auf der Straße. Ich sah ihn eine halbe Sekunde, bevor er den Schlauch meines Vorderrads aufgeschlitzt hätte. Seine gezackten Ränder erinnerten an die Zähne eines Raubtiers. Ich riss mein Rad rechts an ihm vorbei. Weg, nur weg vom Abgrund links von mir, schoss es mir durch den Kopf. Durch das Ausweichmanöver geriet ich in eine Mischung aus Lehm und Matsch, die mein Rad sofort in eine Schräglage schob. Plötzlich war der Boden ganz nah. Er flog auf mein Gesicht zu, das mit Matsch besprenkelt wurde. Geistesgegenwärtig warf ich mich auf die rechte Seite, wodurch sich mein Rad kurzfristig wieder aufrichtete. Dafür geriet es im schlammigen Untergrund ins Schlingern. Links und rechts brach es aus, schlitterte mit dem Hinterrad über den Boden und verhakte sich schließlich an einem besonders großen Kiesel. Ich bemerkte noch, wie der Lenker meines Fahrrads plötzlich unter mir war und fragte mich, was er dort zu suchen hatte; er gehörte doch definitiv nicht an diesen Platz. Dann bekam ich einen herben Schlag auf den Kopf. Schwarz zog vor meinen Augen auf.

Als ich sie wieder öffnete, saß ich in einem kniehohen Bach. Christian rief mir immer wieder etwas zu. Mein Rad lag zehn Meter weiter auf der Straße. Mein rechtes Schienbein gab ohne Unterlass Blut an das umgebende Wasser ab. Es breitete sich aus und entwarf interessante Muster an der Oberfläche. In meiner rechten Hand hatte ich kein Gefühl mehr. Christian stieg jetzt vom Rad und rannte auf mich zu.

"Bist du okay?", rief er. Seiner Schilderung nach hatte ich mich während meines unfreiwilligen Abstiegs vorbildlich verhalten. Solange es ging, hatte ich gebremst, dann hatte es mich nach vorn über das Rad geschlagen. Ich hatte es im entscheidenden Moment von mir gestoßen und mich nach meiner Begegnung mit dem Boden gekonnt zur Seite gerollt. Dabei hatte ich unglaubliches Glück gehabt: Der Bach hatte meinen Sturz aufgefangen. Wäre dasselbe Ereignis weiter oben passiert, dort, wo der Boden noch gefroren war, hätte ich mir mit Leichtigkeit einige Knochen brechen können. So jedoch hatte es von Christians Warte aus den Anschein gehabt, als wisse ich genau, was ich tat, ja fast, als hätte ich nie etwas anderes gemacht als auf glitschigen Straßen vom Fahrrad zu stürzen.



Unser Reiseführer sah den Vorgang etwas anders. Ich musste mir eine Standpauke anhören und ihm versprechen, in Zukunft hinter ihm zu bleiben. "Weißt du, was passiert wäre, wenn du nicht auf die rechte, sondern auf die linke Seite gestürzt wärst?", fragte er herausfordernd. Er führte mich zum linken Straßenrand, von dem aus sich der Bach in eine Leere ergoss, die erst tausend Meter tiefer durch die Baumgipfel des Nebelwaldes gefüllt wurde. "Deine Chancen standen fifty-fifty. Bislang ist übrigens noch keiner meiner Mountain Biker auf die linke Seite gestürzt. Ich möchte, dass dies auch so bleibt." Er konnte es sich nicht verkneifen, mir bei diesen Worten zuzublinzeln. Ich war in seiner Achtung gestiegen, weil ich, genau wie er, meine Grenzen verschieben wollte. Er ging normalerweise auch aufs Ganze, war bereits zweimal an derselben Stelle gestürzt. Einmal hatte er sich zwei Rippen auf der "Todesstraße" gebrochen, dreimal musste ihm ein Bein eingegipst werden. Dies alles erfuhr ich allerdings erst auf der Rückfahrt.

Natürlich raste ich trotz blutendem Schienbein und geschwollenem Handgelenk weiter wie zuvor und wurde von den Anderen nach meiner innigen Begegnung mit der bolivianischen Flussflora el alemán loco, "der verrückte Deutsche", genannt.

Seit meinem Purzelbaum hatte sich die Landschaft verändert. Links der Straße begannen Sträucher vorbeizurasen, später gar Bäume. Die Wasserfälle trafen nicht länger Hunderte Meter weiter unten auf Grund, sondern bereits mitten auf der Straße. Mehrmals mussten wir direkt durch sie hindurch, wobei unser Reiseführer jedes Mal betonte, die Dusche sei im Preis inbegriffen. Dann führte uns die Straße hinein in die Nebelwälder. Dicht an dicht stehende Giganten schluckten die Wolken, die die Ostflanke der Anden hinab glitten und spuckten sie als Nebel wieder aus. Kolibris umschwirrten uns, als wir in das satte Grün fuhren. Adler kreisten über uns und ein rotgelbgrüner Papagei drehte erst ab, als wir ihn fast über den Haufen gefahren hatten. Es kam mir vor, als wolle die Natur hier unten all das nachholen, was sie im kargen Hochland nicht vollbringen konnte. Von allen Seiten wucherte, rankte, platschte, raschelte, zirpte, schwirrte und schrie es. Manchmal wussten wir nicht, ob wir in einen Garten Eden gelangt waren oder doch versehentlich die Abzweigung zu einer lärmenden, pulsierenden Hölle genommen hatten. Wir waren die üppige Vielfalt der Tropen nicht gewöhnt. Gleichzeitig wussten wir, dass der Wind keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt Eisbrocken auf gefrorene Böden legte und alles über den Haufen pustete, was sich ihm in den Weg stellte.



Unser Reiseführer bog in eine Hotelanlage ab. Christian und ich folgten ihm und hielten auf den Gebäudekomplex zu. Die Anderen waren weit abgeschlagen. Die Französin mit meinem ersten Fahrrad sollte erst drei Stunden später ankommen. So blieb Zeit genug, ausgiebig zu duschen, uns durch ein Sonnenbad von den Strapazen zu erholen und anschließend das aufgebaute Büffet zu plündern, das wir uns mit zwei besonders dreisten Papageien teilen mussten. Ich gönnte mir eine Extraportion Ceviche, sushiähnliche Rohfischstücke, gefolgt von einem gut durchgebratenen Lamasteak, dessen Geschmack leicht an Leber erinnert. Erst als die ersten Baumkronen begannen, sich vor die Sonne zu schieben, trommelte unser Reiseführer zum Aufbruch. Ein klapperndes Scheusal, das einem Bus vor vielen Jahren ähnlich gesehen haben mochte, brachte uns die "Todesstraße" wieder hinauf und zurück nach La Paz. Es war kurz vor Mitternacht, als ich das Hotelzimmer betrat, in dem Hannah bereits halb eingeschlafen war.

"Und", fragte sie mit halb geschlossenen Lidern und jenem nörgelnden Tonfall, der den Müden gemein ist, "wie war dein Tag? Hast du etwas Besonderes erlebt?"

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
Teil VI: Besuch im "Café Aussichtspunkt"
Teil VII: In Boliviens Drogenhauptstadt

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