ed 06/2012 : caiman.de

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argentinien: Viel besser als zu Hause
Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 2: London, London
THOMAS MILZ
[art. 2]
brasilien: Final? Brasil - Alemanha! (Oder: Gott ist Brasilianer!)
Leseprobe aus "90 Minuten Südamerika" – Vorrunde WM 2006
MARK SCHEPPERT
[art. 3]
hopfiges: Águila / ohnegleichen, immer gleich / aber Bier?
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
pancho: Tomate, junger Knoblauch und Thymian
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 2]
amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 6)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 3]
lauschrausch: Roadmovie und Kopfkino
Neue Alben von Céu und Gaby Moreno
TORSTEN EßER
[kol. 4]
grenzfall: Nachtregen
KEITH JARDIM
[kol. 5]



[art_1] Argentinien: Viel besser als zu Hause
Das Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli im Süden von Buenos Aires
 
Brot für die Welt unterstützt in den Vorstädten von Buenos Aires Zentren, in denen Jugendliche und Kinder aus zerrütteten Familien Zuflucht vor der alltäglichen Gewalt finden.

Schnipp. Schnipp. Schnipp. Routiniert schneidet Karen mit einer Küchenschere Löcher in die 300 frisch gebackenen Milchbrötchen, die sie gerade aus dem Ofen gezogen hat. "Die sind alle für die Kinder, die gleich kommen", meint sie und füllt mit Hilfe von zwei Löffeln in jedes der Löcher klebrig-süßes Dulce de Leche. Auf Menschen, die sie nicht kennen, wirkt die schmale, junge Frau abweisend, so als sei sie vor irgendetwas auf der Hut, als erwarte sie jeden Moment einen Angriff gegen den sie sich verteidigen müsse. Sich vor Verletzungen zu schützen, das ist seit frühester Kindheit Karens Überlebensstrategie und obwohl sie erst 20 Jahre alt ist, strahlt sie eine Härte aus, die sofort signalisiert: ‚Leg Dich bloß nicht mir an‘.

Wenn man Karen fragt, was denn genau bei ihr zu Hause los war, verdunkelt sich ihr Gesicht als würde man eine Jalousie herunter lassen. "Ich will nicht darüber sprechen", ist die einzige Antwort, die man erhält.

Aber sie lässt durchblicken, dass ihre Mutter sie schlug und das Leben zu Hause für sie nicht zu ertragen war. Deshalb hat Karen seit ihrem 12. Lebensjahr jede freie Minute in dem Jugendzentrum ihres Viertels La Esperanza verbracht. "Mein ganzes Leben dreht sich nur um diesen Ort. Denn hier gibt es immer jemanden, der sich um mich kümmert und der mir zuhört."

Buenos Aires ist eine reiche Stadt mit glitzernden Wolkenkratzern, sorgfältig restaurierten Monumenten und teuren Geschäften. Doch gleich hinter der Stadtgrenze wandelt sich das Bild: Die Häuser werden immer kleiner, die Straßen bestehen nur noch aus Schotter und sind von Müll gesäumt. Wer durch die Vorstädte fährt, sieht überall Kinder, die ziellos durch die Straßen wandern und Jugendliche, die an den Straßenecken in kleinen Pfeifen Paco, eine aus den Abfällen der Kokainproduktion hergestellte Droge, rauchen. Es sind keine Straßenkinder, sie haben ein Dach, unter dem sie schlafen können. Aber meistens kein Zuhause, in dem sie sich geborgen und wohl fühlen würden. Ihre Eltern sind entweder den ganzen Tag in der Hauptstadt, wo sie als Tagelöhner mehr schlecht als recht ihr Geld verdienen oder sitzen desillusioniert vor dem Fernseher. Gewalt ist in den Familien der Vorstädte die Regel. Und so fliehen die Kinder nach der Schule vor der Einsamkeit, dem Geschrei und den Schlägen raus auf die Straße und suchen sich eine Ersatzfamilie.

Für diese Kinder und Jugendlichen gibt es in den Vorstädten von Buenos Aires nur sehr wenige Orte, an denen sie willkommen sind. Einer davon ist das Jugendzentrum von Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli im Süden Buenos Aires.

Hinter einem Stacheldrahtzaun erstreckt sich Rasen, der so platt getreten ist, dass man ihn kaum noch als solchen bezeichnen kann. Ein Teil des Gartens wird von einem alten, über und über mit Graffiti besprühten  Bus eingenommen. Bis vor ein paar Jahren stellte der das ganze Jugendzentrum dar, aber inzwischen steht im hinteren Teil des Grundstücks ein einfacher, unverputzter Ziegelbau mit einer Küche und einem Aufenthaltsraum, in dem die rohen Ziegelwände von ein paar Kinderzeichnungen geschmückt werden. Das ist alles.

Doch dieses Jugendzentrum ist für die Kinder und Jugendlichen des Viertels ein unersetzlicher Zufluchtsort. Mittags kommen die Schulkinder, gegen Abend die Jugendlichen und zwischendrin auch noch die Kleinen um sich ihr Milchbrötchen abzuholen. Alle werden freundlich begrüßt, bei Bedarf einmal fest gedrückt. Dann dürfen sie auf dem Bus herum klettern, Ball spielen, herum albern und toben. Zudem bietet das Zentrum verschiedene Aktivitäten an, an denen sich die Kinder beteiligen können: in der Küche wird gemeinsam gekocht und gebacken, an den wackeligen Holztischen im Aufenthaltsraum Glas bemalt und diskutiert, im Garten getrommelt und getanzt. "Für die Jugendlichen sind das alles Möglichkeiten, sich auszudrücken und Erfolgserlebnisse zu sammeln. Sie backen einen Kuchen, der allen schmeckt und für den sie gelobt werden. Das ist ein Moment, in dem sie Wertschätzung erfahren. Die meisten kennen das von zu Hause nicht", erklärt Deborah Schaad Raimondo, die Psychologin des Centros Angelelli den  Ansatz des Projektes.

Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit vor allem die Jungs erzählen, womit sie ihre Zeit verbringen würden, wenn sie nicht hierher kommen könnten: "Auf der Straße rumhängen, Drogen nehmen, Leute ausrauben" ist die Standardantwort.

Viele drohten schon abzurutschen, als sie das Jugendzentrum entdeckten. So wie der 14jährige Brian, der seit zwei Jahren hierher kommt. "Ich bin den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen und habe Fensterscheiben eingeworfen. Es gibt hier ja sonst absolut nichts, was man machen könnte." Ist das Jugendzentrum also so etwas wie ein zweites Zuhause? Brian nickt. Karen widerspricht. "Nein, es ist mein erstes Zuhause", ruft sie mit Nachdruck. "Hier sind Menschen, die für mich da sind. Analie, die Köchin und Deborah – alle haben Geduld und Verständnis."

Wann immer es in den letzen Jahren für Karen schwierig wurde, fand sie hier jemanden, mit dem sie reden konnte. "Als ich feststellte, dass ich schwanger war, bin ich als erstes hierhin gekommen um mit jemandem darüber zu reden. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Jeden Tag kam ich her und wir tranken Tee und redeten und redeten und ich kam ein wenig zur Ruhe und konnte darüber nachdenken, wie es jetzt weiter gehen sollte. Hier hatten die Leute Zeit für mich und Geduld und Verständnis. Zuhause gab es das alles nicht."

Gewalt, Drogen und Teenagerschwangerschaften sind die Probleme, mit denen die Jugendlichen in den Vorstädten Buenos Aires tagtäglich konfrontiert werden. Deshalb bietet das Centro Angelelli bei seinen alle zwei Monate stattfindenden Workshops unter anderem genau diese Themen an.

Debora Schaad leitet den Workshop "Gewalt in der Beziehung". Sie schreibt die Stichworte, die den Jugendlichen zum Thema einfallen an eine Tafel: Anschreien, Misshandeln, Umbringen. Agelen kennt ihr Stichwort ‚Prügeln‘ von daheim: "Bei mir zu Hause gibt es viel Gewalt zwischen meinen Eltern. Das ist immer schlimm für mich, ich weine viel und bin viel draußen auf der Straße, weil ich es zu Hause nicht mehr aushalte." Die 13jährige wirkt zerbrechlich, als sie das erzählt. Sie wischt sich schnell über die Augen, holt einmal tief Luft und reißt sich zusammen.

Von den 21 Teilnehmern des Workshops, berichtet  Debora Schaad, erleben 16 in ihrer Familie, dass Konflikte durch Gewalt ausgetragen werden. "Gewalt in der Familie ist das zentrale Problem. Die meisten Kinder lernen zu Hause keine andere Methode zur Konfliktlösung kennen – so, wie schon ihre Eltern nichts anderes gelernt haben", erklärt sie. "Wir versuchen hier, ihnen beizubringen, wie man konstruktiv miteinander diskutiert und einen Kompromiss finden kann. Nur wenn sie das verinnerlichen, kann der Kreislauf der Gewalt in der nächsten Generation durchbrochen werden." Ob das gelingen kann? Ja, sagen die Mitarbeiter der Jugendzentren, es gäbe viele Jugendliche, die zeigen würden, dass ihre Arbeit Erfolg hätte.

Karen zum Beispiel: "Ich habe hier im Jugendzentrum eine ganz andere Welt kennen gelernt", berichtet sie und meint damit eine friedliche, entspannte Atmosphäre, in der man sich gegenseitig hilft und zuhört. So wie Karen erleben viele der Kinder und Jugendlichen so etwas zum ersten Mal. Karen möchte etwas von der Geborgenheit, die sie hier erfahren hat, weiter geben. Nicht nur an ihren inzwischen 11 Monate alten Sohn Nehuen, sondern auch an die Kinder des Viertels. Deshalb hat sie die Hausaufgabenbetreuung übernommen. Und auch, weil sie mit 20 inzwischen zu alt ist, um im Jugendzentrum betreut zu werden – aber sich ein Leben ohne das Zentrum nicht vorstellen kann.

Wenn Karen sich über die Schwestern Augustina und Malena lehnt, um ihnen dabei zu helfen, Wörter in einem Gitterrätsel zu finden, dann ist das einer der wenigen Momente, in denen die Züge um ihren Mund plötzlich weich werden.

"Sich um die Kinder zu kümmern, ist toll. Sie geben mir so viel zurück! Sie behandeln mich wie eine Schwester und haben mich gern. Und ich habe sie gern." In einer Welt, in der es sonst nur Zank und Gewalt gibt, gleicht dieser Satz einem leuchtenden Hoffnungsschimmer.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_2] Brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 2: London London
 
London London – im Juli 1969 gehen Caetano und Gilberto Gil ins Exil. Nach einem kurzen Aufenthalt in Portugal und Frankreich, lassen sie sich mit ihren Frauen schließlich in London nieder. Hier nimmt Caetano zwei wichtige Platten seiner Karriere auf: "Caetano Veloso", aus dem Jahr 1971, und "Transa", ein Meisterwerk, das erst nach seiner definitiven Rückkehr nach Brasilien Anfang 1972 veröffentlicht werden sollte.



Die Platte "Caetano Veloso" ist voller Heimweh und Sehnsucht nach der "verlorenen Heimat". Die Mehrheit der Lieder singt Caetano auf Englisch, wobei er hier und da ein paar Phrasen Portugiesisch unter mischt.

Auf der Coverrückseite finden sich folgende Sätze an das neue Publikum: "Caetano Veloso was a star in Brazil. He came to England and decided to make London his home in the summer of 1969. The songs serve as a two-way mirror, focusing thoughts and memories of home and absent friends and reflecting his reaction to a new but friendly environment."

Musikalischer Höhepunkt ist das wundervolle "London London", eine melancholische Hymne im Stile eines Donavan oder der Beatles, ein verspätetes "Swinging London": "I`m wandering round and round nowhere to go, I`m lonely in London..."



In "A little more blue" berichtet er von seinem unfreiwilligen Abschied aus der Heimat. "One day I had to leave my country, calm beach and palm tree... That day I couldn`t even cry." Ebenfalls ein Höhepunkt ist das epische "Maria Bethânia", in dem er seine Schwester um Nachrichten aus der Heimat bittet. "I wish to know things are getting better, better, better. Beta, Beta, Bethânia..."

Das Lied "If you hold a stone" zitiert "Marinheiro só" von seinem 1969er Album "Caetano Veloso". Die Platte endet mit einer traumhaften Version von "Asa Branca", von Humberto Teixeira und Luiz Gonzaga. Diese "Hymne des Nordostens" erzählt von einem Bauern, der sein Land aufgrund einer Dürre verlassen muss.

Das französische Fernsehen hat eine sehr schöne Version mit Caetano aufgenommen. Achtet mal auf seine Haarpracht:



1971 kehrt Caetano für einen Monat nach Brasilien zurück, um an der Feier zum 40. Hochzeitstag seiner Eltern teilzunehmen. Nach der Landung in Rio wird er von der Polizei über mehrere Stunden festgehalten. Diese versucht ihn zur Teilnahme an einem musikalischen Projekt zu überreden, das sich mit dem Bau der "Transamazonica" beschäftigt – der Fernstraße die den Amazonasurwald durchquert. Doch Caetano weigert sich, an dem dubiosen Projekt mitzuwirken.



Stattdessen macht er sich mit dem Titel seiner nächsten Platte über das Projekt der Diktatur lustig. Zurück in London nimmt er das epische Album "Transa" auf. Und er selber scheint während der Aufnahmen regelrecht in "Trance" zu fallen. Die Stilbreite ist beeindruckend. Herausragend sind "You don`t know me" und "Nine out of ten", wobei er die musikalische Neuheit, den "Reggae", zitiert, der gerade in Europa Einzug hielt. "Walk down Portobello Road to the sound of reggae - I`m alive."



Die Sehnsucht nach seiner Heimat kommt in "Triste Bahia" durch, genau so wie in "It`s a long way", wobei die "Long and winding road" der Beatles zitiert wird. Die Platte endet mit "Nostalgia" (That`s what rock`n roll is all about). Caetano präsentiert "Transa" live in London, die Platte wird aber erst nach seiner Rückkehr Anfang 1972 in Brasilien veröffentlicht. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Cover, das zu einem 3D-Kunstwerk gefaltet werden kann!



Damit endet für Caetano die Zeit des Exils. Aber die Nachwirkungen des vorübergehenden Bruchs mit seiner Heimat werden ihn noch länger verfolgen. Seine nächste Platte wird einen verunsicherten Musiker zeigen, der nicht weiß, auf welche Weise er seine Karriere fortsetzen soll. Aber davon mehr nächsten Monat.

Text + Fotos: Thomas Milz

P.S.: Caetano verarbeitet seine Zeit in London in den Shows zur Platte "Cê" (2006). Die Live-CD "Cê ao vivo" (2007) bringt drei Lieder aus jener Epoche: "Nine out of ten", "You don`t know me" und "London London", das letztere in einer wundervollen Version.

Hier kommt ihr zum ersten Teil:
Teil. 1: Vom Bossa zum Tropicalismo

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Brasilien: Final? Brasil - Alemanha! (Oder: Gott ist Brasilianer!)
Leseprobe aus "90 Minuten Südamerika" - Vorrunde WM 2006
 
...und jetzt geht es nach Brasilien. Mein Bild von dem Land ist nicht gerade geprägt von braungebrannten Schönheiten mit Bikini-Brüsten, die mit einem Caipi in der Hand Lambada tanzen. Mir erscheint nicht sofort ein farbenfroher Karneval vor dem geistigen Auge und auch kein einsamer Indio, der friedlich auf dem Amazonas dahin dümpelt. Ich sehe gefährliche Favelas schier endlos die Berge hinaufklettern. In ärmlichen Bretterbuden wohnen Kinder, die bereits mit acht ihren ersten Raubüberfall und mit zehn einen bestialischen Mord begangen haben. Im Internet spukt es nur so vor Reisewarnungen. Es ist ein Land mit immenser Kriminalität und professionellen Drogen- und Killerbanden.

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Wir wollen nach Rio de Janeiro, das sich selbst ganz bescheiden als schönste Stadt der Welt rühmt, aber eben auch eine der gefährlichsten sein soll.

Mit einem Taxi fahren wir von Argentinien über die Grenze nach Foz de Iguaçu. Unser Flug hat Verspätung. Das bedeutet, dass wir mitten in der Nacht ohne Bettenbuchung in der Millionenmetropole landen werden.

Im Flieger begrüßen uns Stewardessen, die während der WM voller Stolz das Brasilientrikot tragen. Der Pilot gibt alle paar Minuten Informationen durch. Allerdings nicht über das Wetter oder die Flughöhe, sondern irgendetwas, das die Maschine jedes Mal gehörig zum Schwanken bringt. Nach der dritten Durchsage haben wir es dann auch endlich kapiert. Viermal wankt die Boing bedenklich von links nach rechts. Brasilien besiegt Japan mit 4:1. Auch Ronaldo traf zweimal, zeigt mir eine ältere Dame ganz aufgeregt mit zwei Fingern. 

Am Terminal von Rio sind die Menschen außer Rand und Band. Es war das letzte Vorrundenspiel, Brasilien hatte sich längst für das Achtelfinale qualifiziert, aber schon jetzt drehen die Leute durch, als wäre der Cup wieder in der Heimat. Überglücklich drücken sie uns Bier in die Hand und erwarten, dass wir die Gänge entlang tanzen.

Vor einer Sache wird von offizieller Seite dringend gewarnt: Am Flughafen sollte man sich auf keinen Fall von Leuten anquatschen lassen, die sich mit einem das Taxi teilen wollen. Man werde möglicherweise ausgeraubt und nur mit Unterwäsche bekleidet zurückgelassen.

Uns spricht ein höflicher Kanadier an, ob wir uns die Kosten dritteln wollen. Er sieht sympathisch aus und so steigen wir ins Auto. Nur mit Unterwäsche bekleidet, liegen wir 45 Minuten später auf den Betten eines Hotels am halbmondförmigen Strand der Copacabana. Der Fahrer hatte uns auf dem Weg begeistert gezeigt, wo Ronaldo das Fußballspielen erlernt hatte und wo er, die Tante und sein Opa mal wohnten. Die Caipirinha am Strandkiosk schmeckt wie der erste Eindruck von diesem Flecken Erde: paradiesisch!

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Gleich am zweiten Tag spielt Deutschland sein Achtelfinale gegen Schweden. Die Brasilianer interessieren sich scheinbar überhaupt nicht für die Spiele der anderen Teams. Bei eigenen Partien ist die Hölle los, aber sonst sind die Kneipen leer. Es gibt dann auch keine Vor- oder Nachberichterstattung. Die Fußballsendung startet parallel mit dem Anpfiff und unmittelbar nach dem Schlusspfiff beginnt eine bekannte Telenovela. Kein brasilianischer Netzer und Delle, sondern "Prova de amor" und "Belissima". Dann füllen sich die Bars auch wieder.

Um 12 Uhr Mittags sitzen Sylvie und ich ganz allein an der Copacabana in einer Strandbar vor einem Flachbildschirm. Die beiden Tore von Poldi werden auch in Rio de Janeiro frenetisch gefeiert. Ein Mensch im Trikot der Deutschen hatte sich das Jubeln längst bei den Brasilianern abgeschaut. Viele kommen in Badeshorts an unseren Tisch, klopfen mir auf die Schulter und gehen dann lächelnd weiter. Einige sprechen uns an und wollen wissen, was wir im Verlauf der WM erwarten. Mit dem Spruch: "Final? Alemanha - Brasil!" können wir ganz schnell ihre Herzen erobern.

Was für eine Stadt! Was für eine Zeit! Die Bögen von Lapa mit ihrer Partystimmung und Argentinien gegen Mexiko. Der Corcovado mit seiner Jesusstatue und Portugal gegen Holland. Der Strand von Ipanema mit heißen Girls und England gegen Ecuador. Das gigantische Maracanã-Stadion und Italien gegen Australien. Wir fahren U-Bahn, Bus, Seilbahn, Taxi, Boot und schweben zu Fuß über die geriffelten Mosaiksteine der Copacabana. Überall, an jedem Strand und auf jeder noch so winzigen Grünfläche, spielen die Menschen Fußball. Kinder, Jugendliche, alte Männer und selbst Frauen. Ich bin am schönsten Ort der Erde und es laufen die Achtelfinals einer Fußball-WM. Kann das nicht für immer so bleiben? Es ist ein Traum mit Zuckerhut. Doch Rio sprengt unser Budget, so dass wir beschließen, nach Parati zu fahren.

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Der kleine Fischerort sieht aus, als fände die WM hier statt. Alle Kopfsteinpflaster-Straßen sind mit grün-gelb-blauen Girlanden geschmückt. Eine gigantische Choreographie, die in ihrer Gesamtheit die brasilianische Flagge ergibt. Einige Anwohner haben sogar ihre Häuser mit kunstvollen Bildern ihrer Fußballgötter bemalt. Ronaldo und Ronaldinho grinsen uns überall an. In einer Gasse werden zwei Fernseher von der Nachbarschaft in den Vorgarten geschleppt. Direkt daneben stehen der Grill und ein beeindruckend großer Tiefkühler, in den gerade kistenweise Bier geladen wird. Brasilien spielt und wir werden sofort dazu genötigt, das Match gegen Ghana zu schauen. "É para ti" (ist für dich) rufen uns die Einwohner von Parati, mit einer beschämenden Gastfreundlichkeit zu und drücken uns ein Bier nach dem anderen in die Hand. Zur sendefreundlichen Mittagszeit sehen wir, gut versorgt mit Gerstenbräu und Gegrilltem, wie Brasilien leicht und locker 3:0 gewinnt.

Auch hier lerne ich wieder etwas dazu: Sobald die Grillstäbe heiß und alle Fächer des Kühlschranks bestückt sind, interessiert das Spiel eigentlich niemanden mehr. Fußball ist in Brasilien eher ein soziales Ereignis, als ein sportliches. Alle stehen trinkend ums Futter herum und haben Spaß miteinander. Wenn die Stimme des Kommentators mal hektisch eine Oktave nach oben geht, wird kurz ein bisschen geschrien, die Gegenmannschaft verflucht und sich im nächsten Moment wieder dem Teller gewidmet. Nur die Tore werden zelebriert. Ein ohrenbetäubendes "Gooooool" schallt dann minutenlang durch den Ort. Die Menschen springen in die Lüfte und liegen sich glückselig in den Armen, um das Ereignis, durch eine kurze Tanzeinlage, mit beeindruckendem Hüftschwung zu beschließen.

Noch etwas Lehrreiches: Wenn die Partie abgepfiffen und gewonnen ist - die Brasilianer gewinnen nach eigener Einschätzung sowieso jedes Spiel - kommt das Wichtigste: Die Party danach! Auch für uns bedeutet das, noch drei Stunden nach Abpfiff, mit trommelnden und singenden Menschen, in einem karnevalähnlichen Festumzug, durch den Ort zu ziehen. Eine halbe Stunde darf ich den Mob von 3000 Leuten sogar Fahnen schwenkend anführen. Was für eine Ehre! Was für ein Erlebnis! Auch Sylvie ist jetzt Fußballfan - Gott ist Brasilianer!

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Alle Einheimischen, die wir an diesem Tag treffen, rufen uns zu: "Final? Brasil - Alemanha!", und erobern damit unsere Herzen.

Text + Fotos: Mark Scheppert

Das Buch: 90 Minuten Südamerika
Rechtzeitig vor der Fußball-EM 2012 und der WM 2014 in Brasilien ist der Reise- und Fußballroman "90 Minuten Südamerika" von Mark Scheppert erschienen.

Der Autor nimmt uns mit auf eine einzigartige Reise durch Lateinamerika und lässt uns an einer ganz besonderen Suche teilhaben. Auf seinen abenteuerlichen Trips durch Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Guatemala, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru und Venezuela verändert sich in zwanzig Jahren nicht nur die Welt um ihn herum, sondern auch sein Heimatland. Parallel dazu entwickelt sich eine Beziehung zum Fußball, die 1990 ablehnend beginnt, in jugendliche Schwärmerei umschlägt und spätestens 2010 in euphorischer Begeisterung mündet.

Die facettenreichen, mal lustigen, mal berührenden Anekdoten lassen Erinnerungen an große Lieben, Freundschaften, Enttäuschungen, Sehnsüchte und die Suche nach dem Glück lebendig werden . Sie machen Lust, alles stehen und liegen zu lassen, um in den nächsten Flieger nach Übersee zu steigen.

Mit einer Sprache, die nicht nach Reiseführer schmeckt, versucht Scheppert, den Leser mit dem Südamerika-Virus zu infizieren und ihn auf die Fußball-WM 2014 in Brasilien einzustimmen.

Titel: 90 Minuten Südamerika
Autor: Mark Scheppert
160 Seiten
ISBN 3-8423-5336-7
Verlag: BoD-Verlag
1. Auflage 2011

Der Autor: Mark Scheppert
Mark Scheppert wurde 1971 geboren und lebt seither in Berlin. Mit seinem ersten Buch "Mauergewinner" gelang ihm sofort ein beachtlicher Erfolg. "90 Minuten Südamerika" verbindet nun zwei große Leidenschaften des Autors: Abenteuerreisen & Fußball. Mark Scheppert ist Mitglied der Berliner Lesebühne "Die Unerhörten". Weitere Infos zum Autor:
www.markscheppert.de

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[kol_1] Hopfiges: Águila / ohnegleichen, immer gleich / aber Bier?
 
1913 ward in Baranquilla das Bier Águila geboren und sein unverwechselbarer Geschmack ließ es zum Stolz aller Kolumbianer werden. (Zitat auf der Flasche)

81 Jahre später: Denke ich zurück an meine Reise durch Kolumbien in Verbindung mit Águila, so sind mir vor allem zwei Szenen in Erinnerung geblieben.

1. In Cartagena de Indias hat ein deutscher Reisender im Águila-Koks-Liebeskummer-Rausch sämtliche Waschbecken der Gemeinschaftstoilette unseres Hostals zertrümmert.

Am nächsten Morgen war nur noch von dem Nazi aus Deutschland die Rede. Abends sind wir dann rüber in die Stierkampfarena zum Festival de Caribe. Auf den Werbeplakaten lockte ein ausladendes vibrierendes Hinterteil die Massen herbei. Mit eben diesem tanzte ich in Reihe acht gerade zu El General als unsere Freundin aus Spanien plötzlich fauchend mit dem Zerkratzen der Gesichter und dem Aufschlitzen ihrer eigenen Pulsadern drohte. Am nächsten Morgen erkundigte ich mich, ob statt des Nazis aus Deutschland möglicherweise Nelly El Elefante aus Valencia für das Massaker in der Toilette verantwortlich gewesen sei.

2. In Bogotá landeten wir mit sechs Stunden Verspätung und die Nacht war bereits herein gebrochen. Die im aktuellen Lonely Planet gepriesenen Hotels gab es entweder nicht mehr oder aber der Taxifahrer konnte sie nicht finden. Letztendlich landeten wir in einer Absteige gegenüber dem Museo de Oro. Zum Hotel gehörte eine Bar mit Bordellbereich. Auf der Suche nach Bier wurde uns schnell bewusst, dass wir an einen Montagabend – lediglich Pärchen erhalten Einlass in was auch immer – auf der Straße – wir wurden zwei Mal innerhalb von fünf Minuten mit einem Messer bedroht – nichts verloren hatten. Also zurück und in den Puff. Semiglücklich tranken wir recht zügig. Nach 20 Minuten beschlossen wir, einen Sixpack Águlia mit nach oben in unsere Gemächer zu nehmen. Dort entstand eines meiner Lieblingsfotos. Eine Art Bodenbelag war noch bruchstückhaft vorhanden. Überall Kakerlaken. Dazwischen unsere beiden letzten Dosen Águila. Leider ist das Foto in einer der zahlreichen Umzugskisten gelandet, die bei Marco im Keller stehen. Lustigerweise ist Marco der beste Freund von Nelly El Elefante.



99 Jahr später: Im Lidl in Katalonien grinst aufdringlich fies ein Águila vom oberen Regal herab. Das schrille Etikett weckt prompt die oben geschilderten Erinnerungen. Im Gegensatz zu meinen Synapsen erinnern sich die Geschmacksnerven nicht mehr an die Águliaverkostung zu Jugendzeiten. Also lasse ich mich darauf ein. Erstes Plus: Auch in Übersee hat die Brauerei den Kronkorken zum Aufdrehen beibehalten. Zweites Plus: Der Verschluss ist nicht oxidiert. Drittes Plus: Águilas Design ist und bleibt trashig und sticht so aus der Masse hervor. Viertes Plus: Hoher Völkerverständigungsfaktor, denn in Kolumbien ist Águila allgegenwärtig.

Doch dann wird es finster: der Geruch ist malzig und süß. Der erste Schluck hinterlässt den Eindruck von Blubberwasser. Auch beim zweiten und dritten stehen die Attribute leicht und wässrig im Vordergrund. Gar entsteht der Eindruck, dass es sich ohne die minimale Bitternote um eine Art Roh-Limo-Verkostung handeln könnte. Also einer Limo, der die Geschmacksrichtung Zitrone oder Orange noch nicht beigemischt wurde.

Konsequenter Weise opfere ich also den restlichen Inhalt der Mutter caimán und bete, dass sich der erste Teil des Slogan sin igual y siempre igual (ohnegleichen und immer gleich) bewahrheiten wird.

Bewertung Águila:

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]






[kol_2] Pancho: Tomate, junger Knoblauch und Thymian
 
Die Calçots, eine in Katalonien mit einem eigenen Fest ausgezeichnete Zwiebelsorte, gab es im Februar / März. Wilden grünen Spargel im April. Und nun im Mai dominiert Ajo Tierno die Auslage der Marktstände. Ajo Tierno ist der frühe Knoblauch. Er wird bereits geerntet, wenn sich die Knolle noch nicht oder erst andeutungsweise geformt hat. Die Schärfe ist schon recht ausgeprägt. Anders aber als bei ausgewachsenem und vor allem schon älterem Knoblauch bleibt im Mund kein unangenehmer Geschmack zurück. Kein die ganze Nacht anhaltender, kaum stillbarer Durst stellt sich ein.



Ajo Tierno ist ein fester Bestandteil der Katalanischen Küche. Manche Schweinewange und so mancher Schweinefuß wird aufgepeppt, die Tortilla con Esparrago weicht der Tortilla con Ajo Tierno. Und kaum ein Salat wagt sich ohne auf den Tisch. So auch unser Tomatensalat:

Ich schneide die Tomaten hauchdünn und richte sie carpaccioartig an oder achtele oder würfele sie. Darüber Ajo Tierno, der unter dem Messer die gleiche Behandlung wie Lauchzwiebel erfährt. Falls die Knollen schon etwas ausgebildet sind (s. Foto), schneide ich das zarte Grün in 2-4 mm breite Stücke, drücke die Knolle platt und gebe beides über die Tomaten. Dann Salz, Olivenöl und Balsamico. Der Clou ist reichlich frischer Thymian gezupft. Listo!

Rezept: Antje Jazz
Fotos:
Dirk Klaiber

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]






[kol_3] Amor: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 6)
 
Original: El que a buen árbol se arrima, buena sombra le cobija.
Wortwörtlich: Wer sich an einen guten Baum lehnt, dem ist ein guter Schatten sicher.
Sinngemäß: Wie man sich bettet, so schläft man. (Leicht opportunistische Herangehensweise...)



Original: De tal palo, tal astilla.
Wortwörtlich: So wie das Holz, so auch der Splitter...
Sinngemäß: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Original: Del mismo cuero, salen las correas.
Wortwörtlich: Die Riemen entstehen aus dem gleichen Leder.
Sinngemäß: Alles entspringt derselben Quelle.

Original: Más vale pájaro en mano que cien volando.
Wortwörtlich: Ein Vogel in der Hand ist mehr wert als 100, die fliegen.
Sinngemäß: Besser ein Spatz in der Hand als eine Taube auf dem Dach.

Original: La esperanza mantiene al tonto.
Wortwörtlich: Die Hoffnung nährt den Dummen.
Sinngemäß: Das Opium der (geistig) Armen ist die Kirche.

Original: El que nace pa tamal, del cielo le cain las hojas.
Wortwörtlich: Wer zum Tamal geboren ist, dem fallen die Blätter vom Himmel.
Sinngemäß: Schicksal ist Schicksal.

Original: Despacio, que llevo prisa.
Wortwörtlich: Mach langsam, ich habs eilig.
Sinngemäß: In der Ruhe liegt die Kraft. (gilt besonders für eilige Momente).

Text + Foto: Camila Uzquiano

Und weitere Wortspiele und Weisheiten:
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 1
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 2
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 3
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 4
Wortspiele und Lebensweisheiten Teil 5

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_4] Lauschrausch: Roadmovie und Kopfkino
Neue Alben von Céu und Gaby Moreno
 
Zwei wunderbare Alben nehmen uns mit auf Reisen, die sich beide an der Vergangenheit und der Welt des Kinos orientieren.

Ein fiktiver Wanderzirkus bildet das Motiv für das neue Album von Céu aus São Paulo. Die fahrenden Artisten "Caravana Rolidei" waren die Protagonisten des brasilianischen Kultfilms "Bye, bye Brazil" aus dem Jahre 1979. Ihre Reise durch das Land setzt Céu nach eigener Auskunft in einer "Sammlung von Kurzgeschichten" um, die klanglich zwischen psychedelischen Orgeln, Soul, Tropicalia, Surfgitarren, Ska, Samba und Bigband-Sounds hin und her wandern; die Retro-Referenz an die 60er und 70er Jahre ist in diesem Super-8-Film immer inbegriffen: Ob es nun die rockig-psychedelischen Sounds der Orgel und Surfgitarren in "Falta de ar" oder in "Amor de antigos" sind, der Bigbandjazz in "Contravento" oder aber der von Clowns handelnde Bossa "Palhaco", der in elektrische schräge Sounds abdriftet.

Céu
Caravana sereja bloom
Six degrees / Exil

"Retrovisor" überrascht mit einer Kombination von Farfisaorgel-Klängen und Surfgitarre, das englisch gesungene "Streets bloom" erinnert an die Musik von Portishead. Der zweite, längere anglophone Song, der Reggae-Klassiker "You won’t regret" ist das nervigste Stück auf dem Album. Den Reise- bzw. Jahrmarktcharakter untersteichen die kleinen, mit Geräuschen Interludes, die mal nach Wildwest klingen, mal nach LSD-Trip. Wenige lateinamerikanische "Spurenelemente", wie ein Cumbia-Rhythmus in "Contravento" oder ein Chachacha in "FFFree" verweisen noch auf Céus Heimatkontinent. "Caravana sereja bloom" ist ein schönes Roadmovie, lediglich getrübt durch die sehr kurze Spieldauer von 36 Minuten (die eher zum Download einlädt, als zum CD-Kauf).

"Kopfkino" ist der zutreffendste Begriff, der mir beim Hören des neuen Albums von Gaby Moreno einfällt. Denn dass Sie sich auch von sog. "Illustrated Songs" hat inspirieren lassen, ist bei vielen Songs hörbar. Diese mit Musik untermalten Diaprojektionen dienten in den 1920er Jahren dazu, die durch den Rollenwechsel erzwungenen Pausen zwischen zwei Filmen zu überbrücken.

Gaby Moreno
Illustrated Songs
World Connection / Q-rious

Die gebürtige Guatemaltekin verknüpft in ihrer Musik lateinamerikanische Traditionen mit Blues und altem Jazz, die sie im Alter von 14 Jahren auf einer Urlaubsreise nach New York entdeckte. Mal klingt ihre Stimme mädchenhaft wie im Eröffnungssong "Intento", der mit Streichern erhaben und sanft daherkommt oder in der Ballade "Y tu sombra", dann wieder hart und laut wie im mit fetzigen Bläsern durchsetzten Bluesrock "Mess a good thing" oder in "Garrick", einem Stück, das auf "Reir llorando", einem Gedicht des Mexikaners Juan De Dios Peza, basiert. Die melancholische Geschichte eines traurigen Komödianten erhält durch die Arrangements und Morenos Dialog mit Bob Mintzer’s Bassklarinette einen jazzigen Charakter.

Moreno wechselt beim Gesang zwischen ihrer Muttersprache und Englisch, seit sie mit 19 Jahren in die USA übersiedelte. Das Album wurde stark von der Musik der wilden 1920er Jahre inspiriert und tatsächlich haben viele Stücke Kabarett-Charakter, wie der Ragtime "Mean old circus" oder "Daydream by design", in denen ein Saloon-Piano erklingt. Das Repertoire spannt sich aber noch weiter. In "Fin" erklingen kitschige Hawaiigitarren, während im besten Songs des Albums, "Ave que emigra", rockige Mandoline und Bass zu hören sind. Ein fröhlicher Folksong, mit traurigem Inhalt: Moreno behandelt darin ihre Immigrationsgeschichte und die feindlichen Anti-Migrationsgesetze in den USA: "Vengo desde muy lejos...".

"Sing Me Life" orientiert sich am Soul der 60er Jahre, mit starken Bläsersätzen und rockiger Gitarre. Die 30jährige Sängerin und Gitarristin hat mit "Illustrated Songs" ein Album vorgelegt, das bezüglich seiner Originalität für dieses Jahr Maßstäbe setzt.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 06/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





[kol_5] Grenzfall: Nachtregen
 
Das Land ist trocken. Langsam geht er den Hügel hinauf in Richtung des Hauses. Seine Schuhe wirbeln die puderige Erde zwischen den Steinen auf. Es ist spät, kühl, und der Mond steht hoch am Himmel. Es sind keine anderen Häuser zu sehen. Auf der Straße kann er glitzernde Quarzsplitter erkennen. Die Klippen einer anderen kleinen Insel schimmern matt kremefarben, kahl. Zwischen den Inseln liegt Mondlicht auf der See, und ein Segelboot durchquert dieses Mondlicht. Ein Poui-Baum bewegt sich in der Brise. Das einzige Geräusch. Er kann es gerade noch hören.

Er steht still und betrachtet die Sterne. Um den Mond herum fehlen sie, aber sie erleuchten den Rest des Himmels. Für eine Weile blickt er auf die See, beginnt dann wieder zu gehen.

Als er weiter den Hügel hinauf ist, sieht er ein Tal, in dem noch die steinernen Überreste einer Villa aus Kolonialzeiten stehen. Das Mondlicht bescheint das verbrannte Land, welches die Wände und Säulen der Ruine umgibt.

Er erreicht ein Tor. Zwei Hunde kommen ihm schwanzwedelnd entgegen. Sie bellen nicht. Er öffnet das Tor, lässt es offen und geht mit den Hunden, deren lange, hängende Ohren er ab und zu streichelt, über den Kies zur Garage, in der ein Jeep steht. Ein Wachmann liegt dort auf einem Holztisch, unter seinem Kopf ein Bündel Kleider. Er schläft. Über ihm brennt das Garagenlicht.

Er öffnet die Tür, die den Wäscheraum und die Garage verbindet. Die Hunde winseln. Sie starren ihn an, und er erwidert ihren Blick. Ihre Augen sind groß, klar und braun. Die Hunde wedeln mit ihren Schwänzen. Er betritt das Haus.

In der Dunkelheit der Küche ist es kühl. Das Licht der Sterne und des Mondes scheint durch die Jalousien. Er öffnet den Kühlschrank, nimmt seine Wasserflasche und trinkt schnell. Er seufzt, aber er ist nicht müde.

Ein Windhauch erhebt sich im Garten, ein Garten mit verstreut umherstehenden Bäumen, Krotonen, Kakteen und Bougainvilleahecken. Der Morgen eingezäunten Landes schimmert im Mondlicht weiß wie Knochen; viele der Pflanzen, sogar einige der Kakteen, wirken wie ausgemergelt. Die Bougainvilleahecken blühen. Er zittert. Unter ihm in der Ferne liegt die See. Kein Mondlicht dort; sie ist dunkel und unermesslich. Er nimmt ein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnet die schmiedeeiserne Tür zur Veranda. Er geht zu der nächstgelegenen Hecke und pflückt ein paar der Blüten. Dann geht er mit schnellem Schritt zurück ins Haus.

Im Schlafzimmer liegt eine junge Frau auf dem Doppelbett. Er sieht ein langes, entblößtes Bein. Es ist angewinkelt. Ein Arm hält das Kopfkissen umschlungen, der andere umschließt ihren Kopf. Ihre Brüste, hell und vorstehend, sind zur Hälfte in Mondlicht gehüllt. Er legt die Bougainvilleablüten auf die Fensterbank über ihrem Kopf. Durch das Fenster kann er das Segelboot im Mondlicht vor Anker sehen, und jemand, eine Silhouette, der das Beiboot zum Strand rudert.

Vorsichtig zieht er einen schon gepackten Seesack unter dem Bett hervor und geht damit ins Bad. Er legt ihn hinter den Duschvorhang in die Wanne, geht zum Waschbecken, wäscht sich Hände und Gesicht, putzt sich die Zähne, zieht sich aus und steckt seine Kleider in den Sack. Dann geht er zurück ins Schlafzimmer und schlüpft neben sie ins warme Bett. Sie spürt ihn, und er schiebt sich näher an ihre Wärme. Er lehnt sich an das Kopfende und beginnt ihren Rücken zu streicheln. Bald legt er sich neben sie und umarmt sie. Er drückt sie eng an sich und küsst ihren Nacken. Wieder und wieder. Mehr kann er nicht tun.

Das Licht des Mondes und der Sterne schwindet. Die Hunde draußen trotten über den Kies. Wind kommt auf und wird stärker und stärker, bis es wie ein Seufzen klingt. Ab und an, wenn der Wind sie bewegt, schaben Sonnenstühle über den gekachelten Boden der Veranda. Er horcht auf den Wind in den Bäumen, das Winseln der Hunde, die unregelmäßigen Atemzüge der Frau und das Ächzen des Daches.

Dann hört er den Regen und lauscht, während er nachdenkt.

Sie bewegt sich, flüstert ihm etwas zu, umarmt ihn, drückt sich jetzt an ihn, um seine Wärme zu spüren, und küsst seine Hand.

Es regnet, genau wie du es mir gesagt hast. Ich liebe den Regen, sagt sie und drängt sich an ihn. Er hört sie fast nicht.

Der Regen … der Regen, murmelt sie.

Sie schläft, den Arm um ihn gelegt.

Er aber horcht lange Zeit auf den Regen.

Text: Keith Jardim
Übersetzung: Martin Rosenstock

Das Buch / Der Autor: 'Nachtregen' stammt aus Keith Jardims Sammlung von Kurzgeschichten Near Open Water (Leeds: Peepal Tree Press, 2011). Keith ist in Trinidad aufgewachsen und hat an verschiedenen Orten in der Karibik gelebt. Alle seine Geschichten sind dort angesiedelt. Sie zeigen, wie gegenwärtig die (koloniale) Vergangenheit in der Region noch immer ist und wo die Wurzeln der politischen und sozialen Probleme von heute liegen. Doch die Geschichten beschreiben auch die Schönheit der Inselwelt, die Großzügigkeit der Menschen und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zur Zeit arbeitet Jardim an seinem ersten Roman.

Buchtitel: Near Open Water (eng.)
Autor: Keith Jardim
172 Seiten
ISBN 978-1845231880
Verlag: Peepal Tree Press Ltd.
Dezember 2011

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