caiman.de 06/2012

[art_1] Argentinien: Viel besser als zu Hause
Das Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli im Süden von Buenos Aires
 
Brot für die Welt unterstützt in den Vorstädten von Buenos Aires Zentren, in denen Jugendliche und Kinder aus zerrütteten Familien Zuflucht vor der alltäglichen Gewalt finden.

Schnipp. Schnipp. Schnipp. Routiniert schneidet Karen mit einer Küchenschere Löcher in die 300 frisch gebackenen Milchbrötchen, die sie gerade aus dem Ofen gezogen hat. "Die sind alle für die Kinder, die gleich kommen", meint sie und füllt mit Hilfe von zwei Löffeln in jedes der Löcher klebrig-süßes Dulce de Leche. Auf Menschen, die sie nicht kennen, wirkt die schmale, junge Frau abweisend, so als sei sie vor irgendetwas auf der Hut, als erwarte sie jeden Moment einen Angriff gegen den sie sich verteidigen müsse. Sich vor Verletzungen zu schützen, das ist seit frühester Kindheit Karens Überlebensstrategie und obwohl sie erst 20 Jahre alt ist, strahlt sie eine Härte aus, die sofort signalisiert: ‚Leg Dich bloß nicht mir an‘.

Wenn man Karen fragt, was denn genau bei ihr zu Hause los war, verdunkelt sich ihr Gesicht als würde man eine Jalousie herunter lassen. "Ich will nicht darüber sprechen", ist die einzige Antwort, die man erhält.

Aber sie lässt durchblicken, dass ihre Mutter sie schlug und das Leben zu Hause für sie nicht zu ertragen war. Deshalb hat Karen seit ihrem 12. Lebensjahr jede freie Minute in dem Jugendzentrum ihres Viertels La Esperanza verbracht. "Mein ganzes Leben dreht sich nur um diesen Ort. Denn hier gibt es immer jemanden, der sich um mich kümmert und der mir zuhört."

Buenos Aires ist eine reiche Stadt mit glitzernden Wolkenkratzern, sorgfältig restaurierten Monumenten und teuren Geschäften. Doch gleich hinter der Stadtgrenze wandelt sich das Bild: Die Häuser werden immer kleiner, die Straßen bestehen nur noch aus Schotter und sind von Müll gesäumt. Wer durch die Vorstädte fährt, sieht überall Kinder, die ziellos durch die Straßen wandern und Jugendliche, die an den Straßenecken in kleinen Pfeifen Paco, eine aus den Abfällen der Kokainproduktion hergestellte Droge, rauchen. Es sind keine Straßenkinder, sie haben ein Dach, unter dem sie schlafen können. Aber meistens kein Zuhause, in dem sie sich geborgen und wohl fühlen würden. Ihre Eltern sind entweder den ganzen Tag in der Hauptstadt, wo sie als Tagelöhner mehr schlecht als recht ihr Geld verdienen oder sitzen desillusioniert vor dem Fernseher. Gewalt ist in den Familien der Vorstädte die Regel. Und so fliehen die Kinder nach der Schule vor der Einsamkeit, dem Geschrei und den Schlägen raus auf die Straße und suchen sich eine Ersatzfamilie.

Für diese Kinder und Jugendlichen gibt es in den Vorstädten von Buenos Aires nur sehr wenige Orte, an denen sie willkommen sind. Einer davon ist das Jugendzentrum von Centro de Participación Popular Mons. Enrique Angelelli im Süden Buenos Aires.

Hinter einem Stacheldrahtzaun erstreckt sich Rasen, der so platt getreten ist, dass man ihn kaum noch als solchen bezeichnen kann. Ein Teil des Gartens wird von einem alten, über und über mit Graffiti besprühten  Bus eingenommen. Bis vor ein paar Jahren stellte der das ganze Jugendzentrum dar, aber inzwischen steht im hinteren Teil des Grundstücks ein einfacher, unverputzter Ziegelbau mit einer Küche und einem Aufenthaltsraum, in dem die rohen Ziegelwände von ein paar Kinderzeichnungen geschmückt werden. Das ist alles.

Doch dieses Jugendzentrum ist für die Kinder und Jugendlichen des Viertels ein unersetzlicher Zufluchtsort. Mittags kommen die Schulkinder, gegen Abend die Jugendlichen und zwischendrin auch noch die Kleinen um sich ihr Milchbrötchen abzuholen. Alle werden freundlich begrüßt, bei Bedarf einmal fest gedrückt. Dann dürfen sie auf dem Bus herum klettern, Ball spielen, herum albern und toben. Zudem bietet das Zentrum verschiedene Aktivitäten an, an denen sich die Kinder beteiligen können: in der Küche wird gemeinsam gekocht und gebacken, an den wackeligen Holztischen im Aufenthaltsraum Glas bemalt und diskutiert, im Garten getrommelt und getanzt. "Für die Jugendlichen sind das alles Möglichkeiten, sich auszudrücken und Erfolgserlebnisse zu sammeln. Sie backen einen Kuchen, der allen schmeckt und für den sie gelobt werden. Das ist ein Moment, in dem sie Wertschätzung erfahren. Die meisten kennen das von zu Hause nicht", erklärt Deborah Schaad Raimondo, die Psychologin des Centros Angelelli den  Ansatz des Projektes.

Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit vor allem die Jungs erzählen, womit sie ihre Zeit verbringen würden, wenn sie nicht hierher kommen könnten: "Auf der Straße rumhängen, Drogen nehmen, Leute ausrauben" ist die Standardantwort.

Viele drohten schon abzurutschen, als sie das Jugendzentrum entdeckten. So wie der 14jährige Brian, der seit zwei Jahren hierher kommt. "Ich bin den ganzen Tag durch die Gegend gelaufen und habe Fensterscheiben eingeworfen. Es gibt hier ja sonst absolut nichts, was man machen könnte." Ist das Jugendzentrum also so etwas wie ein zweites Zuhause? Brian nickt. Karen widerspricht. "Nein, es ist mein erstes Zuhause", ruft sie mit Nachdruck. "Hier sind Menschen, die für mich da sind. Analie, die Köchin und Deborah – alle haben Geduld und Verständnis."

Wann immer es in den letzen Jahren für Karen schwierig wurde, fand sie hier jemanden, mit dem sie reden konnte. "Als ich feststellte, dass ich schwanger war, bin ich als erstes hierhin gekommen um mit jemandem darüber zu reden. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Jeden Tag kam ich her und wir tranken Tee und redeten und redeten und ich kam ein wenig zur Ruhe und konnte darüber nachdenken, wie es jetzt weiter gehen sollte. Hier hatten die Leute Zeit für mich und Geduld und Verständnis. Zuhause gab es das alles nicht."

Gewalt, Drogen und Teenagerschwangerschaften sind die Probleme, mit denen die Jugendlichen in den Vorstädten Buenos Aires tagtäglich konfrontiert werden. Deshalb bietet das Centro Angelelli bei seinen alle zwei Monate stattfindenden Workshops unter anderem genau diese Themen an.

Debora Schaad leitet den Workshop "Gewalt in der Beziehung". Sie schreibt die Stichworte, die den Jugendlichen zum Thema einfallen an eine Tafel: Anschreien, Misshandeln, Umbringen. Agelen kennt ihr Stichwort ‚Prügeln‘ von daheim: "Bei mir zu Hause gibt es viel Gewalt zwischen meinen Eltern. Das ist immer schlimm für mich, ich weine viel und bin viel draußen auf der Straße, weil ich es zu Hause nicht mehr aushalte." Die 13jährige wirkt zerbrechlich, als sie das erzählt. Sie wischt sich schnell über die Augen, holt einmal tief Luft und reißt sich zusammen.

Von den 21 Teilnehmern des Workshops, berichtet  Debora Schaad, erleben 16 in ihrer Familie, dass Konflikte durch Gewalt ausgetragen werden. "Gewalt in der Familie ist das zentrale Problem. Die meisten Kinder lernen zu Hause keine andere Methode zur Konfliktlösung kennen – so, wie schon ihre Eltern nichts anderes gelernt haben", erklärt sie. "Wir versuchen hier, ihnen beizubringen, wie man konstruktiv miteinander diskutiert und einen Kompromiss finden kann. Nur wenn sie das verinnerlichen, kann der Kreislauf der Gewalt in der nächsten Generation durchbrochen werden." Ob das gelingen kann? Ja, sagen die Mitarbeiter der Jugendzentren, es gäbe viele Jugendliche, die zeigen würden, dass ihre Arbeit Erfolg hätte.

Karen zum Beispiel: "Ich habe hier im Jugendzentrum eine ganz andere Welt kennen gelernt", berichtet sie und meint damit eine friedliche, entspannte Atmosphäre, in der man sich gegenseitig hilft und zuhört. So wie Karen erleben viele der Kinder und Jugendlichen so etwas zum ersten Mal. Karen möchte etwas von der Geborgenheit, die sie hier erfahren hat, weiter geben. Nicht nur an ihren inzwischen 11 Monate alten Sohn Nehuen, sondern auch an die Kinder des Viertels. Deshalb hat sie die Hausaufgabenbetreuung übernommen. Und auch, weil sie mit 20 inzwischen zu alt ist, um im Jugendzentrum betreut zu werden – aber sich ein Leben ohne das Zentrum nicht vorstellen kann.

Wenn Karen sich über die Schwestern Augustina und Malena lehnt, um ihnen dabei zu helfen, Wörter in einem Gitterrätsel zu finden, dann ist das einer der wenigen Momente, in denen die Züge um ihren Mund plötzlich weich werden.

"Sich um die Kinder zu kümmern, ist toll. Sie geben mir so viel zurück! Sie behandeln mich wie eine Schwester und haben mich gern. Und ich habe sie gern." In einer Welt, in der es sonst nur Zank und Gewalt gibt, gleicht dieser Satz einem leuchtenden Hoffnungsschimmer.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

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