brasilien: Von Pinien und Ameisenbären
Deutsche Buntstifte in Minas Gerais
THOMAS MILZ
[art. 1]
spanien: Architektonische Giftpilze in Sevilla
Schleichende Zerstörung einer der schönsten Städte der WeltBERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
brasilien: Überlebenshoffnung Guarana
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
spanien: Atlantis re-visited (Ibiza Teil II)
NORA VEDRA
[art. 4]
portugal: Urlaub mal nicht anders
NICO CZAJA
[art. 5]
helden brasiliens: Stadt ohne Schilder - São Paulo räumt auf
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: Maria de Buenos Aires
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
pancho: Menta Nevada
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Chupacabras / La Manigua
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Von Pinien und Ameisenbären
Deutsche Buntstifte in Minas Gerais

Die dürre Pinie ragt krumm und schief in den blauen Himmel hinauf. "Das war einer der ersten Bäume, die wir hier gepflanzt haben. Damals wussten wir nicht, was daraus wird - heute sind wir schlauer." Jairo Cantarelli hat für das deutsche Unternehmen Faber-Castell die Pinus Caribaea-Pflanzungen in Minas Gerais aufgebaut. Gut 20 Jahre ist das jetzt her und heute ist der Holzexperte mit den angegrauten Haaren der "Wood Division Manager" von Faber-Castell in Brasilien.

Neue Pinien-Pflanzung

Auf 10.000 Hektar pflanzt das fränkische Unternehmen Pinien im südöstlichen Bundesstaat an, genug um täglich gut sieben Millionen Stifte herzustellen. Krumme Kameraden kann man sich hierbei allerdings nicht mehr erlauben. Kräftig gekreuzt und genetisch verbessert habe man in den letzten Jahren, so Jairo, und heutzutage wachsen die Pinien schnurstracks und kerzengrade in die Höhe. Und dazu mit möglichst wenig Ästen. "Wenn der Baum erwachsen ist und gefällt wird, können wir etwa 2.500 bis 3.000 Buntstifte daraus herstellen."

Die den Boden überdeckenden gelben Nadeln dämpfen jeden Schritt im süß duftenden Pinienwald. Nur wenn man auf einen unter der Nadeldecke verborgenen Ast tritt, erfolgt ein trockenes Knacken.

Ansonsten liegt eine paradiesische Stille über den Bäumen, lediglich durchdrungen von entferntem Vogelgeschrei. 178 verschiedene Vogelarten haben die Mitarbeiter von Faber-Castell hier gezählt. Ein Refugium für bedrohte Tierarten ist die Pflanzung, die in der ansonsten kargen Savannenlandschaft des Cerrado, des trockenen Landesinnern, ihres Gleichen sucht. Zudem hat man 36 Säugetier-, 25 Amphibien- und 15 Reptilienarten in den Wäldern gesichtet.

Pinienplantage
für Faber-Castell

"Laut Gesetz müssten wir 20% unserer Fläche als Naturreservat belassen. Doch wir haben es freiwillig auf 32% ausgeweitet", so Jairo. Rund um die Pinienwälder liegt ein Naturgürtel aus wuchernden Wäldern. Hier kann das Wild unbehelligt umherstreunen. Und auch bei der Anpflanzung der Pinien geht man so vor, dass man niemals große Flächen auf einmal abholzt. Im Schachbrettmuster wird gepflanzt - frische Setzlinge wachsen in der Nachbarschaft zu 4-jährigen, 8-jährigen und 15-jährigen Bäumen auf.

"Bisher haben wir stets nach 18 Jahren geschlagen. Doch wir stellen gerade um. Nach 18 Jahren durchforsten wir jetzt, und wir werden diese Anpflanzung bis zum 23. oder 25. Jahr wachsen lassen." Lediglich zwei Baumarten sind für eine kommerzielle Pflanzung im Cerrado geeignet: Eukalyptus und Pinien. Aber Eukalyptusholz macht sich nicht gut als Blei- oder Buntstift. Deshalb entschied man sich für eine tropische Version der Pinie, die Pinus Caribaea.

Gerettete Klapperschlange
Zuchtholz für Stiftproduktion

Nach dem Schlag werden die Baumstämme in das nahe gelegene Sägewerk in Prata, einem 25.000-Seelendorf, gebracht. Danach geht es ein paar hundert Kilometer weiter nach São Carlos, wo 2.400 Beschäftigte das Rohmaterial zu Blei- und Buntstiften weiter verarbeitet: Über zwei Milliarden Stifte pro Jahr, die in 60 Länder exportiert werden.

Für die umweltgerechte Art der Pflanzung genießt das Unternehmen hohes Ansehen in Brasilien. Die zertifizierten Stifte werden sogar von Regierungsstellen als offizielle Stifte geordert. Dass man mit umweltgerechten Pflanzungen Geld sparen kann, ist dabei ein willkommener Nebeneffekt. "Durch das Anwachsen der Ameisenbärpopulation sind unsere Ausgaben für Schädlingsbekämpfungsmittel drastisch gesunken. Denn die Ameisen sind ein echtes Problem hier in dieser Region", sagt Jairo. "So haben wir viel Geld gespart und den Boden mit wesentlich weniger Chemie be- und das Grundwasser entlastet."

Der Holzexperte kann nicht verstehen, warum nicht mehr Unternehmen langfristiger denken. "Wenn die Welt begreifen würde, dass man mit einer ausgeglichenen, nachhaltigen Produktion am Ende ein besseres Resultat erzielt, hätten wir nicht die Zerstörungen, die wir heute überall vorfinden."
Jairo Cantarelli

Scharf bremst er seinen Wagen. Mitten auf dem sandigen Fahrweg döst eine Klapperschlange in der Mittagssonne. Jairo greift nach einem umher liegenden Ast und schiebt das gut anderthalb Meter lange Tier in die angrenzende Wiese. Dort kann sie in Ruhe weiterträumen.

Text + Fotos: Thomas Milz





[art_2] Spanien: Architektonische Giftpilze in Sevilla
Schleichende Zerstörung einer der schönsten Städte der Welt

Es war einmal eine Stadt, sehr alt, sehr stolz, sehr eitel. Eine Legende erzählt, dass die Diva unter Spaniens Städten jeden Tag ihr Spiegelbild im Fluss Guadalquivir betrachtete und sich dann fragte: "Wer ist die Schönste aller Städte?" Die Antwort war immer dieselbe: "Natürlich ich!" Und mit diesem selbstverliebten Urteil stand sie nicht alleine da, denn seit ewigen Zeiten waren Dichter, Opernkomponisten und Reiseführer-Autoren zur gleichen Überzeugung gelangt. Und das aus gutem Grund, haben doch viele Jahrhunderte hindurch Kalifen und Könige, Entdecker und Bürgermeister an der Schönheit dieser Stadt mitgewirkt.

Geniale Architekten wie Ahmad Ibn Baso, Hernán Ruiz II., Leonardo de Figueroa oder Aníbal González Osorio konnten hier ihre ehrgeizigen Traumprojekte verwirklichen und verwandelten die andalusische Hauptstadt in ein Schaufenster europäischer (und arabischer) Architekturstile.

Der arabisch-mudejare Alcázar und die größte gotische Kathedrale der Welt mit ihrem eleganten Moscheeturm gehören zu den Weltwundern der Architektur.


Patio des Alcázar

Noch Ende des 20. Jahrhunderts besaß Sevilla die flächenmäßig größte Altstadt Europas. Für die Weltausstellung 1992 wurden unzählige historische Monumente - manche von ihnen wiesen bereits dramatische Spuren der Zersetzung auf - restauriert, und die futuristischen Pavillons der Expo wurden alle abseits des historischen Zentrums auf der Insel des ehemaligen Kartäuserklosters gebaut und beeinflussten so in keiner Weise die architektonische Harmonie der Innenstadt.

Zwar blieb Sevilla von Kriegsschäden verschont, doch scheinen nun Spekulation, Korruption und Geschmacksverirrung die riesige Altstadt schleichend zu zerstören und ihr romantisches Flair dem schnellen und kurzlebigen Profit zu opfern. Es herrscht die Stadtverwaltung mit dem schlechtesten Geschmack, von der unsere schöne Stadt jemals regiert wurde: der Stadtrat des sozialistischen Bürgermeisters Monteseirín. (Um allen möglichen Verdächtigungen klar entgegen zu treten: ich bin nun wirklich kein Anhänger des Partido Popular, diese Partei ist ein bemitleidenswerter Verein beherrscht von Retro-Faschisten und Sektenmitgliedern des Opus Diaboli und absolut keine Alternative.)

Es soll hier auch nicht bestritten werden, dass die Plaza de la Encarnación, die seit fast zwei Jahrzehnten eine leere und öde Fläche im Herzen Sevillas ist, dringend auf ihre Wiedergeburt als öffentlicher Raum gewartet hat. Aber die Entscheidung der Sevillaner Stadtverwaltung unter Monteseirín für das extravagante Projekt des Berliner Architekten Jürgen Mayer kann man nur durch einen völligen Mangel an ästhetischer Sensibilität und fehlendem Respekt vor den Kulturschätzen Sevillas erklären.

Dieses enorm reiche kulturelle Erbe besteht nicht nur aus den beiden Mega-Monumenten Alcázar und Kathedrale.


Platz an der Kirche Santa Catalina

Sondern auch aus einem glitzernden Mosaik aus Mudéjararchitektur, Barockkirchen, Renaissance-Palästen, repräsentativen und intimen Plätzen und stillen Patios. Momentan scheint es so, als ob in jedem Jahrzehnt ein großes Stück dieses Mosaiks verschwindet, bis am Ende vielleicht nur noch die Hauptsehenswürdigkeiten isoliert übrig bleiben, umringt von Beton und riesigen Souvenir-Kaufhäusern, die dann "Carmen" oder "Macarena" heißen werden.

Jetzt ist man mit der Realisierung des monströsen "Pilz-Projekts" an einem dramatischen Punkt angekommen.

Die Dimensionen dieses Bauensembles (über 30 m hoch) überragen nicht nur die kostbare Renaissance-Kirche des Architekten Hernán Ruiz II.


Renaissance-Kirche zu Fuße der Giftpilze

Sondern sie zerstören zudem das Ambiente des gesamten Stadtzentrums und stellen damit eine durch nichts zu rechtfertigende visuelle Belästigung dar. Wie zum Hohn steht auf einem Plakat, das ein Modell des Projekts von Mayer zeigt, das unfreiwillig komische Motto "Sevilla - die Erbauung eines Traums". Es wäre angebrachter hier umzutexten und das brutale Projekt zu kommentieren mit den Worten: "Sevilla - die Erbauung eines Alptraums."

Wenn es sich bei diesen "Giftpilzen"des Herrn Mayer wenigstens um wirklich moderne Architektur handeln würde, spektakulär und sinnvoll wie z.B. die Werke des großen Santiago Calatrava.


Metropol Parasol, zu deutsch Giftpilz

Aber die Verantwortlichen im Rathaus von Sevilla haben sich für eine eher infantile Pseudo-Modernität im Disneylandstil entschieden - und das an einem denkbar ungeeigneten Ort: am zentralsten Platz der Sevillaner Altstadt. Das ganze wirkt wie ein Faustschlag ins Herz der andalusischen Diva.

Man kann sich jetzt fragen, warum man ein solches Projekt nicht am Rande des Expo-Geländes gebaut hat oder in der Betonlandschaft eines der vielen konfliktgeladenen Vororte, die stets bei allen urbanistischen Anstrengungen mit unschöner Regelmäßigkeit vergessen werden und wo diese Konstruktion nicht viel hätte verschandeln, sogar durchaus etwas beleben können.

Es darf auch die Frage erlaubt sein, wieso weder die für Denkmalschutz Zuständigen im Parlament von Andalusien, noch die verantwortlichen Referenten bei der UNESCO oder Icomos gegen die Realisierung dieses Pilz-Projektes protestiert und nicht zumindest versucht haben, es auf juristischem Wege zu verhindern. Noch interessanter ist die Frage, ob Herr Monteseirín oder andere Stadträte vielleicht Aktien des Baukonzerns Sacyr besitzen - angesichts der Unzahl von Großbauprojekten im Raum Sevilla, die alle zufällig von Sacyr im Auftrag der Stadt oder des Landes Andalusien durchgeführt werden (die "Pilze" sind nur eines von vielen). Wie so oft kam die Reaktion von protestierenden Sevillaner Bürgern gegen dieses Projekt zu spät.

Vielleicht sind die einzigen Demos, in denen wir wirklich sehr aktiv sind, diejenigen, bei denen Madonnen durch unsere Straßen getragen werden (aber ich bin sicher, auch die Macarena wird nicht begeistert sein, wenn sie demnächst zur Osterwoche unter den monströsen Pilzen dahin gleiten wird).

Doch wenn wir die schleichende Zerstückelung unserer Stadt durch Spekulation und Korruption verhindern wollen, müssen wir unseren Protest in Zukunft entschiedener und massiver vorbringen. Dies ist eine dringende Bürgerpflicht, denn in weniger als einem Jahrzehnt hat die Stadtverwaltung unter Alfredo Sánchez Monteseirín es geschafft, die einzigartige Stadtlandschaft Sevillas an entscheidenden Punkten zu zerstören.

Der Bau von "Metropol Parasol" (so der offizielle Titel der Mayerschen Pilze) ist das schlimmste und folgenschwerste Beispiel zahlreicher ästethischer Verbrechen gegen die Schönheit der Stadt: man denke nur an die Tankstelle am Flussufer der Flaniermeile des Paseo de Colón, an die visuell störenden und überflüssigen Straßenbahnmasten vor der Kathedrale (als ob es nicht längst Modelle gäbe, die ohne diese Masten fahren können!), an den Betonwürfel des "Aussichtsrestaurants" am Ufer von Triana gegenüber dem Goldturm (Wer hat die Lizenz zu einem solchen Skandalbau erteilt!?) und vor allem an die unsägliche Neugestaltung der Plaza Jesús de la Pasión und der Plaza de la Pescadería. Ein so unerträglicher Stilbruch mit futuristischen Laternen und Disneyland-Design direkt neben der monumentalsten Barockkirche wäre in Venedig oder Florenz undenkbar. So bleibt zu hoffen, dass durch die Flut der Proteste diese Platzgestaltung einem ordentlichen barocken Facelifting unterzogen wird.

Vielleicht ist das Einzige, was die historische Altstadt Sevillas vor weiteren Zerstörungen retten kann, eine Zwangsteilnahme aller Verantwortlichen im Rathaus an regelmäßigen Ästhetik-Seminaren.


Königliche Gärten (Alcázar)

Damit die Konstruktion von architektonischen Alpträumen innerhalb der Stadtmauern ein Ende findet.

Text + Fotos: Berthold Volberg





[art_3] Portugal: Urlaub mal nicht anders

Es gibt Reisen, auf denen du Abenteuer erlebst. Reisen, auf denen du dem Tode ins Auge blickst. Reisen, auf denen du über die Welt lernst oder die Liebe deines Lebens findest. Reisen, auf denen du neue Wege entdeckst, du selbst zu sein, Reisen, die deinen gesamten Ausblick aufs Leben verändern. Ganz besondere Reisen, die du nie mehr vergisst. Die nicht wiederholbar sind. Die dir niemand mehr nehmen kann. Und es gibt Pauschalreisen.

Ein deutsches Paar in Badekleidung, große Handtücher von den Armen baumelnd, bahnt sich den Weg zwischen Liegestühlen zum Schwimmbecken. "Bomm dia", erklärt er ihr. "Bomm dia?", fragt sie. "Ja, alles mit Bomm. Bomm dia, Bomm tardes..." Das Hotel liegt auf einer roten Klippe über der Praia da Falésia in der Algarve, einem schönen, ewig langen Sandstrand, der nur dadurch weniger schön wird, dass auf jeder zweiten roten Klippe verschieden große Geschwister des Hotels mit ihren tausend Fenstern übers Meer glotzen. Ein heftiger Wind hat die Wolken des Vormittags zum Teufel geblasen, die Sonne strahlt aus einem vanillegestreiften Himmel auf eine Handvoll halbnackter Leiber in verschiedenen Rötungsstadien, die sich um den Pool herum verteilt haben.


Ich dagegen liege im Zimmer 309 im Ehebett. Mit einem Mann. Der Fernseher läuft und erzählt uns die wichtigsten Informationen aus der Heimat, genauer: Eine große blonde Frau im knappen Abendkleid erzählt von den größten Highlights aus den Talkshows der letzten Tage.

Warum zur Hölle bin ich nicht draußen an der frischen Luft, wenn ich doch offenbar im Urlaub bin und die Sonne scheint? Und was für eine verrückte Geschichte hat mich, Weltreisenden und Abenteuerforscher von Rang und Namen, in diese Situation gebracht? Antwort 1: Weil ich im Urlaub bin und verdammt nochmal machen kann, wonach mir der Sinn steht. Antwort 2: Keine, oder fast keine. Ein großzügiger Reisegutschein von einer wohltätigen Organisation, ein paar Tage Zeit und ein guter Freund mit Urlaubsbedürfnis - das waren die Rahmenbedingungen für meine Entscheidung, mal einen Urlaub zu machen, den ich mir sonst nicht leisten können noch wollen würde. Nur so war es mir möglich, nach meinem ersten Besuch in Portugal das Land mit genauso wenig Wissen über Land, Leute und Kultur wieder zu verlassen, wie ich es betreten hatte.

Schon unsere Ankunft am Check-In-Schalter führte zu einer schwer beschreibbaren Veränderung in der blitzblanken Atmosphäre des glitzernden Foyers, etwas, das wir als Knacken in den Ohren wahrnahmen oder als kurzes Zucken in den Augenwinkeln. Es hat uns eine Weile gekostet, zu verstehen, was vor sich gegangen ist, aber inzwischen bin ich ziemlich sicher, dass es sich um den Altersdurchschnitt der Hotelgäste handelte, der in diesem Moment mit einem Male sank wie das Gegenteil einer Springflut. Aus jahreszeitlichen Gründen war das Etablissement vielleicht zu einem Viertel ausgelastet, und zwar nahezu ausschließlich mit Rentnerpaaren, manche einzeln, andere in überschaubare Reisegruppen zusammengefasst.


Die Rentner verbrachten die Tage mit allerlei Aktivitäten: Bingo, Wassergymnastik, Animation und anderen wilden Dingen. Wir verbrachten gerne die eine oder andere Sonnenstunde vor dem Fernseher im gemeinsamen Bett (man hatte uns ungefragt ein Zimmer mit Doppelbett zugeteilt), aus Trotz gegen die Konventionen eines traditionellen Pauschalurlaub-Ablaufs. Wenn der Minibar-Nachfüller klopfte, musste er des öfteren den einen oder anderen Augenblick warten, bis sich einer von uns zur Tür bequemt hatte, um ihm zu öffnen. Ich bin sicher, dass bald das gesamte Hotelpersonal voller Zuneigung vom netten schwulen Pärchen aus Zimmer 309 sprach. Die zwei Typen, die soviel Zeit miteinander auf ihrem Zimmer verbringen. Ach, sind das nicht auch die, die zum Buffet immer nur eine Mineralwasserflasche bestellen und teilen, weil sie für richtige Getränke zu geizig sind? Ja, genau die, José! Die ihre Teller immer sechsmal hintereinander mit nicht zueinander passenden Nahrungsmitteln beladen, um ja nichts zu verpassen? Und die sich dann immer ganze Arme voll Obst mit aufs Zimmer nehmen, weil's umsonst ist und man ja nie weiß, wann der kleine Hunger kommt? Ja, richtig. Die. Mensch, Manoel, die hab ich gestern Abend im Wellness-Bereich im Keller gesehen, ganz alleine waren sie da, haben stundenlang zusammen im Whirlpool gesessen, als hätten sie sonst nichts zu tun. Ganz, ganz niedlich.


Nun war es ja nicht so, dass wir nicht versucht hätten, auch etwas von der Umgebung mitzubekommen. Voller Tatendrang bestiegen wir eines Morgens unsere frischgemieteten Fahrräder, um ein bisschen ins Grüne zu fahren. Das Grüne gefunden haben wir nicht, bloß eine Stadtautobahn und viele Baustellen, die eines Tages einmal Hotels werden wollen. Und nach einem langen Tag im Sattel und unzähligen falsch genommenen Abzweigungen schließlich eine schöne Altstadt mit einem guten Mittagessen und zu guter Letzt einen kleinen, geheimen, hübschen Strand, versteckt hinter einer noch nicht ganz fertig gestellten Feriensiedlung. Eigentlich ein gelungener Tag, aber am Ende hätten wir fast um ein Haar das Abendbuffet verpasst, und das war ein Risiko, das wir unmöglich noch einmal eingehen konnten. Also blieb es bei diesem einen Ausflug. Man muss Prioritäten setzen.

Ich hatte gehofft, mein eingerostetes Portugiesisch ein wenig auffrischen zu können, aber jeder sprach mich auf Deutsch an. Ich wollte früh aufstehen und am Strand laufen gehen, aber ich war zu verdammt faul. Ich wollte kreativ sein und die Zeit zum Schreiben nutzen, aber ich hatte keinen Stift zur Hand und wollte dafür jetzt wirklich nicht extra aufstehen.

Immerhin: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Tennis gespielt, in einem Drahtkäfig umgeben von gepflegtem Rasen mit weißen Plastikliegen, auf denen halbnackte Rentner lagen und uns milde interessiert beäugten. Ich habe ein ums andere unerbittlich geführte Boule-Turnier gegen meinen Reise- und notwendigerweise auch Bettgefährten mit Bravour gewonnen. Ich habe ein gutes Buch gelesen. Wir haben bei zahllosen Spaziergängen an unserem Hausstrand restlos alle auch nur annähernd ansehnlichen Schalentiere aufgesammelt und als Souvenirs an den ereignislosesten Urlaub aller Zeiten mit nach Hause genommen. Ich habe einen ganz eigenen Mikrokosmos kennen lernen dürfen, der nach eigentümlichen Regeln funktioniert und in dem ich nicht weniger als Fremdkörper aufgefallen bin als damals unter Indianern in Brasilien.


Trotzdem: So bald muss das nicht noch einmal sein. Es sei denn, es findet sich eine weitere wohltätige Organisation, die mich mit einem Reisegutschein versehen möchte. Falls eine solche diesen Text lesen sollte: Bitte wenden Sie sich an die unten angebebene Emailadresse. Danke.

Oder aber wenn ich Rentner bin. Dann sitze ich am Abend silberhaarig in der Hotelbar und die Showband Focus ("Music to Dance") steht auf der Bühne und spielt die alten Lieder, die mich so schön sentimental werden lassen. Der Dicke an der Gitarre hat eine etwas dünne Stimme und einen schweren spanischen Akzent in seinem Englisch und der Dünne am Keyboard verfehlt hin und wieder eine Taste, aber die Musik erinnert mich an viele Dinge in meinem langen Leben. Schließlich kommt "I still got the Blues for you", ich nehme die Hand meiner Frau und wir tanzen, bedächtig und langsam, und der Dicke spielt das Solo fast genauso wie Gary Moore. Ich denke daran, wie meine Frau eben noch ausgelassen und nicht ganz nüchtern lauthals mit Focus und uns allen mitgegrölt hat: "Alice - who the f*ck is Alice!", und ich muss lächeln.

Text: Nico Czaja
Fotos: Michael Schmitz

[druckversion ed 11/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: portugal]





[an error occurred while processing this directive]




[art_5] Portugal: Urlaub mal nicht anders

Es gibt Reisen, auf denen du Abenteuer erlebst. Reisen, auf denen du dem Tode ins Auge blickst. Reisen, auf denen du über die Welt lernst oder die Liebe deines Lebens findest. Reisen, auf denen du neue Wege entdeckst, du selbst zu sein, Reisen, die deinen gesamten Ausblick aufs Leben verändern. Ganz besondere Reisen, die du nie mehr vergisst. Die nicht wiederholbar sind. Die dir niemand mehr nehmen kann. Und es gibt Pauschalreisen.

Ein deutsches Paar in Badekleidung, große Handtücher von den Armen baumelnd, bahnt sich den Weg zwischen Liegestühlen zum Schwimmbecken. "Bomm dia", erklärt er ihr. "Bomm dia?", fragt sie. "Ja, alles mit Bomm. Bomm dia, Bomm tardes..." Das Hotel liegt auf einer roten Klippe über der Praia da Falésia in der Algarve, einem schönen, ewig langen Sandstrand, der nur dadurch weniger schön wird, dass auf jeder zweiten roten Klippe verschieden große Geschwister des Hotels mit ihren tausend Fenstern übers Meer glotzen. Ein heftiger Wind hat die Wolken des Vormittags zum Teufel geblasen, die Sonne strahlt aus einem vanillegestreiften Himmel auf eine Handvoll halbnackter Leiber in verschiedenen Rötungsstadien, die sich um den Pool herum verteilt haben.


Ich dagegen liege im Zimmer 309 im Ehebett. Mit einem Mann. Der Fernseher läuft und erzählt uns die wichtigsten Informationen aus der Heimat, genauer: Eine große blonde Frau im knappen Abendkleid erzählt von den größten Highlights aus den Talkshows der letzten Tage.

Warum zur Hölle bin ich nicht draußen an der frischen Luft, wenn ich doch offenbar im Urlaub bin und die Sonne scheint? Und was für eine verrückte Geschichte hat mich, Weltreisenden und Abenteuerforscher von Rang und Namen, in diese Situation gebracht? Antwort 1: Weil ich im Urlaub bin und verdammt nochmal machen kann, wonach mir der Sinn steht. Antwort 2: Keine, oder fast keine. Ein großzügiger Reisegutschein von einer wohltätigen Organisation, ein paar Tage Zeit und ein guter Freund mit Urlaubsbedürfnis - das waren die Rahmenbedingungen für meine Entscheidung, mal einen Urlaub zu machen, den ich mir sonst nicht leisten können noch wollen würde. Nur so war es mir möglich, nach meinem ersten Besuch in Portugal das Land mit genauso wenig Wissen über Land, Leute und Kultur wieder zu verlassen, wie ich es betreten hatte.

Schon unsere Ankunft am Check-In-Schalter führte zu einer schwer beschreibbaren Veränderung in der blitzblanken Atmosphäre des glitzernden Foyers, etwas, das wir als Knacken in den Ohren wahrnahmen oder als kurzes Zucken in den Augenwinkeln. Es hat uns eine Weile gekostet, zu verstehen, was vor sich gegangen ist, aber inzwischen bin ich ziemlich sicher, dass es sich um den Altersdurchschnitt der Hotelgäste handelte, der in diesem Moment mit einem Male sank wie das Gegenteil einer Springflut. Aus jahreszeitlichen Gründen war das Etablissement vielleicht zu einem Viertel ausgelastet, und zwar nahezu ausschließlich mit Rentnerpaaren, manche einzeln, andere in überschaubare Reisegruppen zusammengefasst.


Die Rentner verbrachten die Tage mit allerlei Aktivitäten: Bingo, Wassergymnastik, Animation und anderen wilden Dingen. Wir verbrachten gerne die eine oder andere Sonnenstunde vor dem Fernseher im gemeinsamen Bett (man hatte uns ungefragt ein Zimmer mit Doppelbett zugeteilt), aus Trotz gegen die Konventionen eines traditionellen Pauschalurlaub-Ablaufs. Wenn der Minibar-Nachfüller klopfte, musste er des öfteren den einen oder anderen Augenblick warten, bis sich einer von uns zur Tür bequemt hatte, um ihm zu öffnen. Ich bin sicher, dass bald das gesamte Hotelpersonal voller Zuneigung vom netten schwulen Pärchen aus Zimmer 309 sprach. Die zwei Typen, die soviel Zeit miteinander auf ihrem Zimmer verbringen. Ach, sind das nicht auch die, die zum Buffet immer nur eine Mineralwasserflasche bestellen und teilen, weil sie für richtige Getränke zu geizig sind? Ja, genau die, José! Die ihre Teller immer sechsmal hintereinander mit nicht zueinander passenden Nahrungsmitteln beladen, um ja nichts zu verpassen? Und die sich dann immer ganze Arme voll Obst mit aufs Zimmer nehmen, weil's umsonst ist und man ja nie weiß, wann der kleine Hunger kommt? Ja, richtig. Die. Mensch, Manoel, die hab ich gestern Abend im Wellness-Bereich im Keller gesehen, ganz alleine waren sie da, haben stundenlang zusammen im Whirlpool gesessen, als hätten sie sonst nichts zu tun. Ganz, ganz niedlich.


Nun war es ja nicht so, dass wir nicht versucht hätten, auch etwas von der Umgebung mitzubekommen. Voller Tatendrang bestiegen wir eines Morgens unsere frischgemieteten Fahrräder, um ein bisschen ins Grüne zu fahren. Das Grüne gefunden haben wir nicht, bloß eine Stadtautobahn und viele Baustellen, die eines Tages einmal Hotels werden wollen. Und nach einem langen Tag im Sattel und unzähligen falsch genommenen Abzweigungen schließlich eine schöne Altstadt mit einem guten Mittagessen und zu guter Letzt einen kleinen, geheimen, hübschen Strand, versteckt hinter einer noch nicht ganz fertig gestellten Feriensiedlung. Eigentlich ein gelungener Tag, aber am Ende hätten wir fast um ein Haar das Abendbuffet verpasst, und das war ein Risiko, das wir unmöglich noch einmal eingehen konnten. Also blieb es bei diesem einen Ausflug. Man muss Prioritäten setzen.

Ich hatte gehofft, mein eingerostetes Portugiesisch ein wenig auffrischen zu können, aber jeder sprach mich auf Deutsch an. Ich wollte früh aufstehen und am Strand laufen gehen, aber ich war zu verdammt faul. Ich wollte kreativ sein und die Zeit zum Schreiben nutzen, aber ich hatte keinen Stift zur Hand und wollte dafür jetzt wirklich nicht extra aufstehen.

Immerhin: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Tennis gespielt, in einem Drahtkäfig umgeben von gepflegtem Rasen mit weißen Plastikliegen, auf denen halbnackte Rentner lagen und uns milde interessiert beäugten. Ich habe ein ums andere unerbittlich geführte Boule-Turnier gegen meinen Reise- und notwendigerweise auch Bettgefährten mit Bravour gewonnen. Ich habe ein gutes Buch gelesen. Wir haben bei zahllosen Spaziergängen an unserem Hausstrand restlos alle auch nur annähernd ansehnlichen Schalentiere aufgesammelt und als Souvenirs an den ereignislosesten Urlaub aller Zeiten mit nach Hause genommen. Ich habe einen ganz eigenen Mikrokosmos kennen lernen dürfen, der nach eigentümlichen Regeln funktioniert und in dem ich nicht weniger als Fremdkörper aufgefallen bin als damals unter Indianern in Brasilien.


Trotzdem: So bald muss das nicht noch einmal sein. Es sei denn, es findet sich eine weitere wohltätige Organisation, die mich mit einem Reisegutschein versehen möchte. Falls eine solche diesen Text lesen sollte: Bitte wenden Sie sich an die unten angebebene Emailadresse. Danke.

Oder aber wenn ich Rentner bin. Dann sitze ich am Abend silberhaarig in der Hotelbar und die Showband Focus ("Music to Dance") steht auf der Bühne und spielt die alten Lieder, die mich so schön sentimental werden lassen. Der Dicke an der Gitarre hat eine etwas dünne Stimme und einen schweren spanischen Akzent in seinem Englisch und der Dünne am Keyboard verfehlt hin und wieder eine Taste, aber die Musik erinnert mich an viele Dinge in meinem langen Leben. Schließlich kommt "I still got the Blues for you", ich nehme die Hand meiner Frau und wir tanzen, bedächtig und langsam, und der Dicke spielt das Solo fast genauso wie Gary Moore. Ich denke daran, wie meine Frau eben noch ausgelassen und nicht ganz nüchtern lauthals mit Focus und uns allen mitgegrölt hat: "Alice - who the f*ck is Alice!", und ich muss lächeln.

Text: Nico Czaja
Fotos: Michael Schmitz





[kol_1] Helden Brasiliens: Stadt ohne Schilder - São Paulo räumt auf

Mit dem Taxi drei Mal um denselben Block gedüst - die verflixte Autovermietung war einfach nicht zu finden. Zu dumm, dass es in São Paulo keine Schilder mehr gibt. Cidade limpa - Saubere Stadt heißt das Programm von Bürgermeister Gilberto Kassab, den man hier spöttisch auch gerne "nunKassab" (von nunca sabe… - man weiß ja nie…) nennt. Aber Spaß bei Seite!

Kassab hatte kurzerhand der visuellen Verschmutzung der Stadt den Kampf angesagt und Outdoors und Reklametafeln abreißen lassen.

São Paulo gestern

São Paulo heute

Der Schlag hat gesessen: erst nach Monaten des schilderfreien Chaos haben Geschäfte wie auch öffentliche und private Einrichtungen damit begonnen, neue Schilder zu montieren - wesentlich kleiner als die alten. "Cidade limpa" setzt halt enge Grenzen. Angeblich soll es Todesfälle gegeben haben, weil so manch einer nicht rechtzeitig das (unbeschilderte) Krankenhaus gefunden hat. Tausende Jobs sollen in der Werbebranche verloren gegangen sein. Und als wir zuletzt an einem Haus mit halbeingestürzter Fassade vorbeigingen, erzählte ein Freund, dass man versucht habe, das Reklameschild abzunehmen und dabei Teile des Mauerwerks mitgerissen habe.

Die Autovermietung habe ich dann doch noch gefunden, auch ohne Schild. Jetzt aber sitze ich selber hinter dem Steuer und suche das Hotel, in dem meine Freunde untergebracht sind. Leider hat ausgerechnet dieses Hotel noch kein neues Schild. Wieder kurve ich wie blind durch die Straßenschluchten der etwas saubereren Stadt.

Auch meine Geldbörse ist von Kassabs Tiefschlag voll erwischt worden. Denn früher hingen an beiden Außenseiten meines Wohnhochhauses riesige Werbeplakate. Ich wohnte genau hinter Naomi Campbells Schulterblatt und Raica Oliveiras perfekten Lippen. Aus Spaß sagte ich oft, dass ich demnächst ein paar Stockwerke nach unten ziehen werde… Seitdem die Plakate nicht mehr existieren, ist die Kostenumlage für jede Wohnung um gut 20% gestiegen.

Und Kassab will noch weiter gehen. Lärmbelästigung und Luftverschmutzung sind die nächsten Schritte auf seinem Zukunftsplan. Dabei kam er zuletzt etwas aus dem Tritt, als er versuchte, den Marktschreiern das Schreien zu verbieten. Doch bei ihnen biss er auf Granit, und so nahm er flugs das "Anti-Marktschreier-Dekret" wieder zurück. Daher dürfen diese ihre Ware weiterhin lautstark anpreisen. Zum Trotz ließ Kassab die Aufsichtsbehörden verstärkt gegen Diskotheken und nachtlaute Restaurants vorgehen.

Ich persönlich bin seit Kassabs Kreuzzug gegen die allumfassenden Belästigungen des Human Beings recht verunsichert. Als mir Kassab letztens auf einem lärmenden Fest höchstpersönlich gegenüberstand und mir ins Ohr schrie, wie ich denn die Party so fände, blieb ich still. Ich bin ja schließlich kein Marktschreier.

Text: Thomas Milz
Fotos: Roberto Cattani (São Paulo gestern) + Thomas Milz (São Paulo heute)





[kol_2] Macht Laune: Maria de Buenos Aires
Eine Operita von Astor Piazollas

Wenn man in die Oper geht, dann erwartet man...? Ja, was eigentlich? Und noch dazu, wenn der Schöpfer dieser Operita kein geringerer ist als der Begründer des Tango Nuevo - mit Namen Astor Piazolla? Zumindest ein Feuerwerk an guter Musik, ein bisschen Tango, Melancholie, Liebe, Verdruss und etwas poetischen Lunfardo, den die Porteños so liebevoll sprechen. Zugegeben: von allem war ein bisschen was dabei bei der von Anja Nicklich neu inszenierten María im Dortmunder Opernhaus, das am 5. Mai Premiere feierte. Aber irgendwie war es doch ungleich verteilt: Tango und Liebe zu wenig, Melancholie und poetisch aufgeplusterte Sprache beinahe schon unerträglich viel. Zumindest für deutsche Ohren.


Gut, Horacio Ferrer ist für die poetisch-metaphorische Sprache berüchtigt. Die klingt im Original auch hervorragend. Doch vollends darauf einlassen konnte man sich nicht, gerade wenn man den Begriff Lunfardo zwar richtig schreiben kann, ihn aber nicht beherrscht. Die Übersetzungstafeln waren zudem viel zu dürftig übersetzt oder sprangen von einem zum anderen Textblock entweder zu schnell oder zu langsam. Zwar mag sich der Operita-Inhalt auch über das Auge erschließen, aber dem Hispanophilen wurde es nicht gerade leicht gemacht. Der schwenkte nämlich zwischen Hinhören und Mitlesen im wahrsten Sinne des Wortes hin und her. Die Geschichte der Operita ist schnell erzählt. Maria, überdrüssig des Lebens auf dem Lande, verfällt ganz den Verlockungen der Metropole am Rio de la Plata; sie gibt sich den Männern hin wie dem Tango, gerät an die falschen Leute, prostituiert sich und zerbricht schließlich daran. Piazolla allerdings lässt sie gleich mehrmals sterben und wieder auferstehen. Der Erzähler (Andreas Wolfram) leitet uns durch Marias Leben. Er ist sowohl Analyst als auch Straßensänger oder Ladrón. Was der aufmerksame Leser dem Programmheft entnehmen kann, offenbart sich dem unwissenden Operngänger erst nach dem Stück beim Blick auf das selbige: Maria und ihr Schatten, die wieder zueinander finden müssen, nachdem sie durch die verführerische Stadt entzweit wurden. Der Schatten Marias, hervorragend in Szene gesetzt von der Brasilianerin Gilda Robello, beginnt sich zu wehren, während der Geist (Justo Moret Ruiz) die alten Zeiten einer heilen Welt beschwört.


Der Zuschauer wird mitgenommen auf Marias (Marta Lastowska) Reise. Er begleitet sie bei ihrer Ankunft in Buenos Aires, den Blicken in eine rosige Vergangenheit, Marias Wiedergeburt und schließlich ihrer Auferstehung. Man muss das alles nicht verstehen, aber Piazolla verstand es sehr wohl, dieses gesellschaftskritische Stück mit seinem "jazzigen" neuen Tango zu untermauern und ein besonderes Flair zu zaubern. Und dieses geht auch nicht verloren. Zu gut zeigt sich das Dortmunder Ballett auf der Bühne mit martialischen Choreografien und ständig wandelbarem Kostüm. Und zu gut präsentiert sich auch die Rumpfbesetzung der Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Günther Wallner, die eine eindrucksvolle Umsetzung der Tango-Oper offenbart. Einziger Schwachpunkt, den man gerne verzeihen würde (und der offenbar schon bei vielen Rezensionen verziehen, weil nicht gehört oder gesehen wurde), hätte dieses Instrument nicht auch eine Rolle im Stück: das akustisch fehlende Bandoneon. María liebt dieses Instrument (verkörpert durch Arsen Azatyan), das fest verbunden ist mit dem Tango. Man hätte es so gerne mal gehört. Allerdings, und das ist das gute daran, tat es dem Gesamteindruck keinen Abbruch, zumal das Akkordeon den Part bestens übernahm.


Alles in allem kann man die Operita empfehlen. Sie bereitet einen kurzweiligen Abend mit hervorragender Musik und tollem Ballett vor einem kargen, aber sehr effektvollen Bühnenbild. Und mit eineinhalb Stunden auch für den unerfahrenen Opernfreund machbar. Den alteingesessenen Opernfans sei gesagt, dass es sich nicht um eine klassische Oper handelt, sondern vielmehr um eine künstliche Tango-Flair-Kreation. Gerade weil Nicklich sich ziemlich frei verschiedener Stilelemente bedient, schafft sie für den Interessierten ein durchaus gelungenes Tango-Event, wie man es neudeutsch ausdrücken könnte. Und wer weiß, vielleicht lassen sich ja gerade durch diese Aufführung manche zu weiteren Opernbesuchen animieren.

Text: Andreas Dauerer
Fotos: Thomas Jauk (Pressestelle Opernhaus - Theater Dortmund)

Die letzten beiden Aufführungen finden am 07. und 13. Juni statt.
Weitere Informationen und Kartenbestellung im Internet unter: http://www.theaterdo.de





[kol_3] Pancho: Menta Nevada

Angenommen, die beste Freundin heiratet. Außergewöhnliche Umstände jedoch gestatten es weder dir noch sonstigen Freunden an der Zeremonie teilzunehmen.

Statt mit Freuden zu bezeugen, kannst du nur auf Nachricht warten, da der Zeitpunkt der Trauung eine Unbekannte. Und endlich die SMS "vollbracht". Sie trifft dich vis-a-vis mit der Alhambra vor der Schnee bedeckten Sierra Nevada. Was machst du nun?



Ich persönlich schau da ganz gerne mal bei meinen diversen Persönlichkeiten vorbei:
  1. "Musikus, alter Gesell, komponiere flott flotten Hochzeitsmarsch für Saxophon." Doch der Virtuose schlummert wohl auf immer und ewig unaufweckbar tief.
  2. "Hey Poet, verschärfte Slam-Bedingungen - Thema Amorebeat!" Es folgt Totalausfall durch unsägliche Übelkeit nach Schüttelreim.
  3. Bleibt die treue Seele fürs leibliche Wohl: "Pancho, himmelstürmender Gaumen für Bissfestes und Trinkgelage, futteresker Notnagel, Mary Shelly des mutierten Mahls, schöpfe und schaffe, würze und schmecke, auf dass sich die Welt auf ewig an Braut und Bräutigam erinnere."
Das Näschen tanzt zärtlich durch die Luft, links schiebend rechts stupsend. Flink, gleich den Tauben des Aschenbrödels, sortiert Pancho Gerüche, wirft alles wieder zusammen und beginnt erneut. Dann ist es vollbracht:

"Geh zu dem Hügel! Der erste intensive Duft, der dich einnimmt, umgarnt und Frische versprüht, sei der Bräutigam. Er gibt dir die Kraft die höchsten Gipfel zu erklimmen und nach dem Eis zu greifen.

Auf dem Weg zurück ins Tal sammle von dem zweiten Duft, der da sei die Braut. Aber Vorsicht, man sprach diesem lange Zeit eine aphrodisierende Wirkung zu."

So geschwind ich die Sierra Nevada erklommen hatte, so geschwind war ich zurückgeeilt, um das Farbenspiel der untergehenden Sonnen auf der arabischen Festung über Granada, der Alhambra, nicht zu verpassen. Geschultert: kräftige Minze, gewaltiges Eis und betörenden Anis.



Eine Stunde später ist es vollbracht: Der erste Menta Nevada erblickt am Tag des großen Jawortes die Welt und nachfolgende Generationen mögen beim Genuss dieses Longdrinks der kühlen, betörenden Frische von Menta und Nevada (anisada) gedenken.

Zubereitung
1. Minze waschen und mit kochendem Wasser übergießen. Lange ziehen lassen (20 Minuten bis über Nacht). Kühl stellen, damit der Sud sein sattes Grünmint erhält.

2. Viel Eis ins Glas. 4-5 Teile Minzextrakt einfüllen. Mit Minzzweig garnieren und 1-2 Teile anisölhaltigen Schnaps (Pastis) gemach über das Eis fließen lassend hinzugeben.

Trinkverhalten
Die Minzgarnitur sachte durch die beiden Schichten ziehen und aus dem Glas nehmen. Die tropfenden Blätter in Gedenken an die Trauung unter Freundesausschluss entweder mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk auf den Boden ausschütteln oder genüsslich durch den Mund gleiten lassen. ¡Salut amor fresco!



Text + Fotos: Dirk Klaiber



Geburtsdaten: Menta Nevada, 26. Mai 2007
Eigenschaften: frisch/belebend/partyfest
Wohlfühlfaktor: extrem hoch
Integrationsfaktor: unschlagbar





[kol_4] Lauschrausch: Chupacabras / La Manigua

Chupacabras
Fieras
galileo mc gmv010

Seit Mitte der 1990er Jahre häufen sich in Lateinamerika - vor allem in der Sensationspresse - Berichte über den chupacabras, ein Fabelwesen, das Kleinvieh wie Ziegen die Kehle aufschlitzen und das Blut aussaugen soll. Die Konzertbesucher der gleichnamigen Band aus Köln haben dergleichen wohl nicht zu befürchten; sie erwartet eine von Rap-Gesang geprägte Musik, die in momentan so erfolgreicher Mestizo-Manier moderne Klänge - Reggae, Dancehall etc. - mit folkloristischen Musikstilen aus Spanien und Lateinamerika mischt.

Cuban salsa
Die sieben Musiker aus Mexiko, Peru, Spanien, Griechenland und Deutschland eröffnen ihr erstes Album in Anlehnung an Mariachi und Flamenco und klingen ein wenig wie Ojos de Brujo aus Barcelona.

Ihre spanischen Texte kreisen um den Schutz der Erde ("Pachamama") und andere sozialkritische Themen wie Ungerechtigkeit und Armut in vielen Ländern, aber auch um Liebe ("La isla" oder "Chava"). Insgesamt temperamentvolle, tanzbare und lebensfrohe Musik, sehr rap-lastig, manchmal mit jazzigen Einschüben und einer miles-artigen Trompete (z.B. "La isla" und "Bomboclaat").


La Manigua
La Manigua
Nubenegra INN 1132-2

Funky geht es los bei La Manigua aus Kolumbien, und auch weiter. Während sich die Musiker durch verschiedene lateinamerikanische und kolumbianische Musikstile spielen - cumbia, son, samba, bambuco etc. - bleibt der Funk die Basis ihrer urban geprägten Musik, die sie auch als "son funktuno" bezeichnen. Wen wunderts, ist doch der Jazz- und Funkgitarrist John Scofield das große Vorbild von Bandleader Víctor Aguilar.

Calle Real Con Fuerza

Die 14 Titel drehen sich inhaltlich um die Liebe zu Frauen ("Chambuco"), zur Heimat Kolumbien ("Rumbatacubatá") und zur Musik selbst ("Son funktuno").


Die Kombination der traditionellen Rhythmen mit Funk, Jazz und ein wenig Rock machen zusammen mit den Percussions aus den Liedern von La Manigua tanzbare, fröhliche Musik ohne inhaltlichen Tiefgang (aber das muss ja auch nicht immer sein). Schade, dass das Cover so billig wirkt, dass es absolut nicht zum Kauf anregt.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






.