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[kol_1] Helden Brasiliens: Stadt ohne Schilder - São Paulo räumt auf

Mit dem Taxi drei Mal um denselben Block gedüst - die verflixte Autovermietung war einfach nicht zu finden. Zu dumm, dass es in São Paulo keine Schilder mehr gibt. Cidade limpa - Saubere Stadt heißt das Programm von Bürgermeister Gilberto Kassab, den man hier spöttisch auch gerne "nunKassab" (von nunca sabe… - man weiß ja nie…) nennt. Aber Spaß bei Seite!

Kassab hatte kurzerhand der visuellen Verschmutzung der Stadt den Kampf angesagt und Outdoors und Reklametafeln abreißen lassen.

São Paulo gestern

São Paulo heute

Der Schlag hat gesessen: erst nach Monaten des schilderfreien Chaos haben Geschäfte wie auch öffentliche und private Einrichtungen damit begonnen, neue Schilder zu montieren - wesentlich kleiner als die alten. "Cidade limpa" setzt halt enge Grenzen. Angeblich soll es Todesfälle gegeben haben, weil so manch einer nicht rechtzeitig das (unbeschilderte) Krankenhaus gefunden hat. Tausende Jobs sollen in der Werbebranche verloren gegangen sein. Und als wir zuletzt an einem Haus mit halbeingestürzter Fassade vorbeigingen, erzählte ein Freund, dass man versucht habe, das Reklameschild abzunehmen und dabei Teile des Mauerwerks mitgerissen habe.

Die Autovermietung habe ich dann doch noch gefunden, auch ohne Schild. Jetzt aber sitze ich selber hinter dem Steuer und suche das Hotel, in dem meine Freunde untergebracht sind. Leider hat ausgerechnet dieses Hotel noch kein neues Schild. Wieder kurve ich wie blind durch die Straßenschluchten der etwas saubereren Stadt.

Auch meine Geldbörse ist von Kassabs Tiefschlag voll erwischt worden. Denn früher hingen an beiden Außenseiten meines Wohnhochhauses riesige Werbeplakate. Ich wohnte genau hinter Naomi Campbells Schulterblatt und Raica Oliveiras perfekten Lippen. Aus Spaß sagte ich oft, dass ich demnächst ein paar Stockwerke nach unten ziehen werde… Seitdem die Plakate nicht mehr existieren, ist die Kostenumlage für jede Wohnung um gut 20% gestiegen.

Und Kassab will noch weiter gehen. Lärmbelästigung und Luftverschmutzung sind die nächsten Schritte auf seinem Zukunftsplan. Dabei kam er zuletzt etwas aus dem Tritt, als er versuchte, den Marktschreiern das Schreien zu verbieten. Doch bei ihnen biss er auf Granit, und so nahm er flugs das "Anti-Marktschreier-Dekret" wieder zurück. Daher dürfen diese ihre Ware weiterhin lautstark anpreisen. Zum Trotz ließ Kassab die Aufsichtsbehörden verstärkt gegen Diskotheken und nachtlaute Restaurants vorgehen.

Ich persönlich bin seit Kassabs Kreuzzug gegen die allumfassenden Belästigungen des Human Beings recht verunsichert. Als mir Kassab letztens auf einem lärmenden Fest höchstpersönlich gegenüberstand und mir ins Ohr schrie, wie ich denn die Party so fände, blieb ich still. Ich bin ja schließlich kein Marktschreier.

Text: Thomas Milz
Fotos: Roberto Cattani (São Paulo gestern) + Thomas Milz (São Paulo heute)