caiman.de 05/2011

[art_1] Brasilien: WM- und Olympiavorbereitung unter UN-Kritik
Ein Interview mit Raquel Rolnik
 
Fußball-WM 2014, Olympische Spiele 2016 - Brasiliens Großstädte brauchen Platz, um sich auf die kommenden Sportevents vorzubereiten. Neue Stadien werden gebaut, Parkplätze asphaltiert, olympische Sportstädten errichtet. Im Wege stehen dabei die Hütten tausender Menschen.

In den letzten Monaten haben sich die Beschwerden von Anwohnern gegen Aktionen der öffentlichen Hand gehäuft. Ohne die ihnen zustehenden Abfindungen werden diese zur Aufgabe ihrer Wohnungen gezwungen - klagt die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für angemessenes Wohnen, Raquel Rolnik, an. Caiman sprach mit ihr.

Sie haben im Dezember einen Brief an die Regierung geschickt, in dem Sie auf illegale Aktionen der Städte hinweisen. Was war passiert?
Das habe ich gemacht, weil ich in den letzten Monaten Informationen aus verschiedenen Städten erhalten habe, besonders aus Städten die an der WM 2014 teilnehmen, nach denen aufgrund von Projekten im Zusammenhang mit der WM massenhaft Einwohner zwangsweise aus ihren Wohnungen verwiesen werden. Und diese Zwangsräumungen werden durchgeführt ohne die internationalen Abkommen über Menschenrechte und menschenwürdiges Wohnen zu beachten. Die vorgetragenen Anschuldigungen lassen vermuten, dass man nicht gewillt ist, diese Vorschriften zu respektieren.

Wie werden die Menschenrechte denn konkret vor Ort missachtet?
Sie werden auf unterschiedliche Art und Weise missachtet. Zum einen geht es um die Mitwirkung der Bewohner, um deren Information, der Transparenz der Aktionen, dem Fehlen von Verhandlungen und Dialog mit den Bewohnern bis hin zu deren eigentlich vorgesehener direkter Einflußnahme, dem Recht, selbst Vorschläge einzubringen. Laut den Anschuldigungen, um die es geht, findet keinerlei Informationsfluss statt: die Bewohner wissen nicht, wer enteignet wird, wann, wie, was die Alternativen sind. Und schauen Sie sich die offiziellen Projekte für die WM und die Olympischen Spiele an, dann werden Sie merken, dass über diese Räumungen nichts verlautbar wird. Und was schlimmer ist - laut den internationalen Normen müssen die Anwohner hierzu befragt und angehört werden. Sie müssen in die Planung einbezogen werden und sie haben das Recht, eigene Alternativforschläge einzubringen, die die Umsiedlungen erträglicher machen. Aber nichts davon passiert.

Und die Abfindungen für die Bewohner?
Die internationalen Normen sagen: wird eine Wohnung zwangsgeräumt, darf die betroffene Person wählen zwischen einer finanziellen Entschädigung oder der Wahl einer Alternativwohnung an einem anderen Ort. Dies obliegt der Entscheidung der Person selbst. Wenn wir uns aber anschauen, was bei Räumungen in informellen Siedlungen passiert, die nicht 100%ig legal sind - was ja übrigens die Mehrheit der Wohnungen in Brasiliens Städten einbezieht - so sind die Abfindungen sehr sehr niedrig. Der Betrag reicht hinten und vorne nicht, damit die Menschen an einem anderen Ort adäquat untergebracht werden können. In der Praxis heißt das, dass sich die Wohnsituation der Leute drastisch verschlechtern wird; evtl. bis hin zur Obdachlosigkeit.

Und die Ausweichquartiere, die den Familien angeboten wurden?
Da handelt es sich um Ansiedelungen, die sehr weit draußen liegen - 30 oder 40 Kilometer von den ursprünglichen Wohnorten der Menschen entfernt. Dort gibt es keine entsprechende Lebensqualität, kaum Schulen, Gesundheitsversorgung, schlechte Infrastruktur, keine Arbeit und damit keine Chance auf Verdienst. All dies stellt eine Verletzung des Rechts auf angemessenes Wohnen dar, schließlich geht es beim Wohnen ja nicht bloss um die vier Wände, sondern auch um das Recht der Menschen auf Arbeit und Gesundheit. Diese Rechte werden missachtet.

Was können Sie zum Vorgehen der Sicherheitskräfte sagen?
Wir verfügen über Informationen, dass es zu Gewalt während der Räumungen kam, sowohl von Seiten der Polizei als auch von Seiten der städtischen Autoritäten, sowie über den Einsatz von privaten Sicherheitsleuten und anderen Personen, die keine Vertreter der öffentlichen Hand sind. Zudem wurden auch Traktoren der Baufirmen eingesetzt, um Häuser niederzureißen, in denen sogar noch die Möbel standen. Und Einschüchterungen gab es, Druck, um die Menschen zu zwingen, die Abfindungen und die Umsiedelung zu akzeptieren und rasch ihre Häuser zu räumen. Das waren allerdings Einzelfälle, aber auch das ist halt passiert. Die Regel ist auf jeden Fall, dass die Bevölkerung nicht beteiligt wird und dass es einen Autoritarismus bei den Entscheidungen gibt und das die Entschädigungen und die neuen Ansiedelungen nicht adäquat sind. Das scheint ein landesweites Muster zu sein.

Wie hat die Regierung auf die Vorwürfe reagiert?
Bisher gab es noch keine offizielle Stellungnahme von Seiten der Regierung. Es gab lediglich Erklärungen vom Stadtminister, dem Sportminister und der Ministerin für Menschenrechte.

Die drei haben bestritten, dass es zu Fällen von Gewalt gekommen sei und dass ihnen Fälle solcher Art nicht bekannt seien. Kann ja sein, dass sie wirklich nicht wissen, was vor sich geht.

Aber diese Informationen stammen aus offiziellen Dokumenten von öffentlichen Institutionen, also aus zuverlässigen Quellen des Staates.

Text + Foto: Thomas Milz

Hier findet ihr mehr Infos zum Thema (Portugiesisch): Raquel Rolnik

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