caiman.de 04/2009

[art_3] Bolivien: Piranhas und Bananen zum Frühstück

Schon die Anreise zum Urwalddorf Sanandita im Departamento Cochabamba (Bolivien) ist ein Abenteuer. Der Tourismusverantwortliche der indigenen Gemeinde der Yuracaré, Juanito Cartagena, holt uns früh am Morgen ab. Zusammen bringen wir die sieben Stunden Busfahrt mit kokakauenden Bauern über unasphaltierte Holperstraβen bis zum letzten Dorf vor dem Ziel, San Gabriel, hinter uns. Dieses "Nest" besteht aus nur einer staubigen Straβe, die von Läden, in denen man einfach alles für den täglichen Urwaldbedarf kaufen kann, umgeben ist. Dort nehmen wir die letzte Chance wahr, Zivilisationsgüter wie beispielsweise abgefülltes Wasser zu kaufen, was uns in Anbetracht des brackigen Flusswassers, das die Einheimischen trinken, dringend empfohlen wurde.



Mit dem klapprigen Taxi, das von Rechts- auf Linkssteuerung umgebaut wurde und in das sich problemlos 14 Personen stapeln lassen, geht es bis zum "Hafen", von dem aus wir mit dem Einbaum abgeholt werden sollen. Das Einbaum-Kanu, das uns schließlich abholt, wird - in unseren Augen - ähnlich überladen, so dass uns bei jeder Bewegung im Boot die Wasserkante bedrohlich näher kommt. Zum Glück wissen wir in dem Moment noch nichts von den Piranhas und Krokodilen, die den Fluss mit der indigenen Gemeinde teilen.

Ein schmaler Trampelpfad führt vom Hafen ins lang gestreckte Dorf Sanandita, das sich zwischen einen See und den undurchdringlich wirkenden Regenwald zwängt. 17 Familien zählt die Gemeinde, deren Holzhütten sich in etwa 100 Meter Abstand zueinander am Seeufer aufreihen. Für die Besucher haben die Dorfbewohner eine eigene Hütte gebaut, die wie ihre eigenen aus Holz und Stroh auf Pfählen besteht. Auf die Frage, warum man im "1. Stock" der hochgebauten Hütten schläft, den man über eine Baumleiter erreicht, antwortet Juanito gelassen, dass Vogelspinnen sich nur am Boden aufhalten und Wände nicht hochkommen. Na zum Glück!

Überlebenschance der Touristen im Urwald: ohne Hilfe eher niedrig
Die erste Nacht in der Hütte ist ungewohnt. Die im Vergleich zu einer Matratze harte Flechtmatte, die vollkommene Dunkelheit und vor allem der allgegenwärtige, nachts besonders ausgeprägte Urwaldlärm. Da gebe Brüllaffen, nachtaktive Vögel und Grillen ein nächtliches Konzert.

Der Tagesablauf der Yuracaré ist recht übersichtlich: wenn es hell wird, steht man auf und wenn es dunkel wird, geht man schlafen. Eigentlich logisch. Denn auf für uns normale Annehmlichkeiten wie Elektrizität, fließendes Wasser und sanitäre Anlagen muss man im Dschungel verzichten. Morgens um acht kommt unser Führer Renaldo, um uns zum Frühstück abzuholen. Leonora, seine Frau, hat über der Feuerstelle bereits Reis mit Bananen und Fisch gekocht, welchen sie uns jetzt schüchtern lächelnd serviert.

Die erste Aufgabe nach dem Frühstück ist das Fischen für das Mittagessen. Überhaupt beziehen sich beinahe alle Aktivitäten auf die Nahrungsbeschaffung und -zubereitung. Bei näherer Betrachtung ist dies in der westlichen Welt gar nicht so anders, nur dass man im Urwald eine viel direktere Verbindung zwischen Arbeit und Nahrung erkennen kann.

Beim Fischen auf dem See mit Angelruten, die aus einem Stock mit Angelsehne und Haken bestehen, zeigt sich, dass meine Überlebenschancen im Urwald ohne die sachkundige Unterstützung von Renaldo und Leonora recht gering wären.

Nicht einen Fisch konnte ich erwischen, trotz genauer Beachtung der Anweisungen.

Und auch der nächste Urwaldüberlebenstest muss als nicht bestanden gelten. Die zahlreichen und schmackhaften Früchte hängen meist recht weit oben an den Palmen und sind auch durch ein Rütteln am Baum kaum nach unten zu befördern. In wenigen Sekunden hat Renaldo den astlosen Stamm erklommen. Ich versuche es auch - obwohl das bei den relativ klar getrennten Aufgaben in der Gemeinde eindeutig eine Männerarbeit ist und daher etwas Verwunderung hervorruft - komme aber nicht über drei Meter hinaus und bin somit noch viele Meter von den begehrten Früchten entfernt. Aber dank Renald kommen wir an diesem Tag ins Paradies der Früchte: Bananen, Papayas, Orangen, Limonen, Kakaofrüchte und Grapefruits beweisen, dass wir in den Tropen sind.

Abgesehen vom Bäume erklimmen, ist das groβe Wissen der indigenen Bevölkerung über ihren Lebensraum, dem Urwald, immer wieder beeindruckend. Sie wissen, welche Beeren man zum Angeln nimmt, welche man essen kann, welche giftig und welche gar ein Heilmittel gegen verschiedene Krankheiten sind. Und wenn gerade keine Sitzgelegenheit verfügbar ist, werden ein paar dünne Bäume mit der Machete gefällt, aus denen innerhalb von drei Minuten geschickt  eine Bank gezimmert wird. Im Urwald ist unser "Stadtwissen" tatsächlich gar nichts wert.

Naturverbundenheit und Mystik der Ureinwohner
Die enge Verbindung zur Natur der Yuracaré zeigt sich nicht nur in ihrem Umgang mit ihrem Lebensraum - sie nehmen nie mehr als sie brauchen und als wiederhergestellt werden kann -, sondern auch in ihren mystischen Geschichten, Legenden und Traditionen.

Denn obwohl die Yuracaré Mitte des 18. Jahrhunderts christianisiert wurden, haben sie einen starken Glauben an Geister und Vorfahren behalten. Diese würden sie auch vor beispielsweise Jaguaren und Krokodilen schützen.

Das wirkt in dem Moment, als wir nachts inmitten des Dschungels im Zelt übernachten, beruhigend. Glücklicherweise wird uns erst viel später bewusst, dass die Vorfahren uns ja nicht kannten.

Text: Eva Fuchs
Fotos: DELPIA

Projektinfo:
Der Tourismus dient als Alternative zum Kokaanbau, kann somit weitere Waldrodungen verhindern und schützt so den Regenwald. Ein Großteil der Einnahmen im Tourismus fließt direkt in soziale Projekte und kommt damit der ganzen Gemeinde zu Gute. Mit Hilfe der Delpia-Stiftung konnten bereits diverse Projekte zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen realisiert werden, wie ein Bienenzuchtprogramm für den Verkauf von Honig oder ein Aufzuchtprogramm von Jochis, einer südamerikanischen Nagetierart ähnlich dem Meerschweinchen. Doch ein genauso wichtiger, wenn nicht noch wichtigerer Faktor, ist, dass durch die internationale Aufmerksamkeit der Touristen die Situation der Diskriminierung und Vertreibungen nicht mehr so leicht ignoriert werden kann. Die Touristen werden zur Stimme der Yuracaré. Die Präsenz von ausländischen Reisenden und ihr Interesse an der indianischen Kultur stärkt die Yuracaré zudem in ihrer Identität und in ihrem Stolz auf die eigene Kultur - ein wichtiger Faktor für die sonst marginalisierten und unterdrückten Gemeinden.

Der Stamm der Yuracaré-Indianer im bolivianischen Amazonasgebiet wird durch kolonisierende Kokabauern immer weiter zurück gedrängt. Um diese Invasion zu bremsen, hat die Nichtregierungsorganisation DELPIA vor zwei Jahren ein Gemeindetourismusprojekt ins Leben gerufen. Wer das Abenteuer Wildnis wagt, wird belohnt durch ein einmaliges und authentisches Erlebnis.

Reiseinfos: Bolivien & Sanandita
Einreise: Bürger der meisten Länder der Europäischen Union benötigen für einen Aufenthalt bis 30 Tage einen gültigen Reisepass, der noch mind. sechs Monate über das Ausreisedatum gültig sein muss. Vor Ort kann die Aufenthaltsbewilligung problemlos gegen Gebühr um jeweils weitere 30 Tage bis 90 Tage verlängert werden.

Gesundheit: Gelbfieberimpfung obligatorisch. Für den Aufenthalt in Sanandita ist neben den üblichen Impfungen auch die Typhus-Schluckimpfung empfohlen. Im Nationalpark Isiboro-Sécure gibt es ein tiefes Malariarisiko, die Mitnahme eines Malaria Medikamentes zur Notfalltherapie ist somit ebenfalls angebracht.

Reisen zu den Yuracaré: Koordiniert werden die Touren durch die Non-Profit Organisation DELPIA in Cochabamba: Av. Beijing y Tadeo Haenke (Av. Beijing # 1452), Tel: +591-4-4403138; Handy: +591-72290107; mail: info@fundacion-delpia.org; www.fundacion-delpia.org

Der Beginn der Tour ist nach Voranmeldung täglich möglich. Es werden zwei verschiedene Programme angeboten:
1. Das Programm "Das indigene Leben" ermöglicht den Besuchern, am Alltagsleben einer Yuracaré-Familie teilzunehmen. Der Besucher fühlt sich dadurch als Teil der indigenen Gemeinschaft. Die genauen Aktivitäten lassen sich im Voraus nicht genau festlegen, da sie stark vom Interesse der Besucher und dem jeweiligen Tagesgeschehen abhängen.

2. Das Programm "Die indigene Welt" bietet dem Besucher die Möglichkeit, die einzigartige Schönheit und den Artenreichtum in den indigenen Territorien kennenzulernen und zu erleben. Bei einer mehrtägigen Trekking- oder Kanutour durch den Urwald werden die Besucher von indigenen Führern begleitet, die während der Strecke ihr Wissen über das Überleben im Regenwald weitergeben.


Kosten:
Eine viertägige Tour ab/bis Cochabamba kostet für den Einzelreisenden ca. EUR 135.00, resp. ca. EUR 115.00 pro Person bei zwei Reisenden (Anreise ab Cochabamba mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die indigenen Führer sprechen nur Spanisch und Yuracaré)


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