caiman.de 03/2015

[art_2] Brasilien: Fußball, der Leben retten kann
 
In einer Favela von São Paulo ist Fußball viel mehr als nur ein Hobby. Der Fußballclub der Kolpingfamilie São José ist weit und breit das einzige Freizeitangebot, das Kinder und Jugendliche von der Straße und damit von den Gangs weg holt.

Schon wieder knattert ein Hubschrauber über den kleinen Fußballplatz des  Zentrums der Kolpingfamilie São José. Der vierte in drei Minuten. Anderson schenkt ihm keine Beachtung, sondern dribbelt um die Abwehr der gegnerischen Mannschaft herum, um dann mit einem gezielten Schuss den Ball im Tor zu versenken. Die Hubschrauber kommen aus einer anderen Welt, aus der Welt der Reichen, die das Elend und die Staus der brasilianischen Megacity São Paulo einfach überfliegen. Auf ihre Hilfe können die Menschen in den Favelas nicht zählen, sie müssen sich schon selber helfen.

José Joaquin de Sousa pfeift ein Abseits und die Mannschaften formieren sich neu. Der 48jährige leitet nicht einfach ein Fußballtraining, nein, er ist 70 Kindern und Jugendlichen ein Freund und Mentor, eine Vaterfigur in den oft zerbrochenen Familien, ein Mann, der Werte vermittelt und Orientierung gibt. "Es ist ein Kampf gegen die widrigen Umstände, unter denen die Kinder leben, und den führe ich um jedes einzelne Kind. Werde ich es schaffen, dass dieses Kind auf den rechten Weg kommt? Oder wird es in die Drogenkriminalität abdriften?"

Was zum Beispiel täte wohl der 15jährige Anderson, wenn er nicht seit Jahren jede Woche zwei Mal in das Kolpingzentrum käme, um zu trainieren und Freunde zu treffen? Fußball spielen jedenfalls nicht, soviel ist sicher. "Es gibt hier keine andere Möglichkeit, um zu trainieren. Wenn ich nicht hierher kommen würde, dann hinge ich wohl nur auf der Straße rum und würde dumme Sachen machen." Dumme Sachen – damit meint er, er hätte sich gewiss schon längst einer Gang angeschlossen und würde Drogen verkaufen. So wie all die Jugendlichen aus der Nachbarschaft, die nicht zu Kolping kommen. Es geht hier nur in zweiter Linie darum, ein guter Fußballspieler zu werden. Kolping möchte den Jungs Eigenschaften vermitteln, die sie woanders nicht bekommen. Anderson hat hier nicht nur dribbeln, sondern auch viel wichtigere Dinge gelernt: "Disziplin und Verlässlichkeit. Man muss pünktlich zum Training kommen und darf seine Mannschaft nicht im Stich lassen. Und durchhalten, auch wenn es mal nicht so gut läuft."

Für Andersons Mutter Santos da Silva ist das Kolpingzentrum ein Geschenk des Himmels. Sie lebt mit ihrem Sohn in einer baufälligen Behausung in der angrenzenden Favela. Eines dieser vielen Elendsviertel, die vom Staat vergessen wurden, in denen es außer engen Gassen und elenden Hütten nichts gibt. "Meine größte Sorge ist, dass mein Sohn mit den falschen Leuten in Kontakt kommt. Dass er sich einer der Gangs anschließt und seinen Lebensunterhalt mit Drogen und Schmuggel verdient." Es gebe, so sagt Santos da Silva, in den Favelas einfach keine Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, keine Zukunft, die aus den elenden Verhältnissen heraus führt. Das einzige, was ihrer Meinung nach gegen ein Abrutschen in die Kriminalität helfen kann, sind Bildung, Werte und Respekt. Und der einzige Ort, an dem Anderson all dies vermittelt bekommt ist das Kolpingzentrum. Hier Fußball zu spielen, Gemeinschaft zu erleben und einen sicheren Ort zu haben, das mache für das Leben ihres Sohnes einen riesigen Unterschied. "Seitdem er hierher kommen kann, hängt er nicht mehr auf der Straße rum. Und er hat plötzlich den Antrieb, zur Schule zu gehen."

Die Idee zu diesem Fußballprojekt entstand, als ein anderes Kolpingmitglied vor einigen Jahren feststellen musste, dass sich nach und nach alle Freunde seines Sohnes Gangs angeschlossen hatten. In den Elendsvierteln von São Paulo gibt es keine sinnvollen Freizeitbeschäftigungen. "Wir wollten etwas schaffen, mit dem wir diese Kinder von der Straße holen können", erinnert sich José Joaquin. Er ist ein einfacher Verkäufer und besitzt kaum Geld, aber gibt das, was er hat: Zeit als Trainer - vier Mal pro Woche drei Stunden.

Normalerweise driften in den Favelas 90 Prozent der Jugendlichen in die Kriminalität ab. Der Kolpingfamilie São José ist es gelungen, dieses Verhältnis bei ihren Schützlingen umzukehren. Jeder Junge, der einen Schulabschluss macht, ist für José Joaquin ein Sieg. Doch viel zu oft muss er das Training wegen strömenden Regens oder sengender Sonne ausfallen lassen – der kleine Fußballplatz hat kein Dach. Es zu bauen würde umgerechnet 35.000 Euro kosten und dass ist für die Kolpingfamilie unbezahlbar.

Die Kinder von der Straße zu holen ist eine Aufgabe, an der sich nicht nur der Trainer beteiligt. Jeder, dem etwas an dem Zusammenleben in der Favela liegt, ist eingeladen zu Kolping zu kommen und mitzuhelfen, es ein wenig lebenswerter zu gestalten. Lourdes Malmaso und Assumpto Grossi sind beide 81 Jahre alt und Rentnerinnen. Sie kommen fast täglich in das Kolpingzentrum, es ist so etwas wie ein zweites Zuhause. "Wir haben viele Probleme hier im Viertel. Für nichts ist Geld da, die Kommune hat keines und die Leute selber auch nicht." Doch hier im Zentrum schließen sich die Menschen zusammen und helfen sich gegenseitig. "Unsere Aufgabe ist es, für die Jungs Mittagessen und einen Snack zuzubereiten." Für viele der Kinder ist das die erste und oft auch einzige richtige Mahlzeit des Tages.

Fast noch wichtiger als ein voller Magen allerdings ist die Zukunft. Und für die hat Anderson Pläne: "Ich will erst mal meinen Schulabschluss machen. Und dann irgendwas studieren. Vielleicht was mit Technik." Für einen Jungen aus einer Favela São Paulos ist das ein fast unerhörter Satz. Spräche er ihn bei den Jungs an der Straßenecke aus, sie würden ihn auslachen. Aber bei Kolping lacht darüber niemand – am allerwenigsten sein Trainer José Joaquin.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

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