ed 03/2012 : caiman.de

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spanien: Tejeda – das schönste Dorf von Gran Canaria
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Chau Flaco
Zum Tode von Luis Alberto Spinetta
ANDREAS DAUERER
[art. 2]
bolivien: Dengue-Fieber - Die unterschätze Tropenkrankheit
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
spanien: Hostal Empúries
Zwischen Archäologie und Strand
DIRK KLAIBER
[art. 4]
hopfiges: inedit – unveröffentlicht
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 1]
erlesen: Poetik des argentinischen Rock
TORSTEN EßER
[kol. 2]
grenzfall: Was für ein Karneval!?
Sonntagsumzug in Rosas
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 3]
lauschrausch: Ein Stück Afrika in Lateinamerika
Das kolumbianische Projekt Jende Ri Palenge
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Tejeda – das schönste Dorf von Gran Canaria
 
Das erste, was mir auffällt, als ich morgens um 9.30 Uhr aus dem Bus steige, ist die ungewohnte Stille – nach all dem Trubel in der Touristenmetropole Playa del Inglés im Süden von Gran Canaria. Und ein kühler Wind, der hier im Herzen der Insel durch das 2.000-Seelen-Dorf Tejeda auf über tausend Meter Höhe weht.

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Die Läden, Cafés  und Restaurants sind noch geschlossen, kein Mensch ist auf der einzigen Straße des Ortes zu sehen, außer einer Gruppe Kinder, die mit ihrem Hund spielen. Ansonsten ist Tejeda anderthalb Stunden nach Sonnenaufgang ein Geisterdorf: viele Fensterläden – geschlossen, die Dorfkirche Nuestra Señora del Socorro – geschlossen. Eine fast unheimliche Stille liegt über dem weiten Vulkankrater, in den Tejeda hinein gebaut wurde. Man hört nur das träge Plätschern einer Bewässerungsanlage, das friedliche Flattern aufgehängter Wäsche im Wind und ab und zu Hundegebell.

Das Büro der Touristeninformation ist ebenfalls noch geschlossen. Also setzte ich mich auf eine Bank und blicke in den Abgrund. Ringsherum ragen die steilen, dunklen Felswände des längst erloschenen Kraters von Tejeda empor. Die spektakuläre Lage dieses Bergdorfs wird eingerahmt von den beiden markantesten Gipfeln Gran Canarias, die sich wie steinerne Wächter über Tejeda auftürmen: im Süden die majestätische Silhouette des 1811 Meter hohen Roque Nublo, gen Westen der bizarre, 1414 Meter hohe Roque Bentayga, der wie ein schräges Dreieck die Wand der Caldera an ihrem höchsten Punkt abschließt. Dahinter ist zwischen im Dunst verschwommenen Felsformationen der Atlantik zu erahnen und an klaren Tagen sieht man Teneriffa und den Teide. Kein anderer Ort auf Gran Canaria hat eine so grandiose Lage. Es ist daher nicht überraschend, dass hier mittags oft Dutzende Busladungen von Touristen sowohl von den Stränden des Südens als auch aus der Hauptstadt Las Palmas eintreffen.

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Die Gastronomie Tejedas lebt vor allem von diesen Tagestouristen, dabei gibt es hier natürlich auch Pensionen und Landhäuser, ideal für alle, die auf den Kanaren keinen Strandtrubel und Diskotheken, sondern eher Ruhe und gesundes Bergklima suchen. Die meist weißen Häuser heben sich vom düsteren Vulkangestein ab, wobei einige wie Adlernester an den Steilhängen der Caldera kleben. Überraschend hohe Kakteen ziehen sich in breiten Gürteln die Hänge hinauf und ab und zu ragt ein riesiger Agavenbaum wie ein Schwert in den Himmel. Diese "Bäume" sind eigentlich die Blüte der Agave und ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass eine Agave Jahre lang all ihre Kraft in die Bildung dieser einzigen Blüte steckt, um nach ihrem Verblühen für immer abzusterben. Ein Gedanke, der am frühen Morgen eine ungemütliche Melancholie aufkommen lässt, die es dringend zu vertreiben gilt. Am besten durch Bewegung.

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Obwohl ich offenbar noch immer der einzige Tourist an diesem Morgen bin, öffnet um 10.30 Uhr das Tourismusbüro. Ich erkläre der sympathischen jungen Dame meinen Plan, von hier aus zum Roque Nublo zu wandern. Sie schaut mich mit großen Augen an, als sei dies der absurdeste Gedanke, von dem sie je gehört habe. Wandern? Freiwillig? Aber es gebe doch in Tejeda selbst viel zu sehen, z.B. das Museum der Traditionen oder das Museum Abraham Cárdenas. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass ich nicht in diese spektakuläre Bergwelt gekommen bin, um den sonnigen Tag vor Vitrinen mit Volkstrachten oder geflochtenen Körben zu verbringen. Sie gibt zu bedenken, dass es keinen direkten Wanderweg zum Roque Nublo gäbe (was nicht stimmt und wohin mich dieser Irrtum führen sollte, konnte man schon in der Januarausgabe nachlesen).

Es wird deutlich, dass mich diese hübsche Lokalpatriotin vor allem innerhalb der Grenzen ihrer Gemeinde halten möchte. Also gibt sie mir eine Karte der Gemeinde Tejeda und empfiehlt mir einen Wanderweg von Cruz de Tejeda nach Las Mesas, von wo es eine sehr gute Aussicht auf den Roque Nublo gäbe. Dafür müsste ich aber zuerst mit dem Bus ein paar Stationen weiter fahren oder die Landstraße nach Norden entlang wandern. Das würde etwa zwei Stunden dauern. Diese Zeitangabe halte ich zwar für übertrieben, aber dennoch könnte es zu spät werden, um den Bus zurück so gegen 16.00 Uhr zu erreichen. Ich danke ihr für das Kartenmaterial und verlasse etwas ratlos das Tourismusbüro.

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Das Dorfzentrum mit Kirche, Aussichtsplateau und dem "Restaurant zum Rebhuhn" (La Perdiz) kenne ich ja nun schon. Es gibt zwei Alternativen für viel versprechende Wanderungen, die in drei bis vier Stunden von hier zu bewältigen wären: entweder zum Roque Bentayga, wo man auch einen Opferplatz der Ureinwohner besichtigen kann oder Richtung Roque Nublo. Auf der Karte entdecke ich eine Abzweigung,  ein winziges Landsträßchen, das nach Süden führt und in einer Sackgasse beim Dörfchen La Culata, schon sehr nah am Roque Nublo endet (Gesamtstrecke ca. sieben Kilometer). Spontan entscheide ich mich für Letzteres. Dafür muss ich zunächst der Hauptstraße noch drei Kilometer steil bergauf folgen und mich dicht am Abgrund halten, sobald LKWs vorbei brausen, denn für Fußgänger ist hier kein Platz.

Endlich erreiche ich die Abzweigung nach rechts und endlich geht es wieder bergab. Vorbei an üppig am Hang wuchernden Agaven und vereinzelten Fincas genieße ich die Ausblicke auf tief unter mir liegende Gärten und die Ruhe einer weitgehend verkehrsfreien ländlichen Sackgasse. Die großen Auffangbecken für Regenwasser neben fast jedem Bauernhof erinnern daran, dass Landwirtschaft in den Tälern unterhalb dieser kahlen Berghänge immer vom Volumen des Wasservorrats abhängig ist. Natürlich gibt es auch Bergbäche, aber der Grundwasserspiegel im zentralen Bergmassiv ist dramatisch gesunken, seit immer mehr Wasser in die Bettenburgen im Süden geleitet wird. Angebaut werden in den Tälern rund um Tejeda vor allem Mandelbäume (daher das Marzipan als lokale Spezialität), Weinreben, Kartoffeln und Kakteen. Eine sehr vernünftige Wahl, angepasst an die Wasserarmut der Region – anders als auf den großen Plantagen, die aus allzu viel Wasser verschlingenden Tomaten und Bananen für den Export bestehen. Ein witziger Anblick sind die Hunderte,  ja Tausende von Baby-Kakteen, deren stachelige Köpfchen schön in dichten Reihen geordnet ganze Felder bilden.

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Plötzlich reißt mich ein unerwartetes Geräusch aus meiner wandernden Betrachtung kanarischer Landwirtschaft: Schüsse! Sie hallen von den Berghängen wider, multipliziert durch das Echo. Es handelt sich wohl kaum um einen Bandenkrieg der Berg-Mafia, sondern eher um Jäger auf der Jagd nach einem Sonntagsbraten. Aber was gibt es in diesen kargen Bergen überhaupt zu jagen? Kaninchen? Rebhühner? Groß kann die Beute jedenfalls nicht sein. Obwohl man immer wieder liest, dass verirrte Schüsse auch einsame Wanderer treffen können. Ich hoffe jedoch, dass mein auffälliges lilafarbenens T-Shirt mich davor bewahrt, von irgendeinem Sonntagsjäger mit Bergwild verwechselt zu werden. Trotzdem beschleunige ich meine Schritte, begleitet vom Schuss-Konzert, um die Endstation La Culata zu erreichen.

Neben der Kapelle von La Culata hat man einen grandiosen Blick auf den Roque Nublo. Er wirkt schon ganz nah, aber der Aufstieg von hier würde zu lange dauern unter Berücksichtigung des Rückwegs zur Bushaltestelle. Also gehe ich in die einzige Bar des nur ein paar Häuser zählenden Weilers La Culata und bestelle einen Kaffee. Zuerst starren mich die paar dort versammelten Dorfältesten an wie einen Außerirdischen (es ist wohl lange niemand mehr zu Fuß hier angekommen). Doch sobald meine Nationalität geklärt ist,  kreist die Unterhaltung natürlich um Fußball und die einhellige Meinung ist, dass Spanien im Sommer bei der EM Deutschland erneut besiegen wird (DAS bleibt abzuwarten!).

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Die Schüsse sind verhallt, als ich mit neuer Energie den Rückweg (leider bergauf) antrete. Ein Motorengeheul zerreißt die Stille und in der Kurve über mir sehe ich eine Motorrad-Gang, die in einer Minute an mir vorbei brausen wird – auf dem Weg nach La Culata. Ich dränge mich so eng wie möglich an den Abgrund und ein Dutzend Biker donnert an mir vorbei wie ein Tornado. Dabei wird mir meine Baseball-Kappe vom Kopf geweht. Ich blicke nach unten. Meine atlantikblaue Kappe ist in einem Weinberg gelandet. Doch der liegt sehr tief unter mir und es ist kein Pfad am Steilhang zu erkennen. Mir wird klar, dass mein lieb gewonnener Schattenspender unter der Rubrik "Verluste" verbucht werden muss. Möge er dem Weinberg-Besitzer Glück bringen.

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Die Sonne brennt mir ins Gesicht während der letzten drei Kilometer zurück nach Tejeda. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine neue Kappe, natürlich wieder in atlantikblau. Und ich wette, sie wird mich immer an den Krater von Tejeda erinnern.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Anfahrt:
Von Maspalomas/Playa del Inglés mit dem blauen Bus von Global Nr. 18 am besten um 8.00 Uhr morgens; zurück dann Montag-Samstag um16.00 Uhr bzw. Sonntag um18.00 Uhr.

Empfehlungen:
Restaurant: La Cueva de la Tea, C. Dr. Domíngo Hernández Guerra (mit Terrasse und Aussicht auf die Schlucht, bietet authentisch kanarische Gerichte wie Ziegenbraten, Papas Arrugadas, Kaninchen in Tomatensoße,  Lammgulasch)

Konditorei: Dulcería Nublo, C. Dr. Domíngo Hernández Guerra (Spezialität: Marzipan, Mandelkuchen, Mandelkekse)

Link:
www.tejeda.es



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 03/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Argentinien: Chau Flaco
Zum Tode von Luis Alberto Spinetta
 
Die Musikwelt trauert. Mit Luis Alberto Spinetta verlässt einer der hellsten Sterne des argentinischen Rockhimmels die irdische Welt. Ein Ausnahmemusiker, ein Ausnahmepoet, eine Ausnahmeerscheinung. Ohne Flaco, wie sie ihn liebevoll nannten, hätte es den argentinischen Rock Nacional sicherlich auch gegeben. Aber er war es, der ihn maßgeblich vorantrieb und beeinflusste. 1967 gründete der erst 17-jährige Spinetta die Band Almendra. Zwei Jahre später folgte die erste Platte mit dem einfachen Titel Alemandra I und einem Lied, das heute jedes argentinische Kind kennt: Muchacha Ojos de Papel.



Eine einzigartige Liebeserklärung eines Heranwachsenden an seine Angebetete, mit der Bitte, sie möge doch einfach bis zum Morgengrauen bei ihm bleiben. So die Kurzform. Denn seine Wortwahl ist voller Poesie, Sinnlichkeit und Erotik. Und ein Meilenstein des Rock Argentino, obwohl der Song zu damaliger Zeit so gar nicht dem Genre entsprach. Denn schon das Einstiegsriff ist ganz anders, als man es von der damals aktuellen Musik gewohnt ist. Spineteano wird man diese Art später nennen und immer wieder zitieren, wenn ein Lied langsam zum eigentlichen Hauptteil hinführt.

Was folgt, ist eine beispielhafte Karriere, mit unzähligen Studioalben und vielfachen Stationen. Eine zweite Platte mit Almendra, dann ein Soloprojekt, ehe es mit dem Trio Pescado Rabioso und zwei weiteren Alben weitergeht. Die erste Platte post Pescado Rabioso mit dem Titel Artaud sollte eine der wichtigsten Platten seiner Laufbahn werden. Obwohl der Bandname auf dem Cover noch auftaucht, spielt Spinetta fast alle Instrumente selbst ein und entlehnt seine Texte den Werken Antonine Artauds, dem französischen Schriftsteller und Theaterschreiber, der daran glaubte, dass man das Publikum während eines Theaterstück so vehement wie nur irgend möglich in den Bann ziehen sollte.

Und auch Spinettas Musik zeigt sich verwandelt. Er wird experimenteller, melodischer und seine Texte sind von einer poetischen Leichtigkeit und dennoch in unzählige Lesarten eingebettet, so dass sie bisweilen nur schwer zugänglich sind. "Er ist der Maradona des Rock", hat Charly Garcia, eine weitere Ikone der argentinischen Rockgeschichte, über Spinetta gesagt – und hat damit verdammt Recht. Spinettas Musik ist unglaublich elaboriert, vielfältig, manchmal experimentell und deshalb nicht immer auf Anhieb eingängig, weil sie – eben wie Maradona – immer wieder mit dem Unerwarteten aufwartet.



Man muss sich mit seinen Liedern auseinandersetzen, sonst findet man keinen Zugang. Egal, ob mit Band wie bei Invisible, Spinetta Jade, Spinetta y los Socios del Desierto oder in diversen Soloprojekten: Immer stand Musik und Text gleichermaßen im Zentrum, angetrieben von seiner hohen, ja manchmal brüchigen Stimme, die seinen Liedern eine unverwechselbare Note gab. Man denke nur an Todas las Ojas son del Viento, dem ersten Stück auf der Scheibe Artaud. Wäre es von einer heiseren Bassstimme intoniert worden… Unvorstellbar! Gleiches gilt für Muchacha Ojos de Papel; und wahrscheinlich für 90 Prozent aller seiner Lieder.

Ich durfte den Dünnen 2004 selbst erleben. In einem alten Theater in Buenos Aires spielte er zusammen mit seiner Band aus seiner damals jüngsten Scheibe Camalotus. Vom ersten Moment an zog er das Publikum in seinen Bann, obwohl fast niemand seine neuen Lieder mitsingen konnte. Und dennoch versprühten sie jene Magie, der sich fast niemand erwehren kann. Natürlich wurden auch hier irgendwann die Rufe laut, er möge doch noch einmal Muchacha Ojos de Papel spielen, aber Spinetta reagierte darauf nicht. Er wollte einfach keine Lieder spielen, die knapp 35 Jahre alt waren. Zu Recht, wie ich im Nachhinein finde, auch wenn ich das Lied damals wirklich gerne gehört hätte. Stattdessen verzückte er das Publikum mit exzellenter Musik, unzählige Anleihen aus dem Jazz und seiner virtuosen Gitarre, so dass die zwei Stunden wie im Flug vergingen. Als ich dann beim Verlassen des Theaters in die Gesichter der Konzertbesucher blickte, sah ich ausschließlich rotwangige Argentinier mit glänzenden Augen. Sie wirkten seltsam beseelt von einem ebenso wunderbaren, wie seltsamen Auftritt. Spinetta eben.

Geradlinig, ehrlich, ohne Allüren, so wird man den Musiker in Erinnerung behalten. Auch sein letzter Brief, mit dem er seine Krankheit noch im Dezember vergangenen Jahres öffentlich machte, dokumentiert dies auf einzigartige Weise. Er beginnt mit den einfachen Worten: "Mi nombre es Luis Alberto Spinetta. Tengo 61 años y soy músico. Desde el mes de Julio sé que tengo cáncer de pulmón." Gerade mal zwei Monate später verlor er den Kampf gegen den Lungenkrebs.



Der Tod kam für dieses Genie früh. Viel zu früh. Und auch wenn sein musikalisches Werk mit über 30 Platten der Welt erhalten bleiben wird; dem argentinischen Rock Nacional wird künftig einer seiner hellsten Sterne fehlen. Für immer.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 03/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]






[art_3] Bolivien: Dengue-Fieber - Die unterschätze Tropenkrankheit
 
Wenn es in Santa Cruz anfängt zu regnen, überprüft Dr. Juan Antonio Flores vom Kolping-Gesundheitszentrum noch einmal seinen Vorrat an Paracetamol und bestellt im Zweifel größere Mengen nach. Denn: wenn es regnet, dann dauert es noch fünf bis sieben Tage, bis die Tigermücken schlüpfen und beim Stechen Viren auf Menschen übertragen. Mit anderen Worten: es besteht die Gefahr einer Dengueepedemie in der bolivianischen Großstadt. Viele Menschen erkranken und müssen behandelt werden.

"Das größte Problem ist, dass es keine Medikamente gegen das Denguefieber gibt. Man kann nur dafür sorgen, dass der Patient ausreichend Flüssigkeit zu sich nimmt. Vor allem bei Kindern und Alten führt das Fieber von über 40 Grad zur Dehydrierung und in Folge dessen oft zum Tode. Der Patient sollte so viel wie irgend möglich trinken und ständig darauf achten, dass die Körpertemperatur nicht steigt. Wenn es gelingt, das Fieber zu kontrollieren und der Patient über gute Abwehrkräfte verfügt, wird er von selber wieder gesund", so Dr. Juan Antonio Flores.

Ein starkes Schmerzmittel ist ebenfalls angebracht. Denguefieber wird auch als Knochenbrecherfieber bezeichnet, denn es geht mit furchtbaren Gliederschmerzen einher. "Es ist ein Gefühl von vollkommener Schlappheit und Muskelschmerzen. Die Augen schmerzen unentwegt und man hat das Gefühl, dass einem das Ende bevorsteht", berichtet Bastian Müller, ein deutscher Tourist, der bis zu seiner Infektion noch nie von Denguefieber gehört hatte. Da er sich in den Tropen aufhielt, dachte er an Malaria und ging sofort zu einem Arzt, anstatt auf eigene Faust fiebersenkende Schmerzmittel zu nehmen. Glücklicherweise. Denn leicht hätte er das falsche Mittel erwischen können und das hätte unter Umständen alles noch viel schlimmer gemacht.

"Aspirin vermindert die Gerinnungsfähigkeit des Blutes. Und das ist unter anderem eine der Auswirkungen, die das Denguefieber hat. Wenn nun Aspirin gegeben wird, wird dieser Effekt verstärkt und das kann zu einem hämorrhagischen Fieber führen", erklärt Dr. Flores.

Aber auch ohne Aspirin kann Hämorrhagisches Fieber bei Dengue auftreten. Das bedeutet, dass es zu inneren Blutungen kommen kann. Diese entstehen dadurch, dass die Zahl der Blutplättchen so stark abnimmt, dass sie sich nicht mehr zu einem Gerinnsel verbinden können. Gleichzeitig sind die Blutgefäßwände durchlässiger, der wässrige Anteil des Blutes tritt aus den Adern in das Gewebe aus, der Druck in den Adern sinkt und die den lebenswichtigen Sauerstoff transportierenden Blutkörperchen können nicht mehr zu den Organen gelangen. Das führt zu einem sogenannten hämorrhagischen Schock. In etwa zwei bis fünf Prozent aller Fälle nimmt die Krankheit diesen schweren Verlauf.

Wer in Deutschland an von Mücken verbreitete Tropenkrankheiten denkt, dem fällt als allererstes Malaria ein und danach vielleicht die Schlafkrankheit. Dabei ist Dengue mindestens so weit verbreitet wie Malaria. Die Krankheit kommt in Südostasien, Afrika und Lateinamerika vor. Übertragen wird sie von der Tigermücke, die auf einer Höhe von bis zu 2000 Metern vorkommt und tagsüber aktiv ist.

"Die Tigermücke brütet gerne in Wohngebieten. Es reichen ihr kleine Mengen frischen Wassers, wie zum Beispiel in einem Blumentopf. Dengue ist hier ein großes Problem, vor allem in der Regenzeit – da steigen die Fälle sprunghaft an", berichtet Jelina Roca. Sie arbeitet im Tropeninstitut von Santa Cruz und analysiert die Proben, die die Hausärzte bei ihr einschicken. Über die Jahre ist ihr aufgefallen, dass sich die Krankheit verändert hat: "Wir beobachten, dass die Symptome der Krankheit zunehmend schwerere sind als bei den früheren Epidemien, die Krankheit häufiger mit Komplikationen verläuft. Wir sehen hier im Labor, dass sich der Virus verändert. Es gibt neue Typen und diese Fälle sind gravierender. Die Menschen haben größere Schmerzen, das Fieber dauert länger an.

Hinzu kommt: Eine überstandene Dengue-Infektion macht nicht immun. Man kann die Krankheit immer wieder bekommen – weil sich die Viren ständig verändern und das Immunsystem sie dann nicht wiedererkennen kann. Allgemein wird sogar angenommen, dass es bei einer wiederholten Infektion häufiger zu inneren Blutungen kommen und die Krankheit durchaus tödlich verlaufen kann. So stellt beispielsweise eine ganze Reihe internationaler Organisationen keine Mitarbeiter ein, die schon einmal Denguefieber hatten, weil sie das Risiko einer Zweitinfektion für nicht verantwortbar halten. Auch Bastian Müller, der in Bolivien lebt, ist deshalb äußerst vorsichtig, wenn er ins tropische Tiefland fährt und lässt keinen Zentimeter Haut ungeschützt: "Man muss sich in diesen Epidemiegebieten einfach sehr vorsehen, dass man nicht gestochen wird; d.h  viel Mückenschutzmittel auftragen und lange Bekleidung. Was anderes kann man da nicht machen."

Natürlich ist es in Gebieten mit Denguefieber sinnvoll, sich so gut wie möglich vor Mückenstichen zu schützen. Trotzdem gibt es für Aber Bastian Müller und andere ehemalige Denguepatienten einen Lichtblick. Dr. Joachim Richter vom Tropeninstitut der Uniklinik Düsseldorf hat sich eingehend mit Zweitinfektionen von Dengue beschäftigt und ist zu dem Schluss gekommen, dass eine wiederholte Ansteckung keinen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit hat: "In jedem der deutschen Institute sehen wir mindestens 20 bis 25 Fälle pro Jahr. Wenn man sich nun überlegt, wie viele Deutsche in Thailand, Brasilien oder wo auch immer Urlaub machen bzw. leben und nach einiger Zeit wieder nach Deutschland zurück kehren, dann würde man davon ausgehen, dass die Fälle von hämorrhagischen Fieber bei uns zunehmen würden. Es gibt aber viel weniger Dengue-hämorrhagische Fieber als Zweitinfektionen. Das Dengue-hämorrhagische Fieber ist im Vergleich zu den Millionen von Fällen von Dengueinfektionen immer noch sehr selten."

Nach intensivem Quellenstudium fand der Tropenmediziner sogar heraus, dass Komplikationen eher bei Erstinfektionen auftraten. Offenbar hängt es vom Immunsystem ab, ob die Krankheit mit inneren Blutungen einher geht. Dafür spricht, dass die Krankheit vor allem bei kleinen Kindern häufig schwer verläuft. Zwar gibt es auf eine große Anzahl von Fragen die Krankheit betreffend noch keine Antworten; aber zweifelsfrei steht fest, dass sich die Krankheit immer weiter ausbreitet. Joachim Richter und seine Kollegen verzeichnen eine stetige Zunahme von Denguefällen, und das liegt nicht nur daran, dass der Fernreiseverkehr zunimmt.

"Wenn Sie sich die Karten von vor zwei Jahren ansehen, war Denguefieber auf die tropischen Regionen begrenzt. Heute haben wir die sogenannten autochthonen Infektionen in Kroatien, Südfrankreich oder auch Ägypten, also alles Länder, die nördlich der Sahara liegen", so Dr. Richter.

Die Tigermücke wurde sogar schon am Oberrhein beim Brüten beobachtet. Es ist die Klimaerwärmung, die mit milden Wintern dafür sorgt, dass die Mücken inzwischen auch nördlich der Tropen überleben. Diese Entwicklung ist neu. Auch für deutsche Ärzte. Sie sind nicht darin geschult, tropische Krankheiten zu erkennen. Und auf die Idee, jemanden, der im Urlaub in Kroatien war, auf Denguefieber zu testen, muss man überhaupt erst mal kommen.

Dengue ist übrigens nur eine von mehreren Tropenkrankheiten, die sich im Zuge des Klimawandels in den letzten Jahren gen Norden ausgebreitet hat und deren Symptome von den Ärzten hierzulande nur schwer eingeordnet werden können.

Doch Dengue "wandert" nicht nur immer weiter Richtung Norden, sondern tritt auch in den tropischen Gebieten zunehmend häufiger auf. Eine Impfung gibt es nicht und die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass jedes Jahr 50 Millionen Menschen mit Dengue infiziert werden – rund vier Mal so viele, wie noch Ende der 70er Jahre. Für diese Zunahme gibt es einen Grund: Die Städte in den Entwicklungsländern wie Bolivien wachsen rasant - und ohne, dass Stadtplaner dabei mitreden würden.

"Das Bevölkerungswachstum hier in Santa Cruz ist völlig außer Kontrolle geraten. Die Häuser werden einfach irgendwo gebaut, an Orten, wo sie nicht stehen dürften. Die Leute wohnen am Rande von Müllhalden in Gegenden, die mit dem Denguevirus verseucht sind", erklärt Dr. Flores.

Das Kolping-Gesundheitszentrum, in dem Dr. Juan Antonio Flores praktiziert, steht am Rande einer solchen wilden Siedlung, in der sich die Denguefälle häufen. "Hier", sagt er, "findet die den Denguevirus übertragende Tigermücke optimale Bedingungen – weil überall Müll herumliegt."

"Wenn die Regenzeit beginnt, bilden sich überall kleine Pfützen. Damit sich Denguemücken entwickeln können, reicht schon ein wenig Wasser in einem herumliegenden Flaschendeckel. Die Mücken haben die Eier darin schon lange vorher abgelegt. Wenn diese nun mit Wasser in Berührung kommen, dauert es nur fünf bis sieben Tage, bis die nächste Generation verseuchter Mücken geschlüpft ist", erklärt Dr. Flores.

Das flächendeckende Einsammeln des Mülls kurz vor der Regenzeit wäre eine ebenso einfache wie wirksame Methode, um die jährliche Dengue-Epidemie in Santa Cruz und anderen tropischen Städten zu bekämpfen. Jedes Jahr weist das Ärzteteam von Kolping die Behörden aufs Neue darauf hin, wie wirksam eine solche Aktion wäre. Doch die Appelle verhallen ungehört und das macht Dr. Flores ungehalten. Schließlich ist Vorbeugung die einzige Möglichkeit, die Krankheit einzudämmen. "Die Prävention fußt auf zwei wichtigen Säulen: Die Leute dazu zu bringen, ihren Müll nicht überall hin zu schmeißen und von Seiten der Behörden das Einsammeln des Mülls. Aber soweit sind wir noch nicht. Wir sind ein Entwicklungsland, in dem die Menschen noch nicht verstanden haben, wie die Dinge zusammen hängen."

Mit einer breit angelegten Aufklärung eine Epidemie einzudämmen, kann funktionieren. Das zeigt zum Beispiel eine Kampagne des Roten Kreuzes in Dörfern in Ruanda, wo die Zahl der Malariafälle deutlich gesenkt werden konnte. Vergleichbare Aufklärung in den Slums der Dritten Welt über die Zusammenhänge zwischen Müll, Mücken und Denguefieber könnte ähnlichen Erfolg haben. Doch das müsste erst einmal von irgendwem finanziert werden.

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 03/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Spanien: Hostal Empúries
Zwischen Archäologie und Strand

Es ist vor allem die Lage, die das Hostal Empúries so einzigartig macht: An einer der wunderschönen von vier Buchten zwischen Sant Martí d’Empúries und L’Escala liegt direkt an der 1,5 Kilometer langen Promenade der weiße Gebäudekomplex mit Terrassenfront und einem unvergesslichen Blick über den Golf von Rosas bis zur Halbinsel Cap de Creus.



Dieser im Süden befindliche Abschnitt der 20 Kilometer langen Bucht ist unbebaut, obwohl die Strände ihres Gleichen suchen. Grund ist eine an das Hotel angrenzende Ausgrabungsstätte. Die Anfänge der Besiedelung gehen auf griechische Handelsaktivitäten zurück und datieren bis in das Jahr 600 v. Chr. Ab Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. wurde die Hafenstadt von römischer Seite erobert und als Stadt weitergeführt.



Den ältesten Teil stellen aber nicht die heute zugänglichen Ruinen dar, eine Wohnsiedlung um 500 v. Chr., sondern das kleine Dorf Sant Martí selbst. Nach der griechischen Kolonialzeit fungierte es bis ins Mittelalter als Festungsanlage. Heute dominiert den Hauptplatz eine kleine, ewig sonnenbeschienene Kirche, erbaut zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert. Diese wird flankiert von einer Reihe Restaurants, die Sant Martí zu einem ganzjährig kulinarisch beliebten Ausflugsort machen.



Die Geschichte des Hostals Empúries ist mit der Geschichte der Grabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. Die erste Phase der Freilegung der heute sichtbaren Ruinen dauerte von 1907 bis zum Spanischen Bürgerkrieg 1936. Die Villa Teresita, so der Name des ersten Teils, des heutigen Hauptgebäudes, ging ebenfalls 1907 in Betrieb und diente den Archäologen als Unterkunft. (Bilder zu den Anfängen und der Entwicklung findet ihr auf der Hotelseite: Hotelseite)



Der Charme der historischen Konstruktion hat sich gehalten. Die Räumlichkeiten in den erstgebauten Teilen des Hauptgebäudes, die vor allem das Verandazimmer des Restaurants und das großzügig gemütliche Kaminzimmer beherbergen, sind liebevoll und unter Einbezug verschiedener Accessoires aus verschiedenen Epochen gestaltet und erlauben es – besonders im wenig bis gar nicht touristischen Winter –, sich in die Zeit der Villa Teresita zurück versetzen zu lassen. Zudem sind sowohl die Küche mit eigenem Kräutergarten als auch die empfohlenen Weine ausgezeichnet.



Der neuere Anbau besteht in erster Line aus Zimmern in Form von Reihenbungalows und einem kleinen aber feinen, bisweilen herrlich dekadenten SPA-Bereich mit Blick aufs Meer und einem mit frischen Pinienzweigen gespickten und ordentlich heißen Dampfbad. Im Fitnessraum gibt es keinen Fernseher, sondern den Blick auf die mal glatte, mal stürmische See. Direkt daneben die griechischen Ruinen. Es ist einfach die Lage zwischen Archäologie und Strand.

Text +Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 03/2012] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Hopfiges: inedit – unveröffentlicht

inedit ist eine Kreation des El-Bulli-Teams, angeführt vom Drei-Sterne-Molekularkoch Ferran Adrià. Es ist ein Bier für die Gastronomie, ein Bier, das dort, wo der Wein als idealer Begleiter zu bestimmten Speisen versagt – Saurem, Meeresfruchtigem, vor allem aber der Artischocke – einspringt. Ein Lückenfüller im positiven Sinne. Edel und extrem ausgewogen, ein Geschöpf, das schon lange in den Köpfen seiner Schöpfer spukte und nun endlich in Zusammenarbeit mit der katalanischen Brauerei Damm zum Leben erweckt werden konnte.



Verkostung 1
Ein riesengroßer Fehler war es, vor der Verkostung auf die offizielle Website zu schauen. Wenn Männer im gestandenen Alter gelassen wichtig und allwissend daher reden, liegt ein Hauch grenzenloser Selbstüberschätzung in der Luft; entweder in Bezug auf den Inhalt oder die Außenwirkung der Protagonisten. In den drei auf Spanisch und Englisch präsentierten Initiationsvideos erklären Ferran Adrià, seine beiden Super-Sommeliers und sein Restaurantleiter einer jugendlich, smarten Journalistin die Schöpfung. Bestimmt und geschwollen. Das gesprochene Wort scheint Gesetz.

Ich begebe mich also eher skeptisch in den Supermarkt und greife mir ein paar Flaschen: 0,75 Liter für 3,95 Euro. Und genau im Preis liegen sowohl Genickbruch als auch Stärke inedits – wie sich später in der Runde der Verkosterinnen und Verkoster noch zeigen sollte.

Unter Laborbedingungen – 4-8% Temperatur, Weißweinglas, nüchternem Magen – lasse ich mir die erste Flasche munden. Das Biergemisch schmeckt sehr fruchtig, weich und im Abgang eindeutig süßlich nach Lakritze. Und ehrlich gesagt: zum zweiten und dritten Glas muss ich mich zwingen. Alle weiteren Flaschen des mit Orangenschale, Koriander und Lakritze angereicherten Verschnitts aus Tipo Pilsener und Weißbier bleiben unberührt.


Verkostung 2
So kann ich nicht über inedit schreiben. Ich suche mir daher zur erneuten Verkostung Beistand aus der Gruppe der durchschnittlichen Genussmenschen und gieße ein. Dieses Mal herrscht eine freudig-gelassene Nachmittagsstimmung bei warmem Februarwetter auf der Dachterrasse als ich mit der Flasche und vier baskischen Weingläsern zum Biertest bitte. Hier nun die unzensierten Gedanken der Gaumen, wobei der Bierpreis den Gästen bekannt ist:

Perlig – und ja es prickelt. Erinnert an Champagner. Auch die Form der Flasche. Sehr edel und weich. Lecker, nicht für den täglichen Gebrauch, aber zu bestimmten Anlässen.

Riechen tut’s gut. Schmecken sehr mild – mir fehlt das Herbe des Hopfens. Aber durchaus rund. Extraordinär.

Erinnert an Berliner Weiße.

Stimmt! Mit Waldmeister. Geradezu krautig.

Viel Frucht ja, aber eher rote Johannesbeere und Himbeere.

Als Aperitif könnte ich mir das inedit vorstellen.

Genau. Als Aperitif. Im Restaurant vielleicht mit geräuchertem Tunfisch.

Stimmt als Aperitif. Aber pur. Pur als Aperitif!

Und wie sieht es mit dem Preis aus? Würdet ihr vier Euro für eine Flasche im Supermarkt bezahlen?

Mich darfst du das nicht fragen. Wenn ich Bier trinke, dann gerne herb und viel.

Für einen Euro die Flasche würde ich manches Mal darüber nachdenken.

Für Einladungen könnte ich es mir vorstellen, aber bei dem Preis lieber in einen guten Wein investieren.

Soweit die Einschätzungen und Gedanken der einzelnen Gourmets. Gesagt werden muss an dieser Stelle, dass ich von einer abschließenden Bewertung im Sinne der caiman-Scala Abstand nehmen möchte, da inedit nicht zu den Kategorien Wohlfühlfaktor (Hängematte), Tageszeitunabhängigkeit, Faktor Hang over und Völkerverständigung passt.



Zudem möchte ich auf unsere Einführung in die Kolumne Hopfiges verwiesen: Entgegen den konventionellen Verkostungsmethoden legen wir Wert auf das individuelle Empfinden der Situation und Atmosphäre am jeweiligen Ort des Biergenusses.

inedit hätten wir gerne im Restaurant unserer Wahl oder lieber noch im El Bulli selbst verkostet. Im Restaurant unserer Wahl führen sie inedit nicht. Im El Bulli war es uns leider nicht vergönnt, einen Tisch zu ergattern. Die Wartezeiten sollen bis zu drei Jahre betragen haben. Ferran Adrià hat sein El Bulli auf der Cap de Creus daher vorübergehend geschlossen mit den Worten: "Wir haben ein Monster geschaffen, und es war an der Zeit, es zu bändigen."

Als Liebhaberin des gemeinen Bieres, egal ob mit oder ohne kulinarische Begleitung, kann ich nur hoffen, dass inedit als weiteres Ferran Adrià-Monster zukünftig keine hohen Wellen schlagen wird, die alles über Jahre ans Herz Gewachsene aus den Eckkneipen spülen könnte.

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

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[kol_2] Erlesen: Poetik des argentinischen Rock

Luis Alberto Spinetta, einer der einflussreichsten argentinischen Rockmusiker, ist am 8. Februar im Alter von 62 Jahren gestorben. Er ist einer der vier Musiker, die im Buch von Oscar Conde behandelt werden, das im Jahr 2010 auch auf Deutsch erschienen ist. Neben Spinetta sind in "Poetik des argentinischen Rock" weitere Kapitel Charly García, León Gieco und Andrés Calamaro gewidmet. Alle vier haben die Geschichte des argentinischen Rock (mit)geschrieben, der wiederum wegweisend für viele andere Länder des lateinamerikanischen Kontinents war, wenn man an den Einfluss von Bands wie "Sui Generis" oder "Soda Stereo" denkt.

Oscar Conde
Poetik des argentinischen Rock
450 Seiten
AbrazosVerlag, Stuttgart 2010

Diese Geschichte, die publizistisch sehr gut aufgearbeitet ist und die 1965 zum Beispiel das erste spanisch gesungene Rockalbum hervorbrachte, beleuchtet Oscar Conde auf rund vierzig Seiten, schildert die politischen Rahmenbedingungen und geht auf die Bedeutung der Texte und Texter dieser Musik ein. Denn die Analyse der in Spanisch und Deutsch abgedruckten Texte bildet den Schwerpunkt der dann folgenden Musikerporträts, die auf Interviews des jeweiligen Autors – alles Literaturwissenschaftler - und viel Archivarbeit beruhen.

Dabei fallen die Kapitel sehr unterschiedlich aus: Während Belén Iannuzzi ihre 100 Seiten über Spinetta als eher trockene Textanalyse angelegt hat, reichert Josefina Russi das Porträt von Gieco mit weitaus mehr persönlichen Details an. Conde selbst hat den 150seitigen Text über Charly García verfasst, den Gottvater des argentinischen Rock, der Schlüssellieder wie "Canción de Alicia en el país" geschrieben hat, deren politische Bedeutung in dem Buch genau beschrieben wird. María José Mascia schließlich behandelt mit Andrés Calamaro den jüngsten der vier wortstarken Musiker. Calamaro verbrachte einen Teil seiner Karriere ("Los Rodríguez") in Spanien, kehrte aber nach sechs Jahren in die Heimat zurück. Sein Werk ist insgesamt weniger politisch, was sich aus seiner im Vergleich zu den Anderen späteren Geburt erklären lässt.

Das Buch liefert – trotz seiner manchmal etwas hölzernen Übersetzung - einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des argentinischen Rock, aber auch der dortigen Jugendkultur und Gesellschaft. Krönendes Beiwerk ist eine CD mit 18 Songs aus den Jahren 1967-2007, inklusive der spanischen und deutschen Texte. Sie enthält auch eines der wichtigsten Lieder des argentinischen Rock, "La balsa" aus dem Jahr 1967.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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[kol_3] Spanien: Was für ein Karneval!?
Sonntagsumzug in Rosas
 
Den Rosenmontagszug mochte ich, am liebsten noch verkatert, im WDR am TV verfolgen. Die beiden Moderatoren bzw. Kommentatoren – sobald einer von beiden für einen längeren Moment mal nichts sagte, war klar, er ist Bier holen – kündigten gefühlte 20 mal die grünen Funken an, mussten aber dem Quantum Spiritus Farbtribut zollen. Ach ne, es sind wohl eher die blauen, die gelben oder wohl doch roten. Egal, Hauptsache sie feiern irgendein Jubiläum.

Trotzdem war es ein gutes Gefühl in Köln zu sein und gegen Ende des Zuges den WDR WDR sein zu lassen und wieder durch die Kneipen zu ziehen. Nun sitze ich in Katalonien und der Karneval ist fern, bis uns Freunde überreden, am Karnevalssonntag um 12 Uhr mittags in Rosas dem Umzug beizuwohnen.



Rosas ist Karnevalshochburg. Von Weiberfastnacht bis Rosenmontag finden diverse Umzüge, Konzerte und Kundgebungen statt. Beginn ist am Donnerstag um 21.30 Uhr mit dem Willkommenheißen seiner Majestät dem König, Schluss am Montagabend mit der Beerdigung der Sardine.

Auf dem Weg nach Rosas herrscht Verkehr bereits ab Figueras. Sonntags zu dieser Jahres- und Uhrzeit sind normalerweise nicht allzu viele Autos unterwegs. Außer ein paar Besuchern des Wochenmarkts. Kurz vor Rosas kommt der Verkehr ganz zum Stillstand und wir brauchen für die letzten Meter bis zum Ortseingang 20 Minuten, wo uns dann ein Parkplatz zugewiesen wird. Auf dem Weg zur Strandpromenade passieren wir den Wagenaufstellplatz; es haben sich bereits endlich viele Boxenmonster versammelt, die geballte Partystimmung durch die Gassen hämmern.

Und dann geht’s los und Fußvolk wie Wagenlenker lassen von der ersten Minute keinen Zweifel aufkommen, dass sie seit drei Tagen ohne nennenswerte Unterbrechung den Karneval leben. Die immer gleichen Evergreens heizen ein: La Bomba, Princesa, Chocolate, Alcohol. Und natürlich der aktuelle Dancefloor Knaller: Manos arriba / cintura sola / media vuelta / danza con duro (die hände zum himmel / die hüfte allein / halbe drehung / veitstanz).



Damit die Meute nicht schlapp macht, hat ein jeder Wagen eine Zapfanlage und einen Grill installiert, auf dem Pinchos braten. Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas lässt den Jecken aus Köln ins Leere schunkeln, ins Leere prosten und ins Leere trinken. Aha! Es gibt nix!

Wir sehen uns konfrontiert mit einem zwei Klassensystem: Ekstase und frisch Gezapftes auf der einen Seite, stilles, antialkoholisches Verfolgen der Zeremonie auf der anderen Seite. Die Zuschauer sind nicht Teil des Umzugs, sie sind Voyeure, wenige verkleidet. Fliegende Händler, mitgebrachte Fässchen oder Apfelkorn – alles Fehlanzeige. Das war durchaus eine ganz neue Erfahrung. Um nicht ganz ernüchtert Heim zu kehren, steuerten wir ein ländliches Restaurant mit Buffet an. Und so stellte sich das Völlegefühl dieses Jahr Karneval zum ersten Mal aufgrund von fester Nahrung ein.

Fazit: Falls ich im nächsten Jahr noch einmal die Karnevalszeit in unserem Dorf Vilagorda verbringen sollte, bleibt mir entweder den wilden Samstagabendumzug in Rosas zu erproben – laut unserer Freunde ist dieser Party pur – oder mich in unserem Dorf mit den Karnevalsjecken anzufreunden, die mit eigenem Wagen in Rosas am Start sind und mich so unter die ausgelassenen Partyschlümpfe, -pfauen, -boxer, -fischerinnen etc. zu mischen. Oder ich schau wieder WDR.

Text +Fotos:
Maria Josefa Hausmeister

Galerie Karneval in Rosas 2012

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[kol_4] Lauschrausch: Ein Stück Afrika in Lateinamerika
Das kolumbianische Projekt Jende Ri Palenge
 
Entkommene Sklaven gründeten an Kolumbiens Karibikküste im 16./17. Jahrhundert das Dorf San Basilio de Palenque. Es bildete sich dort eine eigene auf Bantu und Spanisch basierende Kreolsprache, das Palenquero, heraus, das aufgrund der Isolation der Siedlung bis heute von etwa 2.500 Menschen gesprochen wird. Die Nachkommen jener Sklaven versuchen auch in der heutigen Zeit ihr kulturelles Erbe zu erhalten. Dazu zählt unter anderem die sehr stark afrikanisch geprägte Musik.

Diverse
Jende Ri Palenge
Soul Jazz Records

Zwei kolumbianische Dokumentarfilmer besuchten San Basilio de Palenque als dort im Jahr 2008 mit Hilfe einer niederländischen Stiftung das erste Tonstudio in Betrieb genommen wurde, um das musikalische Erbe zu bewahren. Sie blieben drei Monate, filmten und nahmen Musik auf. Das Londoner Label "Soul Jazz Records" hat nun das Ergebnis dieser Arbeit veröffentlicht. Neben einer DVD mit dem 37minütigen Film, der drei Musiker des Dorfes begleitet, gehören zwei CDs zum Projektpaket mit dem Namen "Jende Ri Palenge" (Menschen aus Palenque).

Das erste Album beinhaltet Originalaufnahmen lokaler Stile wie Bullerengue oder Son Palenquero, gespielt von den lokalen Musikern, u.a. den drei Filmprotagonisten: der 85jährige Heiler Sikito hat in seinem Leben über hundert Lieder "geschrieben", die er als Analphabet allerdings nur in seinem Kopf bewahrt. Zum ersten Mal ergab sich für ihn mit diesem Projekt die Gelegenheit, Lieder wie "Padre no mande en su casa" auch aufzunehmen. León Torres, Gründer der Gruppe "Las Estrellas del Caribe”, dagegen kann auf Aufnahmen von Afro-Palenquero-Musik aus den 80er und 90er Jahren verweisen. Nun konnte er neues Material einspielen. Und schließlich der blinde Sänger Panamá, der Son Palenquero-Stücke einspielte, eine lokale Variante des kubanischen Sons, der mit Plantagenarbeitern in den 1930er Jahren nach Kolumbien kam. Panamá formte für die Aufnahmen das Sextett "To Ane e Lo Memo", das auch die Marímbula spielt, und interpretierte einige seiner über 150 Songs in Palenquero. Panamá sagt im Film den wunderbaren Satz: "Wir sind nur aufgrund eines Unfalls in Palenque, wir sollten alle auf dem Schwarzen Kontinent sein, in Angola".

Und damit das Projekt nicht nur für Musikethnologen interessant ist (und sicher auch aus finanziellen Gründen), enthält die zweite CD Remixe dieser Stücke von House-, Dubstep- und sonstigen DJ’s wie Osunlade, Matias Aguayo, Subway u.a. Sie verstärken die perkussiven, tanzbaren Elemente der Originale und mischen mehr oder weniger originelle Klangideen darunter. Ein Vergleich der Titel, z.B. von "Palenque, un rincón de Africa" von Manuela Torres oder Kalabrese ist eine spannende Sache, partytauglich sind sie beide in jedem Fall.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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