caiman.de 03/2012

[art_1] Spanien: Tejeda – das schönste Dorf von Gran Canaria
 
Das erste, was mir auffällt, als ich morgens um 9.30 Uhr aus dem Bus steige, ist die ungewohnte Stille – nach all dem Trubel in der Touristenmetropole Playa del Inglés im Süden von Gran Canaria. Und ein kühler Wind, der hier im Herzen der Insel durch das 2.000-Seelen-Dorf Tejeda auf über tausend Meter Höhe weht.

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Die Läden, Cafés  und Restaurants sind noch geschlossen, kein Mensch ist auf der einzigen Straße des Ortes zu sehen, außer einer Gruppe Kinder, die mit ihrem Hund spielen. Ansonsten ist Tejeda anderthalb Stunden nach Sonnenaufgang ein Geisterdorf: viele Fensterläden – geschlossen, die Dorfkirche Nuestra Señora del Socorro – geschlossen. Eine fast unheimliche Stille liegt über dem weiten Vulkankrater, in den Tejeda hinein gebaut wurde. Man hört nur das träge Plätschern einer Bewässerungsanlage, das friedliche Flattern aufgehängter Wäsche im Wind und ab und zu Hundegebell.

Das Büro der Touristeninformation ist ebenfalls noch geschlossen. Also setzte ich mich auf eine Bank und blicke in den Abgrund. Ringsherum ragen die steilen, dunklen Felswände des längst erloschenen Kraters von Tejeda empor. Die spektakuläre Lage dieses Bergdorfs wird eingerahmt von den beiden markantesten Gipfeln Gran Canarias, die sich wie steinerne Wächter über Tejeda auftürmen: im Süden die majestätische Silhouette des 1811 Meter hohen Roque Nublo, gen Westen der bizarre, 1414 Meter hohe Roque Bentayga, der wie ein schräges Dreieck die Wand der Caldera an ihrem höchsten Punkt abschließt. Dahinter ist zwischen im Dunst verschwommenen Felsformationen der Atlantik zu erahnen und an klaren Tagen sieht man Teneriffa und den Teide. Kein anderer Ort auf Gran Canaria hat eine so grandiose Lage. Es ist daher nicht überraschend, dass hier mittags oft Dutzende Busladungen von Touristen sowohl von den Stränden des Südens als auch aus der Hauptstadt Las Palmas eintreffen.

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Die Gastronomie Tejedas lebt vor allem von diesen Tagestouristen, dabei gibt es hier natürlich auch Pensionen und Landhäuser, ideal für alle, die auf den Kanaren keinen Strandtrubel und Diskotheken, sondern eher Ruhe und gesundes Bergklima suchen. Die meist weißen Häuser heben sich vom düsteren Vulkangestein ab, wobei einige wie Adlernester an den Steilhängen der Caldera kleben. Überraschend hohe Kakteen ziehen sich in breiten Gürteln die Hänge hinauf und ab und zu ragt ein riesiger Agavenbaum wie ein Schwert in den Himmel. Diese "Bäume" sind eigentlich die Blüte der Agave und ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass eine Agave Jahre lang all ihre Kraft in die Bildung dieser einzigen Blüte steckt, um nach ihrem Verblühen für immer abzusterben. Ein Gedanke, der am frühen Morgen eine ungemütliche Melancholie aufkommen lässt, die es dringend zu vertreiben gilt. Am besten durch Bewegung.

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Obwohl ich offenbar noch immer der einzige Tourist an diesem Morgen bin, öffnet um 10.30 Uhr das Tourismusbüro. Ich erkläre der sympathischen jungen Dame meinen Plan, von hier aus zum Roque Nublo zu wandern. Sie schaut mich mit großen Augen an, als sei dies der absurdeste Gedanke, von dem sie je gehört habe. Wandern? Freiwillig? Aber es gebe doch in Tejeda selbst viel zu sehen, z.B. das Museum der Traditionen oder das Museum Abraham Cárdenas. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass ich nicht in diese spektakuläre Bergwelt gekommen bin, um den sonnigen Tag vor Vitrinen mit Volkstrachten oder geflochtenen Körben zu verbringen. Sie gibt zu bedenken, dass es keinen direkten Wanderweg zum Roque Nublo gäbe (was nicht stimmt und wohin mich dieser Irrtum führen sollte, konnte man schon in der Januarausgabe nachlesen).

Es wird deutlich, dass mich diese hübsche Lokalpatriotin vor allem innerhalb der Grenzen ihrer Gemeinde halten möchte. Also gibt sie mir eine Karte der Gemeinde Tejeda und empfiehlt mir einen Wanderweg von Cruz de Tejeda nach Las Mesas, von wo es eine sehr gute Aussicht auf den Roque Nublo gäbe. Dafür müsste ich aber zuerst mit dem Bus ein paar Stationen weiter fahren oder die Landstraße nach Norden entlang wandern. Das würde etwa zwei Stunden dauern. Diese Zeitangabe halte ich zwar für übertrieben, aber dennoch könnte es zu spät werden, um den Bus zurück so gegen 16.00 Uhr zu erreichen. Ich danke ihr für das Kartenmaterial und verlasse etwas ratlos das Tourismusbüro.

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Das Dorfzentrum mit Kirche, Aussichtsplateau und dem "Restaurant zum Rebhuhn" (La Perdiz) kenne ich ja nun schon. Es gibt zwei Alternativen für viel versprechende Wanderungen, die in drei bis vier Stunden von hier zu bewältigen wären: entweder zum Roque Bentayga, wo man auch einen Opferplatz der Ureinwohner besichtigen kann oder Richtung Roque Nublo. Auf der Karte entdecke ich eine Abzweigung,  ein winziges Landsträßchen, das nach Süden führt und in einer Sackgasse beim Dörfchen La Culata, schon sehr nah am Roque Nublo endet (Gesamtstrecke ca. sieben Kilometer). Spontan entscheide ich mich für Letzteres. Dafür muss ich zunächst der Hauptstraße noch drei Kilometer steil bergauf folgen und mich dicht am Abgrund halten, sobald LKWs vorbei brausen, denn für Fußgänger ist hier kein Platz.

Endlich erreiche ich die Abzweigung nach rechts und endlich geht es wieder bergab. Vorbei an üppig am Hang wuchernden Agaven und vereinzelten Fincas genieße ich die Ausblicke auf tief unter mir liegende Gärten und die Ruhe einer weitgehend verkehrsfreien ländlichen Sackgasse. Die großen Auffangbecken für Regenwasser neben fast jedem Bauernhof erinnern daran, dass Landwirtschaft in den Tälern unterhalb dieser kahlen Berghänge immer vom Volumen des Wasservorrats abhängig ist. Natürlich gibt es auch Bergbäche, aber der Grundwasserspiegel im zentralen Bergmassiv ist dramatisch gesunken, seit immer mehr Wasser in die Bettenburgen im Süden geleitet wird. Angebaut werden in den Tälern rund um Tejeda vor allem Mandelbäume (daher das Marzipan als lokale Spezialität), Weinreben, Kartoffeln und Kakteen. Eine sehr vernünftige Wahl, angepasst an die Wasserarmut der Region – anders als auf den großen Plantagen, die aus allzu viel Wasser verschlingenden Tomaten und Bananen für den Export bestehen. Ein witziger Anblick sind die Hunderte,  ja Tausende von Baby-Kakteen, deren stachelige Köpfchen schön in dichten Reihen geordnet ganze Felder bilden.

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Plötzlich reißt mich ein unerwartetes Geräusch aus meiner wandernden Betrachtung kanarischer Landwirtschaft: Schüsse! Sie hallen von den Berghängen wider, multipliziert durch das Echo. Es handelt sich wohl kaum um einen Bandenkrieg der Berg-Mafia, sondern eher um Jäger auf der Jagd nach einem Sonntagsbraten. Aber was gibt es in diesen kargen Bergen überhaupt zu jagen? Kaninchen? Rebhühner? Groß kann die Beute jedenfalls nicht sein. Obwohl man immer wieder liest, dass verirrte Schüsse auch einsame Wanderer treffen können. Ich hoffe jedoch, dass mein auffälliges lilafarbenens T-Shirt mich davor bewahrt, von irgendeinem Sonntagsjäger mit Bergwild verwechselt zu werden. Trotzdem beschleunige ich meine Schritte, begleitet vom Schuss-Konzert, um die Endstation La Culata zu erreichen.

Neben der Kapelle von La Culata hat man einen grandiosen Blick auf den Roque Nublo. Er wirkt schon ganz nah, aber der Aufstieg von hier würde zu lange dauern unter Berücksichtigung des Rückwegs zur Bushaltestelle. Also gehe ich in die einzige Bar des nur ein paar Häuser zählenden Weilers La Culata und bestelle einen Kaffee. Zuerst starren mich die paar dort versammelten Dorfältesten an wie einen Außerirdischen (es ist wohl lange niemand mehr zu Fuß hier angekommen). Doch sobald meine Nationalität geklärt ist,  kreist die Unterhaltung natürlich um Fußball und die einhellige Meinung ist, dass Spanien im Sommer bei der EM Deutschland erneut besiegen wird (DAS bleibt abzuwarten!).

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Die Schüsse sind verhallt, als ich mit neuer Energie den Rückweg (leider bergauf) antrete. Ein Motorengeheul zerreißt die Stille und in der Kurve über mir sehe ich eine Motorrad-Gang, die in einer Minute an mir vorbei brausen wird – auf dem Weg nach La Culata. Ich dränge mich so eng wie möglich an den Abgrund und ein Dutzend Biker donnert an mir vorbei wie ein Tornado. Dabei wird mir meine Baseball-Kappe vom Kopf geweht. Ich blicke nach unten. Meine atlantikblaue Kappe ist in einem Weinberg gelandet. Doch der liegt sehr tief unter mir und es ist kein Pfad am Steilhang zu erkennen. Mir wird klar, dass mein lieb gewonnener Schattenspender unter der Rubrik "Verluste" verbucht werden muss. Möge er dem Weinberg-Besitzer Glück bringen.

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Die Sonne brennt mir ins Gesicht während der letzten drei Kilometer zurück nach Tejeda. Am nächsten Tag kaufte ich mir eine neue Kappe, natürlich wieder in atlantikblau. Und ich wette, sie wird mich immer an den Krater von Tejeda erinnern.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Anfahrt:
Von Maspalomas/Playa del Inglés mit dem blauen Bus von Global Nr. 18 am besten um 8.00 Uhr morgens; zurück dann Montag-Samstag um16.00 Uhr bzw. Sonntag um18.00 Uhr.

Empfehlungen:
Restaurant: La Cueva de la Tea, C. Dr. Domíngo Hernández Guerra (mit Terrasse und Aussicht auf die Schlucht, bietet authentisch kanarische Gerichte wie Ziegenbraten, Papas Arrugadas, Kaninchen in Tomatensoße,  Lammgulasch)

Konditorei: Dulcería Nublo, C. Dr. Domíngo Hernández Guerra (Spezialität: Marzipan, Mandelkuchen, Mandelkekse)

Link:
www.tejeda.es



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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