ed 01/2010 : caiman.de

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brasilien: Der grüne Lula
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug II)
Vom Fluss verschluckt
THOMAS BAUER
[art. 2]
bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
Teil III: Der Fliegenmensch
LENNART PYRITZ
[art. 3]
brasilien: Die traurige und wenig lehrreiche Geschichte des grausamen Banditen Leóncio
NICO CZAJA
[art. 4]
portugal: Portugals letzte Etappe vor der Guten Hoffnun
Bartolomeu Dias ankert in der Walfischbucht (1487)
BERTHOLD VOLBERG
[art. 5]
argentinien / chile: Rallye Dakar, Vol. II
Die Streckenabschnitte im Kurzportrait
THOMAS MILZ
[art. 6]
venezuela: Spaß durch Improvisation
Im Interview mit der Pianistin Gabriela Montero
TORSTEN EßER
[art. 7]
spanien: Bissfestes Reizker-fluffiges Maronen Risotto
DIRK KLAIBER
[art. 8]




[art_1] Brasilien: Der grüne Lula
 
Verdutzt rieb sich so mancher die Augen. Da galt Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva Ende 2009 doch plötzlich als neue grüne Leitfigur zur Rettung des Weltklimas. Für all diejenigen, die in den letzten sieben Jahren Lulas Umweltpolitik - oder das was darunter verstanden wurde - aus der Nähe verfolgten, kommt Lulas "Klimawandel" nun doch etwas überraschend.

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Natürlich ist Lula ein mit allen politischen Wassern gewaschener Fuchs, der stets weiß in welche Richtung der Zeitgeist gerade strebt. Und so nutzte er geschickt den in Kopenhagen entstandenen Hype um das Zauberwort "Nachhaltige Entwicklung", mit dem man auf der Weltbühne sogar daheim umstrittene Staudammprojekte als Investitionen in den Umweltschutz verkaufen kann.

Wirklich neu ist das alles natürlich nicht. Schließlich gibt es grüne Bewegungen in Europa bereits seit Ende der 70er Jahre und auch in Brasilien ringen ach so viele NGOs seit Jahren um das Überleben der Biotope. Nur bei Brasiliens politischer Elite war das Thema bisher noch nicht angekommen. Dann aber zeigte sich Lula bei einer improvisierten Pressekonferenz wenige Wochen vor der COP-15 in Kopenhagen plötzlich kämpferisch. "Was meinen Sie, wieso wir die Initiative ergriffen und konkrete Zahlen auf den Tisch gelegt haben?", fragte er die Journalisten am Rande des Welternährungsgipfels in Rom. "Damit wir diejenigen in die Pflicht nehmen können, die meinen, Brasilien stets eine Lektion erteilen zu dürfen." Wenige Tage zuvor hatte Lula einen Plan zur Reduzierung von Brasiliens Treibhausgasemissionen auf den Tisch gelegt. Um gut 40% werde man 2020 unter den eigentlich zu erwartenden Emissionen liegen und zudem die Abholzungszahlen des Amazonasurwaldes um 80% nach unten drücken.

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Lange hatten Umweltschützer dafür gekämpft, dass Brasiliens Regierung endlich eine freiwillige Verpflichtung zur Reduktion des CO2-Ausstoßes vorlegen würde. Als Annex II Land des Kyoto-Protokolls dürfte man eigentlich munter weiter Emissionen ausstoßen. Aber offenbar genießt Lula seine neue Rolle als neuer Hoffnungsfigur für die Rettung des weltweiten Klimas. Und in dieser Rolle trat er auch bei der Klimakonferenz in Kopenhagen auf. Zwar kannte man ihn bisher bereits als Fürsprecher der armen Entwicklungsländer der südlichen Hemisphäre und Mahner einer gerechteren Welthandelspolitik, aber niemals als grünen Politiker. Doch angesichts des enttäuschenden Auftretens anderer führender Politiker in Kopenhagen muss man Lula für seine Kehrtwende einfach Respekt zollen. Egal aus welchen Motiven sie erfolgte, in Brasilien stand er in seinen nun schon sieben Amtsjahren bei Umweltschützern stets am Pranger.

Wirtschaftswachstum um jeden Preis, massive Förderung der expansiven Landwirtschaft, selbst in bedrohten Biomen wie dem Amazonasregenwald und der Cerrado-Savanne, rücksichtsloser Ausbau der Infrastruktur im Dienste der Exportpolitik und umstrittene Staudammprojekte für die energiehungrige Industrie. Und ohne zu zögern, kippte die Regierung ein Gesetz zur Einführung der strengen EU-Norm für Dieseltreibstoff und lässt die Brasilianer weiterhin die dreckigsten Dieselabgase der Welt einatmen. Erschöpft von den endlosen regierungsinternen Kämpfen gegen ihre wirtschaftsfreundlichen Kabinettskollegen warf Lulas Umweltministerin Marina Silva, von vielen als "Lulas grünes Feigenblatt" bemitleidet, Anfang 2008 das Handtuch und kehrte der Regierung den Rücken. Zuvor hatte Lula den wirtschaftsliberalen Harvardprofessor Mangabeira Unger ein Papier zur langfristigen Entwicklung der Amazonasregion ausarbeiten lassen. Amazonien sei ja schließlich kein Heiligtum, das unberührt bleiben müsse, kommentierte Lula damals. Die Menschen dort hätten genauso das Recht an den Segnungen des modernen Lebens teilzunehmen wie alle anderen Menschen des Planeten auch, so der Präsident.

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Nun sollen neue Straßen in den Urwald geschlagen werden und riesige Staudämme Strom für Millionen produzieren. Vielleicht hatte Marina Silva aber auch erkannt, dass sie außerhalb der Regierung mehr ausrichten kann. Mitte des Jahres schockte sie ihre Partei, Lulas regierende PT (Partido dos Trabalhadores - Arbeiterpartei) mit ihrem Austritt und dem Wechsel zu den Grünen (PV - Partido Verde). Im August kündigte sie zudem an, bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2010 für die Oppositionspartei ins Rennen gehen zu wollen. Ein spürbarer Ruck durchlief Brasilien. Gilt Marina Silva in Brasilien doch als die letzte aufrechte und authentische Politikerin, eine nahezu mythische Figur mit einer fast noch bewegenderen Lebensgeschichte als der unter ärmsten Bedingungen aufgewachsene Lula.

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Aufgewachsen im Urwald in einer Familie von Kautschukzapfern, als Kind von Nonnen vor dem Hepatitistod gerettet, Aktivistin der katholischen Kirche und Mitstreiterin des 1988 ermordeten Urwaldschützers Chico Mendes - das ist Marina Silva. Bei Lulas PT schrillten die Alarmglocken. Die eigene Kandidatin, Kanzleramtschefin und Lula-Vertraute Dilma Rousseff, von Lula zur Kandidatur genötigt, schwächelte in den Meinungsumfragen. Und grün war bei ihr höchstens mal der Hosenanzug. Bis zu 50% der klassischen PT-Wähler könnten statt Dilma nun Marina Silva wählen, alarmierten Meinungsumfragen. Und auch die Presse entdeckte plötzlich den Umweltschutz als neues Wahlkampfthema. Seit Marina Silvas Antritt als Präsidentschaftskandidatin im August schafften es Umweltthemen geschlagene neunmal in die Hauptschlagzeile der beiden größten Tageszeitungen Brasiliens. In den ersten "Marina-freien" acht Monaten des Jahres war das gerade mal ein einziges Mal der Fall. So doziert Lulas Kandidatin Dilma neuerdings über CO2-Ausstoß und Erderwärmung, wenn auch noch ein wenig hölzern. Aber immerhin ist die grüne Welle endlich auch in Brasiliens Politik angekommen. Bleibt nur zu hoffen, dass den Worten nun auch Taten folgen werden.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug II)
Vom Fluss verschluckt
 
Bereits einen Tag nach meiner Ankunft im Norden Argentiniens begannen auch für mich die Abenteuer, von denen in Mendoza jeder sprach. Ich konnte mich der Mischung aus freudiger Erwartung kommender Erlebnisse und abgebrühter Weitergabe von Heldentaten nicht entziehen. Als die Sonne über die Berge lugte, die sich durch die Wolken bohrten, als wollten sie nachsehen, was darüber war, stieg ich in einen Kleinbus, der mich zum Río Mendoza brachte. Das Teilstück nahe Mendoza hatte es in sich. Ungehemmt brauste und zischte das Wasser des Río Mendoza hier die Ostflanke der Andenkordillere hinab in die argentinische Halbwüste. Es riss Äste und Steine mit sich und prallte ungebremst gegen scharfkantige Felsen. Sein Wasser war vom aufgewühlten Schlammboden dunkelbraun gefärbt.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Kurzum: Östlich von Mendoza boten sich optimale Bedingungen für ein Raftingabenteuer der besonderen Art. Doch noch wusste keiner von uns Businsassen, dass uns die bevorstehende Schlauchbootfahrt bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit bringen würde - und manche von uns darüber hinaus.

Vamos, vamos, feuerte uns "Monkey" an, als wir am Fluss ankamen. Unser Schlauchboot-Steuermann trug seinen Spitznamen zu recht. Er war breit und kräftig gebaut, braun gebrannt und trug eine wilde Haarpracht, die er von Zeit zu Zeit heftig um sich schüttelte. Ohne Unterlass erzählte er uns Witze auf Spanisch, wobei es ihn nicht sonderlich kümmerte, dass die Hälfte von uns seine Pointen nicht mitbekam, weil er in einer Geschwindigkeit sprach, die den Wasserfall kurz oberhalb unserer Bootseinstiegsstelle vor Neid hätte erblassen lassen. Jeder von uns bekam einen alten, zerkratzten Helm auf den Kopf gesetzt und eine Schwimmweste umgebunden, die in meinem Fall leider durch mehrere Löcher außer Gefecht gesetzt worden war. Ein Gefühl behaglicher Sicherheit vermittelten uns diese Utensilien nicht gerade. Doch schließlich waren wir hier, um etwas zu erleben.



Vidal hatte direkt hinter mir Platz genommen. Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Neugier und Ängstlichkeit, je nachdem was "Monkey" gerade erzählte. Als unser Steuermann gestenreich ausschmückte, wie vor einigen Wochen nur zweihundert Meter flussabwärts ein Tourist beim Rafting ertrunken war, nachdem er mit dem Kopf gegen einen der vielen Felsen geschlagen war, wurde Vidals Gesicht etwas blass. Jedoch - jetzt gab es kein Zurück mehr. In zwei Reihen saßen wir im Schlauchboot, drei auf jeder Seite, und jeder mit einem Paddel bewaffnet. Mein Platz war ganz vorne links, hinter mir saß Vidal, gefolgt von einer zierlichen Argentinierin, die furchtsam auf das tosende Wasser blickte, das vor unseren Augen talwärts schoss. Vielleicht wollte sie Buße für irgendeine Sünde ablegen oder hatte eine alberne Wette verloren. Zumindest machte sie nicht den Eindruck, dass ihr das, was ihr bevorstand, sonderlich viel Spaß machen würde. Das traf auch auf den jungen Brasilianer zu, der ihr gegenüber auf der rechten Seite saß. Obwohl er ein stämmiger junger Mann war und sich unter seinem T-Shirt ein durchaus ansehnlicher Bizeps abzeichnete, hatte sich eine Furcht in seinem Blick eingenistet, die er nicht verstecken konnte. Er komme aus São Paulo, hatte er uns auf der Herfahrt erzählt. Vielleicht war er zum ersten Mal richtig "draußen" aus der riesigen Stadt. Vor ihm saß hingegen ein deutsches Pärchen, das zu allem bereit war. "Yippiieh, jetzt geht’s los", jauchzte die junge Frau, als "Monkey" unser Schlauchboot an den Rand des Ufers zog. Ihr Freund blickte bereits entschlossen auf das Paddel in seiner Hand, als wolle er nach geglückter Raftingtour gleich noch einen Hai damit erschlagen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell.



¿Listo?, "bereit?", hörte ich "Monkey" noch fragen, und bevor wir etwas antworten konnten, hatte er unser Schlauchboot über den Uferrand hinweg ins Wasser geschubst. Sofort schwappte der aufgewühlte Dreck des Flusses auf unserer Seite ins Boot. Die Argentinierin, Vidal und ich schrieen überrascht auf, als wir unvermittelt bis zur Hüfte im eiskalten Wasser saßen. Noch bevor unser Kollektivschrei verklungen war, packte uns der Fluss und warf uns talwärts. Es war ein Gefühl wie in einem dieser neuen, spektakulären Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten, die abrupt ihre Richtung ändern. Genauso wurden wir gepackt, hin- und hergeworfen wie ein Ball, urplötzlich in die Seite gestoßen, nach links weggedrückt und um die eigene Achse gedreht. Nur dass keine Maschine unter uns ein festgelegtes Programm abspulte, sondern dass wir stattdessen mit einer Kraft konfrontiert waren, deren Ausmaß uns alle überraschte. Vermutlich überraschte sie auch "Monkey", unseren Steuermann, dessen Kommandos wie von Ferne zu uns drangen.

"Forward, forward!", brüllte er aus Leibeskräften - und doch kam seine Stimme als ein Flüstern bei mir an, während der Fluss um uns herum tobte und meterhohe Wellen frontal gegen die Felsen warf. "Left, left!", schrie er jetzt und ich stieß das Paddel tief hinab in das Wasser und zog es mit aller Kraft nach hinten weg. "Merde, putain!", hörte ich Vidal hinter mir ausrufen, was an dieser Stelle unübersetzt bleiben wird.



Keinen halben Meter links vor mir tauchte etwas Großes, Schwarzes aus dem Wasser auf. Wütend preschte der Fluss sofort wieder darüber hinweg. Ich hatte gerade noch Zeit, das Paddel aus dem Wasser zu ziehen, dann schrammten wir haarscharf an dem gezackten Felsen vorbei. Abermals schrie die Argentinierin auf. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass ihr Paddel ins Wasser gefallen war. "Monkey" hatte Schweißperlen auf der Stirn, vielleicht auch Flusswasser und brüllte ununterbrochen "right, right!", während er panisch im Wasser herumstocherte.

So langsam fragte ich mich, ob bei uns gerade wohl alles so verlief, wie es ursprünglich gedacht gewesen war. Als zwei mit neonfarbenen Rettungswesten bekleidete Männer am rechten Ufer wild gestikulierend zu ihren Kajaks rannten, dämmerte mir, dass meine Begegnung mit dem Río Mendoza intensiver werden würde, als ich es vor unserer Abfahrt gedacht hatte. Und dann hörte ich über die tosenden Wellen hinweg, wie unser Steuermann "Shit!", rief.

Noch während ich dachte, dass das doch ein ziemlich anrüchiges Kommando sei, fuhr Adam Smiths "unsichtbare Hand" unter unser Schlauchboot, hob es auf einen Wellenkamm und ließ es dann genüsslich in ein zwei Meter tiefer gelegenes Tal krachen. Mein Magen blieb zunächst oben auf dem Kamm kleben, um dann mit umso mehr Wucht nach unten zu fallen. Unglücklicherweise befand sich am Ende des Wellentals ein enormer Felsen, kaum weniger gezackt als der vorherige. "Monkey" zog sein Paddel ins Boot und krallte sich am Seil fest, das an der Außenseite des Schlauchboots befestigt war. Sein Gesicht war ein einziges Ausrufezeichen. Dann schlug der Fluss zu.



Unser Boot rammte den Felsen frontal und wurde zusammenquetscht wie eine Ziehharmonika. Wir purzelten durcheinander, hielten uns an Beinen, Armen, Seilen fest und sahen gerade noch, wie sich eine schwarze Wand vor uns auftürmte. Von unserer Perspektive aus verdeckte sie die Sonne. Dann machte unser Boot unvermittelt einen Satz zur Seite und flutschte einfach unter uns weg.

Irgendetwas bohrte sich in meine rechte Flanke. Als ich über den Bootsrand blickte, sah ich die Argentinierin, die Deutsche und "Monkey" im braunen Wasser des Flusses. Die linke Seite unseres Bootes bäumte sich auf, während die rechte unter Wasser getaucht wurde. Ich hörte, wie Vidal in meinem Rücken etwas schrie und drehte mich zu ihm um. Da kam er auch schon auf mich zugeflogen. Mit voller Wucht stieß er in meinen Rücken. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Dann sah und spürte ich gar nichts mehr.

Als ich die Augen öffnete, war ich unter Wasser, mitten in den braunen Fluten. Eine Kraft, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte, drückte mich hinab; gleichzeitig zerrte etwas so heftig an mir, schleuderte mich in irgendeine Richtung, dass jeder Widerstand zwecklos war. Wieder spürte ich sekundenlang nichts. Ich wusste nicht, ob ich gegen Felsen gedrückt wurde oder den Grund des Flusses entlangscharrte. Dafür handelte mein Körper mit beneidenswerter Logik, wie mir erst später bewusst werden sollte.

"Zusammenrollen": Der Impuls musste vom zentralen Nervensystem gekommen sein, weil mein Gehirn höchstens auf Halbmast hing. Als ich wieder denken konnte, fand ich mich jedenfalls zusammengeringelt vor, Arme und Beine leicht angewinkelt von mir gestreckt, um etwaigen Hindernissen begegnen zu können. Meine ganze Kraft galt jetzt der Erfüllung eines einzigen Wunsches: Luft!

Ich riss die Augen auf, sah einen hellen Streifen und schwamm aus Leibeskräften darauf zu, bis ich plötzlich durch die Wasseroberfläche schoss. Ich sog einen Atemzug lang das lebensrettende Element in mich hinein, japsend und prustend wie nach einem Hundertmetersprint. Dann holte mich der Fluss zurück.



Wieder wurde ich unter Wasser gedrückt, fortgerissen, hin- und hergeworfen. Mit der Luft war auch das Gefühl in mich zurückgekehrt, was einerseits beruhigend war, sich andererseits jedoch nicht nur als Vorteil erwies: Das Wasser war eiskalt und brannte auf meiner Haut. Mein Rücken sendete pochende Schmerzwellen durch den Körper und meine rechte Seite antwortete ihm regelmäßig darauf. Zum Ausgleich konnte ich wieder logische Schlussfolgerungen aus meinen Beobachtungen ziehen. Ich hielt die Hände schützend vor meinen Kopf und winkelte meine Beine an, um mich notfalls von den Felsen wegstoßen zu können, die sich mir in den Weg stellten. Ich sah sie auf mich zustürzen, sah mich ausweichen, sah, wie ich haarscharf an ihnen vorbeischoss, wie schmutzigbraune Wellen auf mich zurollten, mich im nächsten Augenblick verschluckten und unter Wasser hielten, um mich gleich darauf wieder loszulassen. Ein seltsamer Tanz war das, bei dem die Kräfte erschreckend ungleich verteilt waren. Ähnlich müsste sich wohl die Tanzpartnerin von Arnold Schwarzenegger vorkommen, die er beim Rock n’ Roll durch die Luft wirbelte.

Später sollte ich erfahren, dass unser Boot den Felsen spektakulär gerammt hatte. Es wurde einfach umgedreht und ich wurde mitten in einen Strudel geschleudert, der mich etwas länger als zwanzig Sekunden unter Wasser gehalten hatte. Die Wellen hatten uns alle einfach in die Flut gewischt. Vom Ufer aus hatte es wie eine beiläufige Handbewegung des Flusses gewirkt, in etwa so wie man lästige Fliegen auf einer Suppe verscheucht.

Über eine Viertelstunde lang wurde ich flussabwärts gerissen, sah eine Kuhherde am rechten Ufer an mir vorbeigleiten und bekam, sobald ich auf einem Wellenkamm war, mit, wie die beiden Kajakfahrer hektisch Leute aus dem Wasser zogen. Ich wunderte mich, warum das alles so lange dauerte, bis nach einer gefühlten Stunde endlich etwas Rotes neben mir auftauchte und mir eine Stimme über die gischtbeladenen Fluten hinweg zubrüllte, dass ich mich daran festhalten solle.

Ich krallte meine Hände in den roten Fleck hinein, der sich als das Heck eines Kajaks entpuppte, und der Fahrer paddelte mit aller Kraft Richtung Ufer, weg von den Felsen und Strudeln und braun gefärbten Wellen. Kurz darauf erreichten wir das seichte Wasser am rechten Flussrand, und ich konnte mich aufstellen. Noch immer brandete das Wasser über meine Knie hinweg.

"Die Anderen sind alle schon aus dem Wasser", erklärte mein Retter mit breitem Grinsen. "Du hast einen so sportlichen Eindruck auf mich gemacht, wie Du da vorne in dem Boot gesessen bist und das Paddel in den Fluss gestoßen hast. Da habe ich mich erst um alle Anderen gekümmert und Dich stromabwärts treiben lassen. Hat doch prima geklappt, richtig? Ich bin übrigens Hector."

Hector streckte mir seine Rechte entgegen und entblößte eine gelbbraune Zahnreihe. Angesichts seiner in ein Kompliment gehüllten Erklärung konnte ich ihm nicht böse sein - umso weniger, als ich gleich darauf von ihm erfuhr, dass manch Anderer seine Hilfe tatsächlich dringender benötigt hatte. Der Brasilianer aus São Paulo war bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. Hector hatte ihn als Dritten aus dem Wasser gezogen und mitangesehen, wie er sich am Ufer mehrfach übergab.

"Er hat zu viel Wasser verschluckt und stand wohl von Anfang an unter Schock", sagte Hector. Das Gesicht des Brasilianers sei ganz grün gewesen, "wie Spinat". Wieder zeigte mir Hector seine nikotingeplagten Schneidezähne. Der Mann sollte dringend Zahnseide verwenden, sonst drohte er zum Liebling aller Zahnärzte Mendozas zu werden.

"Dass gleich alle vom Schlauchboot gespült werden, kommt alle paar Jahre nur einmal vor", zeigte sich mein plaquegeplagter Retter verwundert, "der Fluss ist aufgewühlt heute und verhält sich wie eine stampede!"

"Ja, das war wirklich ein Privileg", gab ich zurück und blinzelte Hector an. Außer einem blauen Fleck, der sich auf meiner rechten Seite ausbreitete, hatte ich weder durch die Kollision mit dem Felsen noch durch meinen unfreiwilligen Tauchgang Schaden davongetragen.

Zu guter letzt sollte sich mein Wort vom Privileg gar noch bestätigen. Während "Monkey" bei seinen Kameraden in Ungnade gefallen war, weil er, wie es Hector ausdrückte, "gerade versucht hat, sechs Touristen zu versenken", bot uns "Loco", der während unserer Irrfahrt am Ufer stand und pausenlos filmte, an, dieselbe Tour ein weiteres Mal zu machen.

"Wenn ich Euer Steuermann bin, fallt Ihr garantiert nicht ins Wasser".



Sofort sagten die beiden Deutschen, Vidal und ich zu. Zu viert positionierten wir uns erneut im Boot, dort, wo wir bereits einmal in den Fluss eingestiegen waren. Dann ging die wilde Hatz von Neuem los. "Loco" brüllte noch lauter als "Monkey". Besondere Freude machte es ihm, unser Schlauchboot direkt auf einen Felsen zupreschen zu lassen und erst im letzten Moment haarscharf links oder rechts daran vorbeizuschlittern. In solchen Momenten jauchzte er auf und ließ nach geglücktem Manöver entweder ein "eso!", frei übersetzt: "So macht man das!", oder ein helles, ins Irre übergehende Lachen hören, bei dem sich uns die Haare aufstellten.

Was während unserer zwanzigminütigen Fahrt geschah, lässt sich schwer rekapitulieren, weil wir die meiste Zeit inmitten der Gischt waren und die Paddel mit Leibeskräften links oder rechts durch die Fluten zogen. Irgendwie schafften wir es, zwischen den Felsen hindurchzupreschen, statt frontal mit ihnen zusammenzustoßen. Am Ende gelangten wir in einen See, auf dem wir gemächlich gen Ufer dümpeln konnten - während "Loco", immerhin unser Steuermann, kurzerhand über Bord gesprungen war, um sein Temperament zu kühlen.

Am Ende des heutigen Tages nahm Vidal eine Prellung am linken Knöchel mit nach Hause, der Deutsche hatte zum Andenken ein blutiges Rinnsaal dabei, und mein Souvenir war der erwähnte blaue Fleck auf der rechten Seite. Während diese äußeren Zeichen rasch verblassen sollten, würde uns die Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag noch lange Zeit weiter beschäftigen.

"Loco" bedeutet übersetzt übrigens nichts anderes als "Spinner".


Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de


Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires

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[art_3] Bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
 
Im Rahmen eines Auslandssemesters innerhalb des Biologiestudiums arbeitete Lennart Pyritz für vier Monate auf der biologischen Station "Los Volcanes" in den bolivianischen Ostanden an einem ornithologischen Projekt. Währenddessen unternahm er mit bolivianischen Freunden auch einige kurze Fahrten durch die Anden.

Teil III: Der Fliegenmensch
Ich bin seit gestern Nacht wieder "zu Hause" in Santa Cruz. Ich bin auch wieder solo, d.h. mein Körper hat die Fliegenlarve wohl vollständig assimiliert: die Dasselbeule ist abgeschwollen und die Wunde geschlossen. Wenn mir also demnächst Flügel wachsen sollten...

Doch ich fange besser mal von vorne an: Am Mittwoch vor zwei Wochen sind Daniela (aus Potosí) und Monica (aus Cochabamba) in der WG in Santa Cruz angekommen. Sie sind ebenfalls Biologiestudentinnen und helfen Caroli beim Stellen und Leeren der Insektenfallen in Los Volcanes. Am Donnerstag ist noch Darren hinzu gekommen, ein alter Bekannter von Sebastian und Caroli: Entomologe an der Universität in Oxford; ein absoluter Insektenfreak, der sich eine Schabe und ihren wissenschaftlichen Namen Periplaneta americana dahin hat tätowieren lassen, wo andere Leute Schiffe, Herzen, einen Anker oder den Namen ihrer Freundin tragen.

Am Freitag dann sind wir nach einem opulenten Lebensmitteleinkauf mit zwei Jeeps nach Los Volcanes aufgebrochen. Der eine Jeep musste oberhalb der Straße zur Station zurück gelassen werden, da er keinen Vierradantrieb hat. Also sind Darren, Daniela, Monica und ich die drei Kilometer bis zur Station zu Fuß gelaufen. Der Weg wurde schließlich zu einer mehrstündigen Nachtwanderung, weil Darren alle zwei Meter einen Stein umgedreht und zu dem darunter befindlichen Insekt eine interessante Geschichte feilgeboten hat. Inspirierend war auch, wie Darren mit unglaublicher Begeisterung und den bloßen Händen frischen Eseldung zerwühlte, um darin verborgene Mistkäfer zu finden. Zur Beute dieser Nacht zählten schließlich: eine Schlange, eine beinlose Echse (Apoda), mehrere Skorpione, eine Tarantel, Mistkäfer und eine grüne Gottesanbeterin.

Beim Thema Insekten fällt mir ein: Ich habe seit dem letzten Feldaufenthalt "boro", d.h. eine Fliegenlarve, die in meinem Fuß frisst und lebt. Der Übertragungsweg ist einigermaßen kompliziert. Eine Dasselfliege fängt sich eine Mücke und befestigt ein Ei an ihr.

Die zwei Wochen Arbeit in Los Volcanes waren diesmal hart und anstrengender als im Oktober und November, was mehrere Gründe hatte: Einmal hat Sebastian Kronennetze für den Vogelfang besorgt, die wir geknüpft und aufgehängt haben. Dafür muss zuerst ein Seil mit einer Zwille über einen Ast in luftiger Höhe geschossen werden, an dem dann eine kleine
Winde samt Netz nachgezogen werden kann. Dann haben Victor und ich mit Machete und Pico de Loro (eine Teleskop-Kneifzange für hohe Äste) kleine Lichtungen im Wald geschaffen, an denen das Netz herab gelassen werden konnte, ohne sich in den Zweigen zu verfangen – eine kraftraubende Aufgabe.

Hinzu kommt, dass die Regenzeit mit ihrer ganzen Wucht eingesetzt hat, so dass wir mehrfach völlig durchnässt wurden. In der Station trocknet auch nichts richtig; mein Rucksack hat angefangen zu schimmeln und meine Kamera versagt seit drei Tagen ihren Dienst. In unsrem Schlafraum war es zwischenzeitlich ein bisschen wie in einem U-Boot, draußen Wasser und drinnen Wäscheleinen mit Klamotten zwischen den Doppelbetten, durch die man sich hangeln musste, um zu seinem Bett zu gelangen.

Ein weiteres Problem waren regenbedingte Erdrutsche, durch die die Pumpe im Fluss beschädigt wurde. Das Wasser musste also in Kanistern vom Fluss heraufgeschleppt werden. Zudem gab es nach einer Woche nur noch Reis, Nudeln und einige Konserven. Der moralische Tiefpunkt waren schließlich zwei Tage im feuchtesten Gebiet des Waldes, nahe dem Flussbett. An einem habe ich mir beim Abrutschen an einem steilen Hang einen Dorn an einem Baumstamm tief in die Hand gerammt, so dass ich die Hand regelrecht
aus dem Dornengestrüpp ziehen musste, um mich loszumachen. Am anderen Tag bin ich beim Aufstellen der Netze mit Miriam in einen Treiberameisenzug geraten, deren Soldaten blitzschnell an den Beinen hoch krabbelten und schmerzhaft zubissen.

Aber es gab auch viele sehr schöne Momente: So sind wir einmal am Wochenende in das winzige Dorf Bermejo gelaufen, wo das halbe Dorf in einer Karaokebar gerockt hat. Oder was auch wunderbar ist: Wenn der Regen aufhört, riecht es im ganzen Wald nach Blüten.

Und hinsichtlich der Tierwelt gab es viele neue Highlights: Im Wald bin ich früh morgens auf einem der schmalen Pfade einmal einem Gürteltier begegnet. Wir haben einen Tukan gefangen, den ich beringt und vermessen habe. Dabei hat Miriam den bunt gemusterten Schnabel fest gehalten. Und ein anderes Mal ist kurz nach Sonnenaufgang eine große Fledermaus ins Netz geflogen; Victor und ich haben eine Stunde gebraucht, um das Tier vorsichtig aus den Maschen zu befreien, ohne gebissen zu werden.

Was hier für einen Europäer seltsam ist: Das Jahr streckt sich in meinem Empfinden unwahrscheinlich. Es ist schon Dezember und ich laufe noch wie seit Mai oder Juni im T-Shirt herum. An Weihnachtsstimmung ist nicht zu denken, auch wenn auf der Plaza von Santa Cruz jetzt überall im Eiltempo bunt leuchtende und blinkende Tannenbäume und Girlanden aufgehängt werden. Ein bonbonfarbenes Lichtermeer.

So, das wars erstmal, ich wünsche euch allen weiterhin alles Gute, L.

Text + Fotos: Lennart Pyritz

Teil I: Auf in die Anden, Teil II: Mit Jesus auf dem Berg und Larven im Fuß

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Brasilien: Die traurige und wenig lehrreiche Geschichte des grausamen Banditen Leóncio - Eine Räuberpistole
 
Der grausame Bandit Leóncio sitzt am Ufer des Flusses unter einem vertrockneten Bäumchen und weint bitterlich. Von seiner Hüfte hängt sein tödlicher Revolver, in seinem Gürtel stecken seine vierzehn gefürchteten Messer, neben ihm liegt seine unerbittliche Büchse Inmaculada, mit der er noch nie ein Ziel verfehlt hat und in seiner Brust blutet sein Herz.

Nur wenige Dutzend Schritte entfernt hocken seine Männer um ein Feuer und wundern sich. Im Schein der tief stehenden Abendsonne werfen die dürren Büsche der Caatinga lange, dürre Schatten, Schattenspinnweb, über den roten, staubigen Boden des Sertão.  Das Feuer ist die Mitte der Welt, der Horizont umgibt es gewaltig und rund wie eine Mönchstonsur auf dem Kopf Gottes. Im Westen versickert das Tageslicht rotgolden hinter seiner Linie, im Osten haben sich die ersten Sterne in die Höhe gestemmt und weit oben ist der Himmel so dunkel und samtig und wolkenlos blau, dass man hätte meinen können, man schaue zu tief und zu lang in die Augen einer schönen Frau von der anderen Seite des Ozeans.



"Sollte nicht einer von uns nach ihm sehen?", fragt José Niemand. "Geh doch selber! Hast du schon vergessen, wie er damals den Schwager von Kuh-Luís niedergeknallt hat, weil der ihn beim Pissen gesehen hatte?", antwortet Zeca Cabeludo. "Ich glaube, er pisst nicht. Dafür ist er schon zu lange weg", sagt der Einarmige Bandit. "Eben, porra! Was meinst du, was er erst mit jemandem machen würde, der ihn beim… dabei sieht, was er gerade macht, du Stutensohn!", erläutert Zeca Cabeludo. "Jungfrau Maria und zwei Esel", murmelt José Niemand in seinen Bart, ohne damit jemand Bestimmten zu meinen.

Die Männer schweigen, schärfen gedankenverloren ihre Messer und kauen auf den Streifen Dörrfleisch, die sie gestern bei dem Überfall auf den Hof von Nildo Ferreira erbeutet haben. Es ist kein besonders erfolgreicher Überfall gewesen.

Léoncio war zum Flussufer gegangen und hatte lange und ausgiebig an den dürren Baum gepinkelt. Dann hatte er sich hingesetzt, um zu heulen wie ein kleines Mädchen. Mit jedem heftigen Schluchzer schlugen die Waffen, die er trug, klimpernd aneinander. Er hatte die Beine an sich gezogen und den Kopf auf die Knie gesenkt.

Warum weinte Leóncio? War der grausame Bandit ein Mann, der zur Gefühlsduselei neigte? Als er elf Jahre alt war, hatte er mit bloßen Händen seine eigene Mutter erdrosselt, weil er herausgefunden hatte, dass sie seinen Vater mit dem Sohn des Großgrundbesitzers betrog. Als er siebzehn Jahre alt war, fand er den Sohn des Großgrundbesitzers nach langer Suche in einer Seemannskneipe im Hafen von Recife, schnitt seine Genitalien ohne viel Federlesens vor einem Publikum aus angewiderten, angstgelähmten und doch vom Geschehen faszinierten raubeinigen Matrosen in den Feijoada-Topf und zwang ihn, einen ganzen Teller davon zu essen, bevor er ihn niederstach.

Leóncios Vater hatte übrigens schon viele Jahre zuvor, noch bevor der Kleine laufen konnte, die Familie von einem Tag auf den anderen verlassen und war spurlos verschwunden. Und wenn er danach mit ebensoviel Hingabe weiter gesoffen hat wie zuvor - dann wird er zu dem Zeitpunkt, als die Frau Mama mit dem hübschen, jungen Gutserben ins Bett gestiegen ist, mit großer Wahrscheinlichkeit schon eine ganze Weile tot gewesen sein. Es sei jedoch niemandem empfohlen, den grausamen Banditen Leóncio auf solche Fragen der Verhältnismäßigkeit aufmerksam zu machen.

Mit anderen Worten: Nein. Der grausame Bandit Léoncio neigte zu allen möglichen Dingen, aber nicht zur Gefühlsduselei. Er war der Anführer eines der niederträchtigsten Haufen, die der Sertão je gesehen hatte, und er war ihr unangefochtener König. Sie liebten ihn auf eine Weise, die von Hass nicht zu unterscheiden war.

Insofern ist die Frage durchaus berechtigt: Warum weint Leóncio? Während der weinende Bandit sich allmählich beruhigt, beginnt unerwartet eine umfangreiche Rückblende, die den Sachverhalt vielleicht erklären kann: Es hatte seit Monaten nicht geregnet; zwischen allen Zähnen der Region knirschte der Staub. Die Sonne starrte böse aus dem leeren Himmel und zerkochte jedem den Verstand, der keinen Hut trug. Unter ihrem gnadenlosen, stechenden Blick wand sich unbehaglich der große Markt. Die Sonne sah einen grellbunten Flickenteppich aus aufgespannten Planen, unter denen die kleine Stadt wie an jedem Markttag nahezu verschwand. Zwischen den Flicken zeigte sich ihr eine vielköpfige, zähflüssige Substanz aus Menschen und Kühen und Ziegen und Schweiß und Hühnern. Der Gestank nach Fisch und Schlachtgut und Urin und zuviel Leben auf zu wenig Fläche vermischte sich mit heiserem Gebrüll aller Art: Hier wurde lauthals gefeilscht, dort gestritten, anderswo ein Schwein geschlachtet, das kreischte wie ein Säugling, mancherorts bloß unverständlich gemurmelt oder volltrunken gesungen oder mit mahnend erhobenem Finger gepredigt.

"Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, ihr Hurensöhne! Und aus seinem Munde hing ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne scheint in ihrer Macht! Hört mir zu, ihr Dreckspack, denn ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle!"

Der kahle, fast zahnlose Prediger stand auf einem stinkenden Haufen Müll und aus seinen Augen leuchtete die Rechtschaffenheit der Gottgefälligen. Seine zerlumpte Kleidung, so ausgeblichen, dass keine Farbe erkennbar war, flatterte bei jeder großen Geste um das dürre Geäst seines Körpers. Außer dem Kopf eines geschlachteten Rindes, der aus dem Müllhaufen heraus teilnahmslos und ruhig zu ihm aufblickte, beachtete ihn niemand. Das war ihm Publikum genug. Er trug keinen Hut.

"Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde und ihnen wurde Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben, verdammt noch mal!"

Leóncio der Bandit schritt durch die Massen. An seinem ledernen Hut funkelten durchbohrte Münzen. In seinen über der Brust gekreuzten Patronengurten funkelten Patronen. In seinen Augen funkelte die Gewissheit, dass man ihn fürchtete. Vor ihm teilte sich die Menge, um ihn herum verstummten die Gespräche.

"Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten, voller Augen vorn und hinten. Vorn und hinten voller Augen, sag ich! Sie sehen euch, ihr jämmerlichen Hundsfötte!"

Léoncio hielt inne und sah den Eiferer an: Erst die nackten Füße. Dann den dünnen Leib. Dann das verhärmte Gesicht. Der Mann verstummte, verkroch sich wimmernd im Müll und vergaß seinen himmlischen Auftrag für immer. So einer war Leóncio. Er hatte Ausstrahlung.

Die zahllosen bunten Planen warfen zahllose bunte Schatten auf eine unüberschaubare Vielfalt feilgebotener Waren. Im Unterwasser-Schatten einer blauen Plane standen lärmende Männer an einem langen Tresen und tranken. Eine alte Matrone mit strähnigem Haar ging zwischen ihnen umher und füllte Wassergläser mit Schnaps. Die Plane hielt die heiße Luft und die schwitzende Feuchtigkeit unter sich gefangen wie ein langer Rock einen Furz.

Zwischen den lärmenden Männern standen die Gebrüder Galvão. Sie waren Händler, aber anders als viele andere Händler brüllten sie nicht, das hatten sie nicht nötig. Einen eigenen Marktstand brauchten sie auch nicht. Jeder wusste, was sie feilboten. Sie kauften und verkauften, wofür sich andere zu fein waren und davon lebten sie nicht schlecht. Sie waren keine Banditen, aber die meisten ihrer Kunden waren es, und das war ein offenes Geheimnis. Alles Geld, das bei den Brüdern Galvão über den Tisch ging, war Blutgeld. Und zwischen ihnen und dem Banditen Leóncio war schon so einiges Geld geflossen.

Als der erwähnte Bandit aus dem grellen Sonnenschein in den blauen Schatten des Saufzeltes trat, um Schnaps zu trinken und Geschäfte zu tätigen, waren die Brüder Galvão mit jemandem in einen hitzigen Disput verwickelt. Jemand sagte zu ihnen: "Sack Scheiße aus der Hölle, das kann nicht euer Ernst sein!" Und sie lachten nur.

Jemand sagte zu ihnen: "Hure die dich geboren hat, noch ein Wort, und ich stecke euch gegenseitig eure Köpfe in die Ärsche!" Und sie lachten noch mehr. Jemand sagte nichts mehr, stattdessen fielen erst zwei Schüsse und dann die zwei Brüder Galvão. Beide umklammerten mit den Händen ihre Bäuche und sackten so zeitgleich zusammen, als spiegelten sie sich ineinander. Mit einem Mal war es totenstill.

Am anderen Ende der Schüsse befand sich eine gewisse Helena Matos da Silva, ihres Zeichens Banditin, noch nicht lange im Geschäft und daher noch ohne Beinamen und Titel; und Helena Matos da Silva war es soeben gelungen, den grausamen Banditen Leóncio zu beeindrucken.

Für eine Handvoll Milchreis und zwei Schnäpse packten ein paar Stammkunden die noch leise stöhnenden Brüder Galvão an den Füßen und zogen sie durch das Gedränge hinaus, zum Marktstand von Mário Carniceiro, dem Barbier und Wundscher, der schon des Öfteren von den kurzen Transportwegen zum Saufzelt profitiert hatte. In der Annahme, dass sie sie nicht mehr trinken würden, hatte Helena inzwischen beiläufig die beiden Schnapsgläser der Galvão-Brüder und ihr eigenes geleert. Sie ließ sich auf einen Hocker nieder, legte ihr Schießeisen griffbereit vor sich auf den Tresen und blickte auffordernd in die Runde. Niemand wagte es, ihren Blick zu erwidern, und schließlich vergaß der Inhalt des Saufzeltes das Geschehene und setzte das Saufen und Lärmen fort.

Leóncio verharrte noch immer bewegungslos am Rande des Geschehens, sein Blick wie von höherer Gewalt an der kleinen, schlanken Gestalt der Banditin haftend und tief in seinem schwarzen Herzen regte sich ein kleiner, fremdartiger Funke - klitzeklein, und doch furchterregend wie eine Armee. Der Bandit schauderte. "Aha", dachte er verblüfft, "das ist also Angst."

Monate vergingen, die Dinge blieben die Dinge, der Regen blieb aus. Die Zuckerrohrernte von Dom Antônio Nunes de Oliveira war eingebracht, der Gestank aus den Kochkesseln der Zuckermühlen füllte das Land Tag und Nacht mit seiner erstickenden Süße. Es war kurz vor Morgengrauen als Leóncio und seine Spießgesellen auf den Bäuchen und im Schutz der Dunkelheit unter dem Zaun hindurch krochen, der die größte Zuckermühle des Dom Antônio vom Rest der Welt trennte. Messer klemmten zwischen ihren Zähnen, und hätte das Licht ausgereicht, hätte man die pure Mordlust in ihren Augen funkeln sehen können. Die kristallenen Kandelaber und feinen orientalischen Wandbehänge, das Tafelsilber und die französischen Möbel, der ganze infernalische Reichtum, mit dem sich der Zuckerbaron in seinem Herrenhaus umgab und nicht zuletzt seine drei hübschen und angeblich jungfräulichen Töchter, die als die beste Partie auf dieser Seite des Flusses galten und die er behütete wie drei kleine heilige Grale - all dieser Pracht drohte heute Nacht keine Gefahr, dafür war selbst der waghalsigste Banditenhaufen nördlich von Petrolina nicht waghalsig genug. Aber ein paar Fässer Zuckerrohrschnaps und ein Stapel Rapadura-Ziegel, um ihnen das ewige Dörrfleisch zu versüßen, für einen solchen Raub reichte ihr Wagemut ohne weiteres und ein solcher Raub sollte genug sein, dem Hochmut des Dom Antônio in seinem Palast einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

Sie passierten das Mahlwerk, die eingespannten Ochsen bemerkten sie, schlugen nervös mit den Schwänzen und flohen ein paar Schritte im Kreis, denn eine andere Richtung als im Kreis kennen Mahlwerk-Ochsen nicht, darin unterscheiden sie sich von den Menschen: Ihre Welt ist im Kreis und sie laufen ein Leben lang den Hintern anderer Ochsen hinterher. Bemerkenswert war, dass Antônios Männer die Tiere nicht für die Nacht abgeschirrt hatten, aber das Warum dieser Merkwürdigkeit sollte sich bald klären.

Als die Banditen ohne auf eine Wache zu stoßen den flachen, lang gestreckten Bretterverschlag erreichten, in dem die Arbeiter schliefen, vermutete Leóncio längst, dass hier etwas nicht stimmte, denn er war ebenso klug wie grausam. Und er sollte  Recht behalten: In diesem Verschlag schliefen keine Arbeiter. Die Arbeiter und die Wachen saßen und lagen um einen Tisch herum, auf dem eine halbleere Schnapsflasche stand. Es waren keine Anzeichen eines Kampfes zu erkennen, wie gefügige Lämmer hatten sie sich einer nach dem anderen abstechen lassen. Das Stroh auf dem Boden hatte ihr Blut noch nicht ganz aufgesogen, der metallische Geruch hing über ihren Köpfen wie ein Gegenstand und ein Gewicht. Als José Niemand laut und dreckig auflachte und wie zur Feier des Anblicks zur Schnapsflasche auf dem Tisch greifen wollte, hielt Leóncio ihn zurück – keinen Deut weniger klug als grausam war er.

In der Blutlache auf dem Boden zuckte ein Stiefel, in dem Stiefel steckte ein Mann, der Mann war noch nicht tot. Léoncio packte ihn bei den Haaren und schüttelte ihn und der Mann öffnete die Augen wie jemand, der nicht aufwachen will. "Wer?", fragte der Bandit, nicht besonders laut, nicht besonders nachdrücklich – aber selbst die, die nichts mehr zu verlieren haben, fürchten sich vor der Stimme des Banditen Leóncio, wenn er zornig ist. Der Mann schluckte schwer und mühsam, sein Atem ging pfeifend: "Tausendtöter", sagte er.

Leóncio wurde bleich. Warum? Darum: In der Zeit seit jenem Markttag war das Ereignis aus dem Schnapszelt auf dem Weg von Mund zu Ohr zu Mund zu Ohr gewachsen, wie es ein rollender Schneeball tun würde, aber hier wusste niemand von Schneebällen, der Vergleich ist nutzlos. So oder so: Inzwischen sprach man hinter vorgehaltener Hand von Helena Matos da Silva und man sprach von ihr als Helena Mata-Mil, Helena Tausendtöter. Einige Gräueltaten schrieb man ihr zu, so manche davon zu recht und auch dem grausamen Banditen Leóncio war das eine oder andere zu Ohren gekommen. Er hatte den Werdegang Helena Tausendtöters aus der Ferne mit einem Gefühl verfolgt, das er nicht hätte beschreiben können. Und nun hauchte der nicht ganz Tote: "Tausendtöter" und Leóncio wurde bleich.

Der Mann wollte sterben, aber Leóncio ließ ihn nicht bis er von ihm erfuhr, was er erfahren musste. Vor zwei Tagen war sie hier aufgetaucht, hatte sich als Tagelöhnerin ausgegeben und um Arbeit gebeten. Eine Frau, die allein durch den Sertão wandert und sich als Arbeiterin verdingt, noch dazu nach der Ernte - das war nicht besonders glaubwürdig. Aber sie hatte den Männern so schöne Augen gemacht und sie konnte auf eine Weise mit ihnen sprechen, dass sie sich zwischen den Zeilen des Gesagten die großartigsten Verheißungen einbilden konnten, und so schossen sie ihr Misstrauen in den Wind. Am ersten Abend war sie mit Glatzen-Ricardo hinter der Hütte verschwunden, am zweiten mit Pedro Bicho, der jetzt an den Haaren von der unerbittlichen Hand des Banditen Leóncio hing und sterben wollte. Für die kommenden Nächte hatten sich die Männer der Zuckermühle noch Großes versprochen und das hatten sie mit einem Schnäpschen begießen wollen. Mit lüsternen Blicken hingen sie an ihrem Gast, als sie tranken und das Lächeln der Fremden verhieß ein süßes Geheimnis. Und in der Tat, ein Geheimnis war es, bloß seine Süße war eine Frage der Perspektive: Sie hatte den Fusel mit einem Mittelchen versetzt, irgendeiner unseligen Macumba, und als die Männer alle getrunken hatten, als es bereits zu spät war und die Zauberei zu wirken begann, hatte sie sich zu erkennen gegeben und ihnen in allen Einzelheiten geschildert, was sie mit ihnen machen würde, sobald sie eingeschlafen wären.

Der grausame Bandit Leóncio ließ Pedro Bicho gehen. Er verwendete dafür ein Messer. Dann tötete er all die Toten noch einmal und selbst seine eigenen Männer, jeder einzelne ein Schuft von einigem Rang, mussten die Blicke abwenden. Sie überließen ihren Anführer seiner Raserei, durchsuchten das Lagerhaus nach den Dingen, derentwegen sie gekommen waren und fanden keinen Tropfen Schnaps und kein Bröckchen Rapadura. Blutüberströmt und schwer atmend kam Leóncio schließlich zur Ruhe. "Aha", dachte er erstaunt, "das also ist Eifersucht."

Die Rückblende endet, wir befinden uns erneut an jenem Abend am großen Fluss, scheinbar sind wir etwas zu früh, es ist schwieriger, als man denkt, in diesen Dingen den richtigen Zeitpunkt zu erwischen: Eben erst lässt sich der Bandit nieder, um zu weinen. Bevor die Geschichte weitergeht, haben wir also noch etwas Zeit, die wir nutzen können, ein weiteres Mal zu fragen: Warum weinst du, Leóncio? Und diesmal ahnen wir, die wir jetzt mehr wissen, die Antwort bereits: Der Bandit weint aus Angst und Eifersucht. Aber das ist nicht alles, noch nicht ganz.

Am Horizont verschwindet schließlich das letzte Tageslicht, die Nacht legt sich lautlos, mild und kühl über die verbrannte Erde des Sertão, und die Geschichte geht weiter:



Einige Wochen später, es hat immer noch nicht geregnet und Leóncio hatte noch einige Male geweint, wird Helena Mata-Mil unter unbekannten Umständen gefasst. Wachtmeister Getúlio Vieira verbrachte sie über Land in den nächst besten Marktflecken am Ufer des Flusses, wo ihr unter schwerer Bewachung in der lautlos brüllenden Mittagssonne der Prozess gemacht wurde. Im Morgengrauen des nächsten Tages sollte sie hängen, ihr Kopf sollte abgetrennt und als Forschungs- und Anschauungsobjekt sowie zur Erbauung des einfachen Volkes nach Bahia geschickt werden.

Auf einem Hügel über dem Dorf, unter sich das verbrannte Land und den Fluss, der es von Horizont zu Horizont in zwei Hälften teilte, sitzen zwei Banditen auf ihren Pferden, die Gesichter tief in den Schatten ihrer Hutkrempen versunken. José Niemand und der Einarmige Bandit wären Leóncio in die Hölle gefolgt, um dem Leibhaftigen selbst den Bauch aufzuschlitzen, also folgen sie ihm auch jetzt, auch wenn ihnen das Ansinnen ihres Anführers merkwürdiger scheint als jeder Ausflug in die Hölle es gewesen wäre.

Unter dem Anlegesteg wälzt sich das braune Wasser des Flusses träge dahin, ein paar kümmerliche Fischerboote dümpeln teilnahmslos auf und ab. Die Tünche an den gedrungenen Gebäuden, die sich um den kleinen Marktplatz scharen, ist schon lange nicht mehr weiß. Unter dem unerbittlichen Blick des Mittagsdämons fehlt der Luft aller Mut zum Wind, Mensch und Tier haben sich in ihre Löcher verkrochen und warten auf bessere Zeiten. Auf der überdachten Veranda vor einem kleinen Haus mit vergitterten Fenstern sitzen zwei Polizeibeamte auf einer hölzernen Bank, die Hitze setzt ihnen den schweren Fuß auf die Brust, sie rühren sich nicht und schweigen. Bis eine Explosion die Stille in Stücke reißt.

Die Polizisten springen auf, greifen nach ihren Waffen und wenden sich der Rückseite des Gebäudes zu, von wo der Lärm gekommen ist. Das ist das Zeichen, auf das Leóncios Gefährten gewartet haben. Sie geben ihren Pferden die Sporen und galoppieren den Hügel hinunter, den heißen Wind in den Gesichtern und die Flinten im Anschlag. Die Polizisten bemerken sie erst, als es zu spät ist. Der erste fällt unter einem Schuss José Niemands, der ihm durch die aufgeknöpfte Uniform hindurch in die Brust schlägt und ihn von den Beinen hebt wie ein Pferdetritt. Der zweite schießt noch einmal in ihre Richtung, bevor der Einarmige Bandit ihn mit einer Kugel am Arm erwischt und dann nieder reitet.

Die Banditen springen von den Pferden. Das Messer gezückt, wirft der Einarmige Bandit sein Gewicht gegen die massive Tür des Gefängnisses; das schwere Holz birst und Rauch und Staub quillt ihnen aus dem Inneren entgegen. In dem Rauch und Staub: Der grausame Bandit Leóncio, rußgeschwärzt, ein wildes Lächeln auf den Lippen und ein blutiges Messer in jeder Hand. Durch die aufgesprengte Rückwand des Hauses fällt staubdurchflirrtes Sonnenlicht auf die Leichen zweier weiterer Polizisten, die mit weit geöffneten Augen und Hälsen zur Decke starren. Vier kleine, elende Gefängniszellen nehmen den größten Teil des Erdgeschosses ein, nur eine von ihnen ist besetzt. Ihre Fänger haben ihr übel mitgespielt, aber Helena Mata-Mil steht stolz und aufrecht. Leóncio klaubt einen Schlüssel vom Gürtel eines der gefallenen Wächter. Hastig schließt er die Zellentür auf; dabei wendet er den Blick nur von Helena ab, wenn es gar nicht anders geht.

Draußen öffnen sich zaghaft einige Fensterläden in den umliegenden Häusern, meist nur einen Spalt weit; schemenhaft zeichnen sich Gesichter im dahinter liegenden Dämmerlicht ab, Augen, in denen ein kleiner Teil Neugier und ein großer Teil Angst einen ungleichen Kampf ausfechten. Leóncio steigt über die vor der Tür Getöteten hinweg und pfeift sein Pferd Malandro herbei, das er eigens als Jungtier aus den Ställen des Dom Antônio gestohlen hat.

José Niemand sitzt bereits im Sattel, als plötzlich ein scharfer Knall ertönt und etwas den Mann vom Pferd reißt. Er fällt wie ein nasser Sack zu Boden und rührt sich nicht mehr, das Tier wiehert schreckerfüllt und geht durch.

Natürlich wird eine Gefangene von solchem Ruf nicht bloß von vier Männern bewacht. Natürlich müssen die restlichen Mitglieder von Wachtmeister Getúlio Vieiras Einheit irgendwann vom Essen zurückkehren. Leóncio nimmt sich vor, in naher Zukunft jeden einzelnen der tumb zwischen den Fensterläden hervorstarrenden Dorfbewohner zu massakrieren, samt ihrer Familien bis in die dritte Generation, weil sie ihn nicht gewarnt haben. Manche Vorsätze allerdings sind dazu verurteilt, unerfüllt zu bleiben.

Dem ersten Schuss folgt ein ganzes Schussgewitter. Die Männer des Wachtmeisters haben sich hinter einem Gebäude auf der anderen Seite des Marktplatzes verschanzt und die Banditen sind ihrem Feuer schutzlos ausgesetzt. Eine Kugel verfehlt den Einarmigen Banditen so knapp, dass sie seinen linken Arm getroffen hätte, wenn da einer gewesen wäre. Eine zweite Kugel trifft das Pferd des Einarmigen in die Flanke, es schreit auf und geht zu Boden, wo es wild um sich tritt bis eine dritte Kugel ihm den Garaus macht. Weitere zwei oder drei Dutzend Kugeln treffen ungenannte Bestandteile der Umgebung, ohne einen Eindruck in der Handlung zu hinterlassen. Der Einarmige Bandit ist hinter dem Leichnam seines Pferdes in Deckung gegangen und lässt mit großer Ruhe eine Salve nach der anderen in Richtung seiner Gegner los - trotz seines offensichtlichen Nachteils ist er ein Flintenschütze wie kaum ein zweiter und nicht wenige Männer des Wachtmeisters fallen ihm an diesem Tag zum Opfer, obwohl sie sich hinter die Hausecke drängen und nur hervorkommen, um ihrerseits zu schießen. Leóncio hat sich mit Helena eng an die Wand des Gefängnisses gekauert, wo das Geländer der Veranda ihnen dürftig Deckung gibt. Er schießt, sie schweigt, aber ihre Hand krallt sich mit einer Kraft in seine Schulter, die er ihr nicht zugetraut hätte.

Schließlich durchdringt ein Schuss, es ist der insgesamt Sechsundachtzigste, die Stirn des Einarmigen, der über dem Balg seines Pferdes zusammensackt, als wäre er plötzlich eingeschlafen. Leóncios unerbittliche Büchse Inmaculada, mit der er noch nie ein Ziel verfehlt hat, ist gänzlich leer geschossen und auch die Kugeln in seinem tödlichen Revolver neigen sich dem Ende zu - mit anderen Worten: Es gilt, Entscheidungen zu treffen. Außerhalb des Sichtfeldes des Polizeibataillons, in der Gasse zwischen dem Gefängnis und einem anderen Haus, wartet, vom Lärm des Schusswechsels wenig beeindruckt (er hört dergleichen nicht zum ersten Male), sein treuer alter Klepper Malandro. Leóncio trifft eine Entscheidung.

Als Helena sich in Malandros Sattel schwingt und dem Tier die Fersen in die Seiten stößt, bricht der grausame Bandit Leóncio aus der Deckung hervor und stürmt brüllend auf die Gewehre der Polizisten zu. Wild verschießt er seine letzte Munition, ohne groß darauf zu achten, ob er damit jemanden erwischt.

Aus vielerlei Gründen - wegen der Sonne, die sich blendend hell auf den Münzen an seinem Hut bricht; wegen des auffrischenden Windes; wegen der zitternden Hände der Polizisten, die jetzt erkennen, mit wem sie es zu tun haben und wohl noch aus anderen Gegebenheiten heraus – trifft ihn keine einzige der zweiundzwanzig auf ihn abgefeuerten Kugeln.

In dem sicheren Wissen, dass die Männer nun wissen, wer er ist und ebenso überzeugt, dass sie sich einen solch kapitalen Fang keinesfalls sollten entgehen lassen, ändert er die Richtung und rennt auf den Steg zu, der in den Fluss hineinragt wie eine Brücke, deren anderes Ende man sich bloß einbilden muss.

Er läuft so schnell, wie er in seinem ganzen Leben nicht gelaufen ist und er würde in seinem ganzen restlichen Leben nicht wieder so schnell laufen, damit ist zu diesem Zeitpunkt nicht zuviel verraten.

Er spürt das Holz des Steges unter jedem Schritt seiner schweren Stiefel erbeben, er rennt weiter, er erreicht das Ende des Steges, er springt – und passiert, ungefähr auf dem Scheitelpunkt seiner Flugbahn, den Punkt, an dem sein Glück sich wendet, wer weiß schon warum.

"Aha", denkt er, während die Kugeln dumpf in seinen Rücken einschlagen, eine davon aus der Waffe des Wachtmeisters Getúlio persönlich, zahlreiche andere von jungen Rekruten, die die Geschichte vergessen hat, "Aha", denkt er, während aus dem Sprung ein Sturz wird, "Aha", denkt er, während er Blut ins Wasser des alten Flusses verströmt und die schöne Helena Tausendtöter auf seinem Pferd auf die langsam untergehende Sonne zugaloppiert, ohne sich noch einmal umzublicken. – "Aha", denkt er, "das also muss Liebe sein".

Text + Fotos: Nico Czaja

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_5] Portugal: Portugals letzte Etappe vor der Guten Hoffnung
Bartolomeu Dias ankert in der Walfischbucht (1487)
 
Im April 2008 fand man im Südwesten Afrikas vor der Küste von Namibia das Wrack einer portugiesischen Karavelle aus dem 15. Jahrhundert und vieles spricht dafür, dass es sich dabei  um eines der drei Schiffe des portugiesischen Entdeckers Bartolomeu Dias handelt, das hier auf der Suche des Seeweges nach Indien auf der Strecke blieb.

Bartolomeu Dias wurde um 1450 im Süden Portugals geboren und studierte Astronomie in der Universität von Lissabon. Die Erkundung des Sternenhimmels war damals ein unverzichtbarer  Bestandteil des Navigierens. Seit 1480 hatte er an mehreren Expeditionen portugiesischer Flotten entlang der Westküste Afrikas teilgenommen und im Jahr 1486 erhält Bartolomeu Dias als Kapitän vom portugiesischen König Joao II. den Auftrag, das Werk von Diogo Cão fortzuführen und die Südwestküste Afrikas weiter zu umsegeln mit dem Ziel, den Weg nach Indien und zu dessen Schätzen zu finden. Mit drei Schiffen, der São Cristóvão, der São Pantaleão und dem Versorgungsschiff Diogo brach Dias im August 1487 von Lissabon aus auf.

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Leider führte Dias kein Bordbuch wie beispielsweise Kolumbus und er schrieb auch keinen Bericht über seine Reise, da es sich um einen Geheimauftrag handelte. Vieles bleibt daher Spekulation. Sicher ist nur, dass Bartolomeu Dias am 8. Dezember 1487 erstmals in der Walfischbucht ankerte (er taufte sie auf den schönen Namen "Golfo de Santa María de Conceicão"). Das kleinste seiner drei Schiffe ließ er in der Walvis Bay zurück, nur vier Matrosen überlebten bis zu seiner Rückkehr Mitte 1488. Um Weihnachten 1487 pflanzte er weiter südlich beim heutigen Lüderitz einen "Padrão" (wappengeschmückte Steinsäule) in den Strand, um den Besitzanspruch des Königreichs Portugal auf diese Küste zu demonstrieren. Von dieser "portugiesischen Landnahme" hat damals vielleicht  niemand Notiz genommen, denn die lebensfeindliche Küstenwüste war menschenleer, so dass wohl nur ein paar Robben oder Pelikane die feierliche Säule erblickten.

Im Gegensatz zu Kolumbus bei der Entdeckung von Hispaniola traf Dias nicht auf einen Garten Eden mit freundlichen Menschen, sondern auf sturmgepeitschte Wüstenstrände, die sich in erhabener Einsamkeit vor ihm ausbreiteten wie am ersten Schöpfungstag. Der portugiesische Kapitän seinerseits hatte wohl kaum einen Blick für diese herbe Schönheit der Buchten und der riesigen Sanddünen, die heute viele Touristen nach Namibia locken. Bei der verzweifelten Suche nach frischem Trinkwasser muss die endlose Namib-Wüste, die zwar  ihr Aussehen wechselte, ihn aber in jeder Bucht mit der gleichen Leere empfing, ein entmutigender Anblick für Dias und seine Mannschaft gewesen sein.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Durch einen heftigen Sturm wurde sein Schiff im Januar 1488 nach Süden abgetrieben, ein paar Wochen lang verloren die Portugiesen den Sichtkontakt zur Küste und es ist fast ein Wunder, dass die Besatzung des Schiffes diese Strapaze überlebte, denn die Vorräte an Wasser und Lebensmittelreserven müssen während dieser Zeit aufgebraucht worden sein. Als sie Anfang Februar endlich wieder Land erblickten, hatten sie längst, ohne es zu wissen, ihre Heldentat vollbracht: das Südkap Afrikas war - wenn auch eher unfreiwillig und vom Sturm getrieben - umsegelt worden. Dias war fest entschlossen, die eingeschlagene Route nach Nordosten fortzusetzen und errichtete  Mitte März 1488 an einem Punkt, den er Angra da Roca nannte, einen weiteren Padrão. Dias ahnte jetzt, dass er den südlichsten Punkt Afrikas überwunden hatte. Doch trotz der Aufnahme neuer Vorräte begann seine unter Skorbut leidende Mannschaft zu meutern und am Kap hinter der Algoa Bay, das heute den Namen "Dias Cross" trägt, sah sich der Entdecker zur Rückkehr nach Portugal gezwungen. Während des Rückweges sah er dann diesen schicksalhaften Punkt, der für immer mit seinem Namen verbunden sein wird. Am 1. Mai 1488 ließ er den letzten Padrão in der Bucht des heutigen Kapstadts aufstellen. Er selbst nannte das Kap aus naheliegenden Gründen "Cabo das Tormentas" ("Kap der Stürme") - der "Guten Hoffnung" sollte es erst später gewidmet werden.

Trotz seiner Verdienste (deren Tragweite auch erst viel später erkannt wurde) erhielt Dias nach seiner Rückkehr im Dezember 1488 kein neues Oberkommando für eine wichtige  Expedition. Statt des eigentlichen Entdeckers Dias erntete der skrupellose Konquistador Vasco da Gama den Ruhm, den Seeweg nach Indien gefunden zu haben. Er erreichte Kalikut zehn Jahre später (1498).

Bartolomeu Dias brach zwar auf zu neuen Ufern gen Westen, er begleitete  Kapitän Pedro Cabral auf seiner Entdeckungsfahrt, die sie nach Brasilien führte. Von Brasilien nahm Dias Kurs auf Südafrika. Es ist nicht überliefert, wie er darauf reagierte, dass er trotz seines Erfolges übergangen wurde und plötzlich im Schatten jüngerer Kapitäne wie Vasco da Gama oder Cabral stand. Dabei hatte er beiden den Weg zum Ruhm geebnet, seine Verbitterung wäre  also sehr verständlich. Als er sich dem Punkt seines größten Triumphes näherte, brachte dieses Schicksalskap seinem Entdecker Dias keine Hoffnung mehr, sondern den Tod. Ende Mai 1500 sank sein Schiff in einem der vielen Stürme unweit des Kaps der Guten Hoffnung. Der portugiesische Dichter Luis Vaz de Camoes gibt in seinem Nationalepos "Lusiadas" eine mythische Erklärung für den Tod des Kapitäns: der Kapgeist Adamastor soll den Entdecker  aus Rache dem Tod in die Arme getrieben haben:

"Aqui  espero tomar, se não me engano,
De quem me descobriu suma vingança.
...Naufrágios, perdições de toda sorte,
Que o menor mal de todos seja a morte!"
 

König Joao II. selbst benannte das "Kap der Stürme" schließlich um in "Kap der Guten Hoffnung" - für den Monarchen war der optimistische Wunsch ausschlaggebend, dass dieser Punkt ein Meilenstein auf dem Weg nach Indien sei. Der König, in dessen Namen mutige Entdecker ihr Leben riskierten und Portugal zu einem weltumspannenden Imperium machten, lebte bequem und fernab von Stürmen oder Skorbut im Palast in Lissabon und Bartolomeu Dias wurde durch seinen Tod und sein Verschwinden im Atlantik zur tragischen Figur, Vasco da Gama und Cabral profitierten dagegen von seinen Entdeckungen. Von den Touristen, die heute in Namibia staunend vor den riesigen Sanddünen der Namib stehen, weiß kaum jemand, dass Dias der erste Europäer war, der diese großartige Einsamkeit erblickte.

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Text + Fotos: Berthold Volberg



Tipps und Links für alle, die auf den Spuren von Dias Namibia entdecken wollen

Hotels in Walvis Bay:
Das beste ist das Protea Hotel "Pelican Bay", das in grandioser Lage direkt an der Lagune liegt:
The Esplanade, P O Box 713, Walvis Bay, Namibia
Tel +264 (64) 214 000
Fax +264 (64) 214 481
Mail res.pelicanbay@proteahotels.com.na

Restaurants:
"The Raft" gegenüber dem Hotel Pelican Bay inmitten der Lagune (zumindest bei Flut) und nur über einen Steg zu erreichen, sieht dieses nicht allzu günstige, aber vorzügliche Restaurant von außen wie eine Piraten-Spielzeugburg aus. Innen hat man durch Fensterfronten rundum einen tollen Blick auf die Wellen und Sonnenuntergänge
Tel. +264 64 204877.

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Willi Probst Bakery:
In diesem zentralen Café / Restaurant gibt es eine reichhaltige Speisekarte. Berühmt ist dieses Etablissement des Deutsch-Namibiers Willi Probst aber vor allem für seine Torten nach vorwiegend deutschen Rezepten und besonders für die beste Schwarzwälder Kirschtorte  südlich des Äquators.

Lothars Steak House:
In diesem Restaurant im Zentrum von Walvis Bay werden vor allem vorzügliche Antilopensteaks (Oryx, Kudu) zu moderaten Preisen angeboten.

Touristische Aktivitäten

Bootstouren mit Catamaran Charters:
Katamarane "Silverwind"+ "Silversand" - Tel. 0811295393
Unter der Regie des überaus charmanten und fachkundigen Guides Marko Jansen van Vuuren werden alle möglichen Meerestiere und Seevögel angelockt und präsentiert. Dazu gibt es eine Fülle von Hintergrundinformationen.

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Dünenbesteigung:
Besonders beliebt die "Dune Number 7". Aus ökologischen Gründen empfehlen wir die Erwanderung und Besteigung aus eigener Kraft. 

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[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: portugal]





[art_6] Argentinien / Chile: Rallye Dakar 2010, Vol. II
Die Streckenabschnitte im Kurzportrait
 
Nach dem Erfolg des letzten Jahres erfolgt 2010 die Neuauflage der Rallye Dakar. Vom 1. bis 17. Januar werden 373 Teams gut 9030 Kilometer durch Argentinien und Chile zurücklegen. Die Strecke ist etwas kürzer als die letztjährige, da die weiten Ebenen Patagoniens im Süden Argentiniens nicht mehr Teil des Programms sind. Stattdessen konzentrieren sich die Veranstalter auf die Atacama-Region Chiles, in der die Rallye Dakar fast eine Woche verweilt.

Anden Argentinien [zoom]
Weinberge Mendoza / San Rafael [zoom]

Für die 32. Ausgabe des Rallyespektakels haben sich deutlich weniger Teams angemeldet als noch im Jahr zuvor: 373 gegenüber 530. Schmerzlich vermisst werden wird das Werkteam von Seriensieger Mitsubishi, das nach dem Debakel des letzten Jahres die Segel strich und aus der Rallye ausstieg. Dabei aber sein werden die letztes Jahr siegreichen Diesel VWs der Marke Touareg - mit der berechtigten Hoffnung den Triumph von 2009 wiederholen zu können.

Anden Chile [zoom]
Anden Chile [zoom]

In Buenos Aires gehen an den Start: 138 Autos, 185 Motorräder bzw. Quads und 50 LKWs. Sie folgen der Strecke zunächst nordwestwärts in Richtung Nordchile, um sich dann südostwärts wieder nach Buenos Aires vorzuarbeiten. Hier ein kleiner Überblick über die Einzelstrecken:

Auf der ersten Etappe geht es über 652 Kilometer von Buenos Aires durch das Calamuchita Tal nach Cordoba. Danach folgt eine ähnlich lange Etappe nach La Rioja, wobei bereits die Voranden erreicht werden. Am dritten Tag kommt auf die Fahrer auf dem Teilstück von La Rioja nach Fiambala eine besondere Prüfung zu: Sie verlassen die Erdstraße und fahren 30 Kilometer durch Sanddünen.

Grenzschild [zoom]
Grenze Argentinien / Chile [zoom]

Tags drauf überqueren die Fahrer die Grenze nach Chile und erreichen die Atacama-Wüste mit ihren extremen Temperaturschwankungen: Auf bitterkalte Nächte folgen am Tage 40 Grad und mehr. Einer besonderen Anstrengung werden die Motoren ausgesetzt sein, wenn es kurzzeitig auf bis zu 5.000 Höhenmetern geht.

Danach folgt das sechste Teilstück von Copiapo nach Antofagasta und die Fahrer erreichen den Pazifik. Diese Strecke ist besonders gefährlich, der Wegbelag besteht aus einer Mischung aus Sand und Steinen. Das Gleiche gilt für die sechste Tagesetappe, die durch Sanddünen hoch nach Nordchile bis nach Iquique führt.

Anden Argentinien [zoom]
Pazifikküste Chile [zoom]

Am siebten Tag geht es wieder zurück nach Antofagasta, wobei die Fahrer eine drei Kilometer lange Salzwüste, einen "Salar", durchqueren müssen. Danach folgt der einzige Ruhetag der Rallye. Zeit zum Ausruhen werden die Fahrer aber kaum finden. Nach der ersten Hälfte der Rallye bleiben den Teams nur 24 Stunden Zeit, um die strapazierten Fahrzeuge wieder auf Vordermann zu bringen.

Am neunten Tag werden die Piloten über steinige Wege zurück in die Atacama-Wüste geleitet und weiter durch Dünenlandschaft nach Copiapo. Danach verlässt die Rallye die Atacama-Region und zieht südwärts nach La Serena am Pazifik weiter. Damit liegen die technisch besonders anspruchsvollen Strecken hinter den Teilnehmern.

Salar, Salzwüste [zoom]
Anden Argentinien [zoom]

Das Teilstück nach Santiago wird den Fahrern eine willkommene Abwechslung nach den Tagen in der Wüste bieten. Hügel mit dichter Vegetation bestimmen die Landschaft auf dem Weg südwärts bis hinein in Chiles Hauptstadt.

Von Santiago aus geht es über den Libertadores-Pass zurück nach Argentinien. Der Weg führt u.a. vorbei am Aconcagua, mit 6859 Metern Südamerikas höchster Berg. Auf argentinischer Seite erreichen die Fahrer noch am selben Tag San Juan, von wo es am nächsten Tag weiter bis nach San Rafael geht. Die Wege sind steinig, die Aussicht auf die Canyonlandschaft beeindruckend. In der Nähe von San Rafael wird man die grauen Sanddünen von Nihuil durchqueren - noch einmal eine schwierige Prüfung, die den Piloten höchste Fahrkunst abverlangt.

Anden Argentinien [zoom]
La Pampa [zoom]

Da der Schwenk nach Süden in Richtung Patagonien ausgespart wird, können die Teams mit Höchstgeschwindigkeit von San Rafael ostwärts Kurs auf Santa Rosa nehmen. Die langen Geraden durch die Pampalandschaft erlauben den Teams zwei Tage vor Ende der Rallye noch einmal an Boden gutzumachen.

Am 16. Januar folgt der Endspurt von Santa Rosa zurück nach Buenos Aires. Die 206 Kilometer der letzten Spezialprüfung der Rallye Dakar stehen noch einmal im Zeichen des Austestens der individuellen Speedgrenzen - die letzte Chance noch einmal aufzuholen, um am 17. Januar als Sieger in Buenos Aires gekürt zu werden.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_7] Venezuela: Spaß durch Improvisation
Im Interview mit der Pianistin Gabriela Montero

Die Venezolanerin Gabriela Montero gehört zu den besten Pianistinen weltweit. In der klassischen Musik ist sie die einzige, die mit Improvisation arbeitet. Vor allem darauf basiert ihr großer Publikumserfolg. Torsten Eßer sprach mit ihr über Musik für Eliten, El Sistema und Improvisation.

Sind Sie eigentlich, wie so viele venezolanische Musiker, in der Jugendorchesterbewegung ausgebildet worden?
Nein, ich bin nicht in El Sistema ausgebildet worden, aber ich trete schon sehr viele Jahre immer wieder mit dem Orchester auf, zwei- bis dreimal jährlich. Ich bewundere die Leistung des Gründers José Antonio Abreu und bin mit Gustavo Dudamel befreundet.

In meiner Familie gibt es keine Musiker; klassische Musik wurde zuhause nicht gehört. Ich hatte Privatunterricht und erst als die Musiklehrer meinen Eltern sagten, dass ich Talent hätte und das wichtig für mich sei, kauften sie einige Platten.

Gibt es überhaupt Musikunterricht an den staatlichen Schulen in Venezuela?
Selten, es fehlt an Lehrern und Material. Klassische Musik ist in staatlichen Schulen kein Thema.

Wie kam es zu der Idee, am Ende der "normalen" Konzerte mit dem Publikum zu interagieren?
Ich habe schon als Kind improvisiert, das war für mich völlig normal. Dann habe ich das viele Jahre nicht gemacht, weil mir eine Lehrerin davon abgeraten hatte. Erst vor sieben, acht Jahren habe ich wieder damit angefangen, nachdem die große Pianistin Martha Argerich mich dazu ermutigt hatte. Und dann kam die Interaktion automatisch hinzu, denn in der Welt der Klassik existiert ja keine Improvisation und wenn man dann so vor sich hin spielt, versteht keiner, was man da macht. Also habe ich es dem Publikum erklärt und es dann gebeten, mir Themen vorzusingen, die ich für meine Improvisation nutzen kann.

Wieso ist die Improvisation in der Klassik verloren gegangen?
Vielleicht, weil durch weniger Freiheit mehr Ernsthaftigkeit erreicht wird. Aber im Grunde nimmt es der Musik den Sauerstoff. Wenn man sich vorstellt, dass Beethoven, Bach, Mozart usw. alle große Improvisationstalente waren, dann macht es keinen Sinn, dass die Freiheit nicht auch Teil des kreativen Prozesses in der klassischen Musik sein soll.

Glücklicherweise haben die Jazzer diese Fähigkeit gerettet...
Ja, das stimmt.

Könnten Sie sich vorstellen, ein Jazzalbum einzuspielen?
Eher nein, denn die Klassik ist mein Metier; auch wenn viele meiner Improvisationen jazzig sind, weil mir diese Art Musik gefällt. Aber als Jazzpianistin aufzutreten, hieße in einer anderen Haut zu stecken, das geht nicht.

Improvisieren Sie über alles?
Ja, da ich über alles improvisieren kann. Manchmal bitte ich das Publikum allerdings, nicht so seltene Themen auszuwählen, da es wesentlich schöner ist, wenn alle mitmachen können und etwas davon haben.

Reagiert das Publikum je nach Land unterschiedlich?
In einigen Ländern brauchen die Leute etwas länger, aber meistens ist die Begeisterung nach der ersten Improvisation so groß, dass es von alleine läuft. Auch hier in Deutschland ist die Reaktion immer überschwänglich. Dann singen hunderte Besucher ein Volkslied mit mir.

Mit etwas mehr Spaß kann man vielleicht auch andere Schichten als immer nur die Elite für klassische Musik interessieren?
In meinen Konzerten sitzen jung und alt gemischt, Musikkenner genauso wie einfache Leute, die vielleicht zum ersten Mal ein Werk von Brahms hören. Das ist nicht beabsichtigt, es ist lediglich die Konsequenz aus der Art meiner Konzerte. Wenn ich Spaß habe, dann hat das Publikum auch Spaß.

Das ähnelt sehr der Idee von Sr. Abreu!
Das liegt am venezolanischen Wesen. Wir begeistern uns für jede Art von Musik und wenn wir sie spielen, sind wir dabei sehr expressiv. Diese Freude und Spontaneität überträgt sich auf das Publikum und alles wird zu einem Fest der Musik.

Besitzen venezolanische Pianisten auch den tumbao
, wie die Kubaner?
Als Latina habe ich zwar viel Rhythmus im Blut, aber wenn ich die Klassiker interpretiere, kommt das nicht zum Vorschein. Allerdings habe ich ja auch in Europa und den USA studiert. Doch wenn ich improvisiere, habe ich natürlich den tumbao; es gefällt mir, ihn dann rauszulassen.

Sie sind eine Bewunderin des Pianisten Friedrich Gulda…
Martha Argerich hatte noch bei ihm studiert und erzählte oft von ihm. Sie sagte immer zu mir, wie schade es sei, dass ich ihn nicht kennen lernen konnte. Ein großer Pianist, einige seiner Aufnahmen sind unglaublich. Außerdem hat er immer gemacht, was er wollte, egal, ob anderen das gefiel oder nicht. Ein bißchen exzentrisch und verrückt halt, das finde ich gut.

Sie haben zu Barack Obamas Amtseinführung gespielt?
Ja, das war ein sehr bewegender Moment. Er ist für mich eine wichtige Figur im Hinblick auf eine Veränderung der Welt. Intelligent, würdevoll und aufrichtig. Ich setze große Hoffnungen in ihn.

Sehen Sie das bei Hugo Chávez auch so?
Hier kommen wir vom Positiven zum Negativen. Mehr fällt mir dazu nicht ein...

Aber er beruft sich auf Simón Bolívar...
Bolívar war ein großer Politiker, der heute in einigen Aspekten wohl missverstanden oder -gedeutet wird. Ein Mann mit Visionen und Willenskraft, der meines Wissens immer zu Ende brachte, was er sich vorgenommen hatte...

Text + Foto: Torsten Eßer
Cover: amazon

Gabriela Montero
Bach & Beyond
EMI Classi (EMI)

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_8] Spanien: Bissfestes Reizker-fluffiges Maronen Risotto
 
Letztens bin ich wieder bitter böse entlarvt worden. Die Abhängigkeit von Haferflocken ist daran Schuld. Wäre es darum gegangen, was für ein Morgen-Koffein-Typ ich bin, hätte ich kontern können: So kriegt ihr mich nicht. Mal starker Cappuccino, mal guter Bohnenkaffee, mal feiner Angerührter und an jedem 2. Morgen frisch aufgebrühter Mate. Ätsch!  Aber um Kaffee geht es der Autorin des spanischen Ein-Euro-Gesundheitsmagazins nicht. Sie teilt die Welt in weich und hart, in Suppenkasper und Fleischfanatiker, in  Haferflöckler und Pfefferbeißer.

Es lebe der Tag des ersten Pilzrisottos des Jahres. Dieser Tag wird zelebriert und begleitet von einer wunderbaren Dekadenz, einer Dekadenz lediglich begrenzt von dem Vorstellungsvermögen eines Haferflockenaffinen. Mauserl, ruft er, ich mach nur noch schnell Maniküre und dann bringst du mir vom Joggen bitte eine fluffige Zeitschrift mit. Ja und dann, nix wie ab in die Pilze.

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Zurück vom Joggen, duscht das Mauserl und ich blättere gierig die ersten Seiten der durch und durch bebilderten Zeitschrift "Rund und gesund" – nur 70 Cent mit Kochrezepten und Sudoku – durch. Ein wunderschöner Tag steht uns bevor.

Wir streiten kurz aber nicht heftig: Fahren wir da lang oder da lang? Na, da lang. Ne, lieber da lang. Ja, dann vielleicht doch auf den Markt. O.k.!

So ein Markt bietet ja ein unglaublich schönes Bild, wenn man erst einmal runter gekommen von dem ganzen Stress – ich bin ja so busy, busy, busy – den ersten Risottotag des Jahres begeht. Ach, schau doch mal, wie schön der Salat und erst die Gurken und dort haben sie Oliven und frische Kräuter, Peterling und Rosmarin, Koriander und Selleriegrün. Diese einmalig festkochenden Kartoffeln und die strahlenden Möhrchen. So frisch gibt es das alles nur hier auf dem Markt. - Geht es noch mit dem Tragen?

Und dann endlich der Pilz. Da liegt er halb versteckt. Fast so, als hätte man ihn selber suchen müssen. Eine bezaubernde 350 Gramm Marone. Einpacken? Gern und bitte schön geben Sie noch ein wenig Petersilie dazu. Weiter unten auf dem Markt entdecken wir dann ganze Hexenkreise von Reizker, Steinpilzen und Pfifferlingen. Na, jetzt aber! Es tut mir leid, aber man muss auch mal ermahnen zwischendurch, auch an so einem schönen Tag: Die 3 Kilo Pilze wirst du ja wohl auch noch tragen können.

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Ich bin so unglaublich entspannt und ausgeglichen, wenn das Mauserl alles trägt, so dass ich mir für den Nachtisch noch 8 Kilo frische Feigen geben lasse. Das reicht dann endlich, sonst bricht mir das Mauserl noch zusammen. Aufi, gehen wir zum Auto. Ich seh ja schon, dass du es gar nicht mehr erwarten kannst, die Pilze zu putzen. 

So. An dieser Stelle müsste nun eigentlich das Rezept vom Meisterkoch persönlich aufgelistet erscheinen – das war schließlich seitens der Redakteure so gefordert. Aber mir ist so langweilig geworden von dem ganzen Aufwand, den das Mauserl da betrieben hat, dass ich mich in die Sauna, meinem letzten Zufluchtsort bei dem Lärm in der Küche, zurückgezogen habe.

Es handelt sich nicht um eine klassische finnische Sauna, sondern um eine Wärmekabine, die sich durch ihre Infrarotheizung und die kompakte Bauweise auszeichnet. Eine Person kann bequem schwitzen und in der fluffigen Zeitschrift blättern.

Ja, was ist das denn? Da befindet sich doch tatsächlich ein Risotto-Rezept auf Seite 58f. Und dann steht doch da – Mauserl, schnell komm, lass alles fallen und liegen, das musst du dir ansehen: Sind in einer Partnerschaft beide Typen, der weiche und der harte, vertreten, dann raten wir Ihnen zu einem Pilzrisotto mit bissfestem Reizker und fluffigen Maronen. ¡Buen provecho!

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 01/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





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