caiman.de 01/2010

[art_4] Brasilien: Die traurige und wenig lehrreiche Geschichte des grausamen Banditen Leóncio - Eine Räuberpistole
 
Der grausame Bandit Leóncio sitzt am Ufer des Flusses unter einem vertrockneten Bäumchen und weint bitterlich. Von seiner Hüfte hängt sein tödlicher Revolver, in seinem Gürtel stecken seine vierzehn gefürchteten Messer, neben ihm liegt seine unerbittliche Büchse Inmaculada, mit der er noch nie ein Ziel verfehlt hat und in seiner Brust blutet sein Herz.

Nur wenige Dutzend Schritte entfernt hocken seine Männer um ein Feuer und wundern sich. Im Schein der tief stehenden Abendsonne werfen die dürren Büsche der Caatinga lange, dürre Schatten, Schattenspinnweb, über den roten, staubigen Boden des Sertão.  Das Feuer ist die Mitte der Welt, der Horizont umgibt es gewaltig und rund wie eine Mönchstonsur auf dem Kopf Gottes. Im Westen versickert das Tageslicht rotgolden hinter seiner Linie, im Osten haben sich die ersten Sterne in die Höhe gestemmt und weit oben ist der Himmel so dunkel und samtig und wolkenlos blau, dass man hätte meinen können, man schaue zu tief und zu lang in die Augen einer schönen Frau von der anderen Seite des Ozeans.



"Sollte nicht einer von uns nach ihm sehen?", fragt José Niemand. "Geh doch selber! Hast du schon vergessen, wie er damals den Schwager von Kuh-Luís niedergeknallt hat, weil der ihn beim Pissen gesehen hatte?", antwortet Zeca Cabeludo. "Ich glaube, er pisst nicht. Dafür ist er schon zu lange weg", sagt der Einarmige Bandit. "Eben, porra! Was meinst du, was er erst mit jemandem machen würde, der ihn beim… dabei sieht, was er gerade macht, du Stutensohn!", erläutert Zeca Cabeludo. "Jungfrau Maria und zwei Esel", murmelt José Niemand in seinen Bart, ohne damit jemand Bestimmten zu meinen.

Die Männer schweigen, schärfen gedankenverloren ihre Messer und kauen auf den Streifen Dörrfleisch, die sie gestern bei dem Überfall auf den Hof von Nildo Ferreira erbeutet haben. Es ist kein besonders erfolgreicher Überfall gewesen.

Léoncio war zum Flussufer gegangen und hatte lange und ausgiebig an den dürren Baum gepinkelt. Dann hatte er sich hingesetzt, um zu heulen wie ein kleines Mädchen. Mit jedem heftigen Schluchzer schlugen die Waffen, die er trug, klimpernd aneinander. Er hatte die Beine an sich gezogen und den Kopf auf die Knie gesenkt.

Warum weinte Leóncio? War der grausame Bandit ein Mann, der zur Gefühlsduselei neigte? Als er elf Jahre alt war, hatte er mit bloßen Händen seine eigene Mutter erdrosselt, weil er herausgefunden hatte, dass sie seinen Vater mit dem Sohn des Großgrundbesitzers betrog. Als er siebzehn Jahre alt war, fand er den Sohn des Großgrundbesitzers nach langer Suche in einer Seemannskneipe im Hafen von Recife, schnitt seine Genitalien ohne viel Federlesens vor einem Publikum aus angewiderten, angstgelähmten und doch vom Geschehen faszinierten raubeinigen Matrosen in den Feijoada-Topf und zwang ihn, einen ganzen Teller davon zu essen, bevor er ihn niederstach.

Leóncios Vater hatte übrigens schon viele Jahre zuvor, noch bevor der Kleine laufen konnte, die Familie von einem Tag auf den anderen verlassen und war spurlos verschwunden. Und wenn er danach mit ebensoviel Hingabe weiter gesoffen hat wie zuvor - dann wird er zu dem Zeitpunkt, als die Frau Mama mit dem hübschen, jungen Gutserben ins Bett gestiegen ist, mit großer Wahrscheinlichkeit schon eine ganze Weile tot gewesen sein. Es sei jedoch niemandem empfohlen, den grausamen Banditen Leóncio auf solche Fragen der Verhältnismäßigkeit aufmerksam zu machen.

Mit anderen Worten: Nein. Der grausame Bandit Léoncio neigte zu allen möglichen Dingen, aber nicht zur Gefühlsduselei. Er war der Anführer eines der niederträchtigsten Haufen, die der Sertão je gesehen hatte, und er war ihr unangefochtener König. Sie liebten ihn auf eine Weise, die von Hass nicht zu unterscheiden war.

Insofern ist die Frage durchaus berechtigt: Warum weint Leóncio? Während der weinende Bandit sich allmählich beruhigt, beginnt unerwartet eine umfangreiche Rückblende, die den Sachverhalt vielleicht erklären kann: Es hatte seit Monaten nicht geregnet; zwischen allen Zähnen der Region knirschte der Staub. Die Sonne starrte böse aus dem leeren Himmel und zerkochte jedem den Verstand, der keinen Hut trug. Unter ihrem gnadenlosen, stechenden Blick wand sich unbehaglich der große Markt. Die Sonne sah einen grellbunten Flickenteppich aus aufgespannten Planen, unter denen die kleine Stadt wie an jedem Markttag nahezu verschwand. Zwischen den Flicken zeigte sich ihr eine vielköpfige, zähflüssige Substanz aus Menschen und Kühen und Ziegen und Schweiß und Hühnern. Der Gestank nach Fisch und Schlachtgut und Urin und zuviel Leben auf zu wenig Fläche vermischte sich mit heiserem Gebrüll aller Art: Hier wurde lauthals gefeilscht, dort gestritten, anderswo ein Schwein geschlachtet, das kreischte wie ein Säugling, mancherorts bloß unverständlich gemurmelt oder volltrunken gesungen oder mit mahnend erhobenem Finger gepredigt.

"Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, ihr Hurensöhne! Und aus seinem Munde hing ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne scheint in ihrer Macht! Hört mir zu, ihr Dreckspack, denn ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle!"

Der kahle, fast zahnlose Prediger stand auf einem stinkenden Haufen Müll und aus seinen Augen leuchtete die Rechtschaffenheit der Gottgefälligen. Seine zerlumpte Kleidung, so ausgeblichen, dass keine Farbe erkennbar war, flatterte bei jeder großen Geste um das dürre Geäst seines Körpers. Außer dem Kopf eines geschlachteten Rindes, der aus dem Müllhaufen heraus teilnahmslos und ruhig zu ihm aufblickte, beachtete ihn niemand. Das war ihm Publikum genug. Er trug keinen Hut.

"Und aus dem Rauch kamen Heuschrecken auf die Erde und ihnen wurde Macht gegeben, wie die Skorpione auf Erden Macht haben, verdammt noch mal!"

Leóncio der Bandit schritt durch die Massen. An seinem ledernen Hut funkelten durchbohrte Münzen. In seinen über der Brust gekreuzten Patronengurten funkelten Patronen. In seinen Augen funkelte die Gewissheit, dass man ihn fürchtete. Vor ihm teilte sich die Menge, um ihn herum verstummten die Gespräche.

"Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall, und in der Mitte am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten, voller Augen vorn und hinten. Vorn und hinten voller Augen, sag ich! Sie sehen euch, ihr jämmerlichen Hundsfötte!"

Léoncio hielt inne und sah den Eiferer an: Erst die nackten Füße. Dann den dünnen Leib. Dann das verhärmte Gesicht. Der Mann verstummte, verkroch sich wimmernd im Müll und vergaß seinen himmlischen Auftrag für immer. So einer war Leóncio. Er hatte Ausstrahlung.

Die zahllosen bunten Planen warfen zahllose bunte Schatten auf eine unüberschaubare Vielfalt feilgebotener Waren. Im Unterwasser-Schatten einer blauen Plane standen lärmende Männer an einem langen Tresen und tranken. Eine alte Matrone mit strähnigem Haar ging zwischen ihnen umher und füllte Wassergläser mit Schnaps. Die Plane hielt die heiße Luft und die schwitzende Feuchtigkeit unter sich gefangen wie ein langer Rock einen Furz.

Zwischen den lärmenden Männern standen die Gebrüder Galvão. Sie waren Händler, aber anders als viele andere Händler brüllten sie nicht, das hatten sie nicht nötig. Einen eigenen Marktstand brauchten sie auch nicht. Jeder wusste, was sie feilboten. Sie kauften und verkauften, wofür sich andere zu fein waren und davon lebten sie nicht schlecht. Sie waren keine Banditen, aber die meisten ihrer Kunden waren es, und das war ein offenes Geheimnis. Alles Geld, das bei den Brüdern Galvão über den Tisch ging, war Blutgeld. Und zwischen ihnen und dem Banditen Leóncio war schon so einiges Geld geflossen.

Als der erwähnte Bandit aus dem grellen Sonnenschein in den blauen Schatten des Saufzeltes trat, um Schnaps zu trinken und Geschäfte zu tätigen, waren die Brüder Galvão mit jemandem in einen hitzigen Disput verwickelt. Jemand sagte zu ihnen: "Sack Scheiße aus der Hölle, das kann nicht euer Ernst sein!" Und sie lachten nur.

Jemand sagte zu ihnen: "Hure die dich geboren hat, noch ein Wort, und ich stecke euch gegenseitig eure Köpfe in die Ärsche!" Und sie lachten noch mehr. Jemand sagte nichts mehr, stattdessen fielen erst zwei Schüsse und dann die zwei Brüder Galvão. Beide umklammerten mit den Händen ihre Bäuche und sackten so zeitgleich zusammen, als spiegelten sie sich ineinander. Mit einem Mal war es totenstill.

Am anderen Ende der Schüsse befand sich eine gewisse Helena Matos da Silva, ihres Zeichens Banditin, noch nicht lange im Geschäft und daher noch ohne Beinamen und Titel; und Helena Matos da Silva war es soeben gelungen, den grausamen Banditen Leóncio zu beeindrucken.

Für eine Handvoll Milchreis und zwei Schnäpse packten ein paar Stammkunden die noch leise stöhnenden Brüder Galvão an den Füßen und zogen sie durch das Gedränge hinaus, zum Marktstand von Mário Carniceiro, dem Barbier und Wundscher, der schon des Öfteren von den kurzen Transportwegen zum Saufzelt profitiert hatte. In der Annahme, dass sie sie nicht mehr trinken würden, hatte Helena inzwischen beiläufig die beiden Schnapsgläser der Galvão-Brüder und ihr eigenes geleert. Sie ließ sich auf einen Hocker nieder, legte ihr Schießeisen griffbereit vor sich auf den Tresen und blickte auffordernd in die Runde. Niemand wagte es, ihren Blick zu erwidern, und schließlich vergaß der Inhalt des Saufzeltes das Geschehene und setzte das Saufen und Lärmen fort.

Leóncio verharrte noch immer bewegungslos am Rande des Geschehens, sein Blick wie von höherer Gewalt an der kleinen, schlanken Gestalt der Banditin haftend und tief in seinem schwarzen Herzen regte sich ein kleiner, fremdartiger Funke - klitzeklein, und doch furchterregend wie eine Armee. Der Bandit schauderte. "Aha", dachte er verblüfft, "das ist also Angst."

Monate vergingen, die Dinge blieben die Dinge, der Regen blieb aus. Die Zuckerrohrernte von Dom Antônio Nunes de Oliveira war eingebracht, der Gestank aus den Kochkesseln der Zuckermühlen füllte das Land Tag und Nacht mit seiner erstickenden Süße. Es war kurz vor Morgengrauen als Leóncio und seine Spießgesellen auf den Bäuchen und im Schutz der Dunkelheit unter dem Zaun hindurch krochen, der die größte Zuckermühle des Dom Antônio vom Rest der Welt trennte. Messer klemmten zwischen ihren Zähnen, und hätte das Licht ausgereicht, hätte man die pure Mordlust in ihren Augen funkeln sehen können. Die kristallenen Kandelaber und feinen orientalischen Wandbehänge, das Tafelsilber und die französischen Möbel, der ganze infernalische Reichtum, mit dem sich der Zuckerbaron in seinem Herrenhaus umgab und nicht zuletzt seine drei hübschen und angeblich jungfräulichen Töchter, die als die beste Partie auf dieser Seite des Flusses galten und die er behütete wie drei kleine heilige Grale - all dieser Pracht drohte heute Nacht keine Gefahr, dafür war selbst der waghalsigste Banditenhaufen nördlich von Petrolina nicht waghalsig genug. Aber ein paar Fässer Zuckerrohrschnaps und ein Stapel Rapadura-Ziegel, um ihnen das ewige Dörrfleisch zu versüßen, für einen solchen Raub reichte ihr Wagemut ohne weiteres und ein solcher Raub sollte genug sein, dem Hochmut des Dom Antônio in seinem Palast einen empfindlichen Schlag zu versetzen.

Sie passierten das Mahlwerk, die eingespannten Ochsen bemerkten sie, schlugen nervös mit den Schwänzen und flohen ein paar Schritte im Kreis, denn eine andere Richtung als im Kreis kennen Mahlwerk-Ochsen nicht, darin unterscheiden sie sich von den Menschen: Ihre Welt ist im Kreis und sie laufen ein Leben lang den Hintern anderer Ochsen hinterher. Bemerkenswert war, dass Antônios Männer die Tiere nicht für die Nacht abgeschirrt hatten, aber das Warum dieser Merkwürdigkeit sollte sich bald klären.

Als die Banditen ohne auf eine Wache zu stoßen den flachen, lang gestreckten Bretterverschlag erreichten, in dem die Arbeiter schliefen, vermutete Leóncio längst, dass hier etwas nicht stimmte, denn er war ebenso klug wie grausam. Und er sollte  Recht behalten: In diesem Verschlag schliefen keine Arbeiter. Die Arbeiter und die Wachen saßen und lagen um einen Tisch herum, auf dem eine halbleere Schnapsflasche stand. Es waren keine Anzeichen eines Kampfes zu erkennen, wie gefügige Lämmer hatten sie sich einer nach dem anderen abstechen lassen. Das Stroh auf dem Boden hatte ihr Blut noch nicht ganz aufgesogen, der metallische Geruch hing über ihren Köpfen wie ein Gegenstand und ein Gewicht. Als José Niemand laut und dreckig auflachte und wie zur Feier des Anblicks zur Schnapsflasche auf dem Tisch greifen wollte, hielt Leóncio ihn zurück – keinen Deut weniger klug als grausam war er.

In der Blutlache auf dem Boden zuckte ein Stiefel, in dem Stiefel steckte ein Mann, der Mann war noch nicht tot. Léoncio packte ihn bei den Haaren und schüttelte ihn und der Mann öffnete die Augen wie jemand, der nicht aufwachen will. "Wer?", fragte der Bandit, nicht besonders laut, nicht besonders nachdrücklich – aber selbst die, die nichts mehr zu verlieren haben, fürchten sich vor der Stimme des Banditen Leóncio, wenn er zornig ist. Der Mann schluckte schwer und mühsam, sein Atem ging pfeifend: "Tausendtöter", sagte er.

Leóncio wurde bleich. Warum? Darum: In der Zeit seit jenem Markttag war das Ereignis aus dem Schnapszelt auf dem Weg von Mund zu Ohr zu Mund zu Ohr gewachsen, wie es ein rollender Schneeball tun würde, aber hier wusste niemand von Schneebällen, der Vergleich ist nutzlos. So oder so: Inzwischen sprach man hinter vorgehaltener Hand von Helena Matos da Silva und man sprach von ihr als Helena Mata-Mil, Helena Tausendtöter. Einige Gräueltaten schrieb man ihr zu, so manche davon zu recht und auch dem grausamen Banditen Leóncio war das eine oder andere zu Ohren gekommen. Er hatte den Werdegang Helena Tausendtöters aus der Ferne mit einem Gefühl verfolgt, das er nicht hätte beschreiben können. Und nun hauchte der nicht ganz Tote: "Tausendtöter" und Leóncio wurde bleich.

Der Mann wollte sterben, aber Leóncio ließ ihn nicht bis er von ihm erfuhr, was er erfahren musste. Vor zwei Tagen war sie hier aufgetaucht, hatte sich als Tagelöhnerin ausgegeben und um Arbeit gebeten. Eine Frau, die allein durch den Sertão wandert und sich als Arbeiterin verdingt, noch dazu nach der Ernte - das war nicht besonders glaubwürdig. Aber sie hatte den Männern so schöne Augen gemacht und sie konnte auf eine Weise mit ihnen sprechen, dass sie sich zwischen den Zeilen des Gesagten die großartigsten Verheißungen einbilden konnten, und so schossen sie ihr Misstrauen in den Wind. Am ersten Abend war sie mit Glatzen-Ricardo hinter der Hütte verschwunden, am zweiten mit Pedro Bicho, der jetzt an den Haaren von der unerbittlichen Hand des Banditen Leóncio hing und sterben wollte. Für die kommenden Nächte hatten sich die Männer der Zuckermühle noch Großes versprochen und das hatten sie mit einem Schnäpschen begießen wollen. Mit lüsternen Blicken hingen sie an ihrem Gast, als sie tranken und das Lächeln der Fremden verhieß ein süßes Geheimnis. Und in der Tat, ein Geheimnis war es, bloß seine Süße war eine Frage der Perspektive: Sie hatte den Fusel mit einem Mittelchen versetzt, irgendeiner unseligen Macumba, und als die Männer alle getrunken hatten, als es bereits zu spät war und die Zauberei zu wirken begann, hatte sie sich zu erkennen gegeben und ihnen in allen Einzelheiten geschildert, was sie mit ihnen machen würde, sobald sie eingeschlafen wären.

Der grausame Bandit Leóncio ließ Pedro Bicho gehen. Er verwendete dafür ein Messer. Dann tötete er all die Toten noch einmal und selbst seine eigenen Männer, jeder einzelne ein Schuft von einigem Rang, mussten die Blicke abwenden. Sie überließen ihren Anführer seiner Raserei, durchsuchten das Lagerhaus nach den Dingen, derentwegen sie gekommen waren und fanden keinen Tropfen Schnaps und kein Bröckchen Rapadura. Blutüberströmt und schwer atmend kam Leóncio schließlich zur Ruhe. "Aha", dachte er erstaunt, "das also ist Eifersucht."

Die Rückblende endet, wir befinden uns erneut an jenem Abend am großen Fluss, scheinbar sind wir etwas zu früh, es ist schwieriger, als man denkt, in diesen Dingen den richtigen Zeitpunkt zu erwischen: Eben erst lässt sich der Bandit nieder, um zu weinen. Bevor die Geschichte weitergeht, haben wir also noch etwas Zeit, die wir nutzen können, ein weiteres Mal zu fragen: Warum weinst du, Leóncio? Und diesmal ahnen wir, die wir jetzt mehr wissen, die Antwort bereits: Der Bandit weint aus Angst und Eifersucht. Aber das ist nicht alles, noch nicht ganz.

Am Horizont verschwindet schließlich das letzte Tageslicht, die Nacht legt sich lautlos, mild und kühl über die verbrannte Erde des Sertão, und die Geschichte geht weiter:



Einige Wochen später, es hat immer noch nicht geregnet und Leóncio hatte noch einige Male geweint, wird Helena Mata-Mil unter unbekannten Umständen gefasst. Wachtmeister Getúlio Vieira verbrachte sie über Land in den nächst besten Marktflecken am Ufer des Flusses, wo ihr unter schwerer Bewachung in der lautlos brüllenden Mittagssonne der Prozess gemacht wurde. Im Morgengrauen des nächsten Tages sollte sie hängen, ihr Kopf sollte abgetrennt und als Forschungs- und Anschauungsobjekt sowie zur Erbauung des einfachen Volkes nach Bahia geschickt werden.

Auf einem Hügel über dem Dorf, unter sich das verbrannte Land und den Fluss, der es von Horizont zu Horizont in zwei Hälften teilte, sitzen zwei Banditen auf ihren Pferden, die Gesichter tief in den Schatten ihrer Hutkrempen versunken. José Niemand und der Einarmige Bandit wären Leóncio in die Hölle gefolgt, um dem Leibhaftigen selbst den Bauch aufzuschlitzen, also folgen sie ihm auch jetzt, auch wenn ihnen das Ansinnen ihres Anführers merkwürdiger scheint als jeder Ausflug in die Hölle es gewesen wäre.

Unter dem Anlegesteg wälzt sich das braune Wasser des Flusses träge dahin, ein paar kümmerliche Fischerboote dümpeln teilnahmslos auf und ab. Die Tünche an den gedrungenen Gebäuden, die sich um den kleinen Marktplatz scharen, ist schon lange nicht mehr weiß. Unter dem unerbittlichen Blick des Mittagsdämons fehlt der Luft aller Mut zum Wind, Mensch und Tier haben sich in ihre Löcher verkrochen und warten auf bessere Zeiten. Auf der überdachten Veranda vor einem kleinen Haus mit vergitterten Fenstern sitzen zwei Polizeibeamte auf einer hölzernen Bank, die Hitze setzt ihnen den schweren Fuß auf die Brust, sie rühren sich nicht und schweigen. Bis eine Explosion die Stille in Stücke reißt.

Die Polizisten springen auf, greifen nach ihren Waffen und wenden sich der Rückseite des Gebäudes zu, von wo der Lärm gekommen ist. Das ist das Zeichen, auf das Leóncios Gefährten gewartet haben. Sie geben ihren Pferden die Sporen und galoppieren den Hügel hinunter, den heißen Wind in den Gesichtern und die Flinten im Anschlag. Die Polizisten bemerken sie erst, als es zu spät ist. Der erste fällt unter einem Schuss José Niemands, der ihm durch die aufgeknöpfte Uniform hindurch in die Brust schlägt und ihn von den Beinen hebt wie ein Pferdetritt. Der zweite schießt noch einmal in ihre Richtung, bevor der Einarmige Bandit ihn mit einer Kugel am Arm erwischt und dann nieder reitet.

Die Banditen springen von den Pferden. Das Messer gezückt, wirft der Einarmige Bandit sein Gewicht gegen die massive Tür des Gefängnisses; das schwere Holz birst und Rauch und Staub quillt ihnen aus dem Inneren entgegen. In dem Rauch und Staub: Der grausame Bandit Leóncio, rußgeschwärzt, ein wildes Lächeln auf den Lippen und ein blutiges Messer in jeder Hand. Durch die aufgesprengte Rückwand des Hauses fällt staubdurchflirrtes Sonnenlicht auf die Leichen zweier weiterer Polizisten, die mit weit geöffneten Augen und Hälsen zur Decke starren. Vier kleine, elende Gefängniszellen nehmen den größten Teil des Erdgeschosses ein, nur eine von ihnen ist besetzt. Ihre Fänger haben ihr übel mitgespielt, aber Helena Mata-Mil steht stolz und aufrecht. Leóncio klaubt einen Schlüssel vom Gürtel eines der gefallenen Wächter. Hastig schließt er die Zellentür auf; dabei wendet er den Blick nur von Helena ab, wenn es gar nicht anders geht.

Draußen öffnen sich zaghaft einige Fensterläden in den umliegenden Häusern, meist nur einen Spalt weit; schemenhaft zeichnen sich Gesichter im dahinter liegenden Dämmerlicht ab, Augen, in denen ein kleiner Teil Neugier und ein großer Teil Angst einen ungleichen Kampf ausfechten. Leóncio steigt über die vor der Tür Getöteten hinweg und pfeift sein Pferd Malandro herbei, das er eigens als Jungtier aus den Ställen des Dom Antônio gestohlen hat.

José Niemand sitzt bereits im Sattel, als plötzlich ein scharfer Knall ertönt und etwas den Mann vom Pferd reißt. Er fällt wie ein nasser Sack zu Boden und rührt sich nicht mehr, das Tier wiehert schreckerfüllt und geht durch.

Natürlich wird eine Gefangene von solchem Ruf nicht bloß von vier Männern bewacht. Natürlich müssen die restlichen Mitglieder von Wachtmeister Getúlio Vieiras Einheit irgendwann vom Essen zurückkehren. Leóncio nimmt sich vor, in naher Zukunft jeden einzelnen der tumb zwischen den Fensterläden hervorstarrenden Dorfbewohner zu massakrieren, samt ihrer Familien bis in die dritte Generation, weil sie ihn nicht gewarnt haben. Manche Vorsätze allerdings sind dazu verurteilt, unerfüllt zu bleiben.

Dem ersten Schuss folgt ein ganzes Schussgewitter. Die Männer des Wachtmeisters haben sich hinter einem Gebäude auf der anderen Seite des Marktplatzes verschanzt und die Banditen sind ihrem Feuer schutzlos ausgesetzt. Eine Kugel verfehlt den Einarmigen Banditen so knapp, dass sie seinen linken Arm getroffen hätte, wenn da einer gewesen wäre. Eine zweite Kugel trifft das Pferd des Einarmigen in die Flanke, es schreit auf und geht zu Boden, wo es wild um sich tritt bis eine dritte Kugel ihm den Garaus macht. Weitere zwei oder drei Dutzend Kugeln treffen ungenannte Bestandteile der Umgebung, ohne einen Eindruck in der Handlung zu hinterlassen. Der Einarmige Bandit ist hinter dem Leichnam seines Pferdes in Deckung gegangen und lässt mit großer Ruhe eine Salve nach der anderen in Richtung seiner Gegner los - trotz seines offensichtlichen Nachteils ist er ein Flintenschütze wie kaum ein zweiter und nicht wenige Männer des Wachtmeisters fallen ihm an diesem Tag zum Opfer, obwohl sie sich hinter die Hausecke drängen und nur hervorkommen, um ihrerseits zu schießen. Leóncio hat sich mit Helena eng an die Wand des Gefängnisses gekauert, wo das Geländer der Veranda ihnen dürftig Deckung gibt. Er schießt, sie schweigt, aber ihre Hand krallt sich mit einer Kraft in seine Schulter, die er ihr nicht zugetraut hätte.

Schließlich durchdringt ein Schuss, es ist der insgesamt Sechsundachtzigste, die Stirn des Einarmigen, der über dem Balg seines Pferdes zusammensackt, als wäre er plötzlich eingeschlafen. Leóncios unerbittliche Büchse Inmaculada, mit der er noch nie ein Ziel verfehlt hat, ist gänzlich leer geschossen und auch die Kugeln in seinem tödlichen Revolver neigen sich dem Ende zu - mit anderen Worten: Es gilt, Entscheidungen zu treffen. Außerhalb des Sichtfeldes des Polizeibataillons, in der Gasse zwischen dem Gefängnis und einem anderen Haus, wartet, vom Lärm des Schusswechsels wenig beeindruckt (er hört dergleichen nicht zum ersten Male), sein treuer alter Klepper Malandro. Leóncio trifft eine Entscheidung.

Als Helena sich in Malandros Sattel schwingt und dem Tier die Fersen in die Seiten stößt, bricht der grausame Bandit Leóncio aus der Deckung hervor und stürmt brüllend auf die Gewehre der Polizisten zu. Wild verschießt er seine letzte Munition, ohne groß darauf zu achten, ob er damit jemanden erwischt.

Aus vielerlei Gründen - wegen der Sonne, die sich blendend hell auf den Münzen an seinem Hut bricht; wegen des auffrischenden Windes; wegen der zitternden Hände der Polizisten, die jetzt erkennen, mit wem sie es zu tun haben und wohl noch aus anderen Gegebenheiten heraus – trifft ihn keine einzige der zweiundzwanzig auf ihn abgefeuerten Kugeln.

In dem sicheren Wissen, dass die Männer nun wissen, wer er ist und ebenso überzeugt, dass sie sich einen solch kapitalen Fang keinesfalls sollten entgehen lassen, ändert er die Richtung und rennt auf den Steg zu, der in den Fluss hineinragt wie eine Brücke, deren anderes Ende man sich bloß einbilden muss.

Er läuft so schnell, wie er in seinem ganzen Leben nicht gelaufen ist und er würde in seinem ganzen restlichen Leben nicht wieder so schnell laufen, damit ist zu diesem Zeitpunkt nicht zuviel verraten.

Er spürt das Holz des Steges unter jedem Schritt seiner schweren Stiefel erbeben, er rennt weiter, er erreicht das Ende des Steges, er springt – und passiert, ungefähr auf dem Scheitelpunkt seiner Flugbahn, den Punkt, an dem sein Glück sich wendet, wer weiß schon warum.

"Aha", denkt er, während die Kugeln dumpf in seinen Rücken einschlagen, eine davon aus der Waffe des Wachtmeisters Getúlio persönlich, zahlreiche andere von jungen Rekruten, die die Geschichte vergessen hat, "Aha", denkt er, während aus dem Sprung ein Sturz wird, "Aha", denkt er, während er Blut ins Wasser des alten Flusses verströmt und die schöne Helena Tausendtöter auf seinem Pferd auf die langsam untergehende Sonne zugaloppiert, ohne sich noch einmal umzublicken. – "Aha", denkt er, "das also muss Liebe sein".

Text + Fotos: Nico Czaja

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