ed 11/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Zwölfte Etappe: Die Gänseberge und der Marsch auf dem "Dach Kastiliens"
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Unbegegnung in São Paulo
THOMAS MILZ
[art. 2]
venezuela: Cowboys im Sängerwettstreit
DIRK KLAIBER
[art. 3]
brasilien: José Borges - Literatur von der Leine
NICO CZAJA
[art. 4]
grenzfall: Auf 3 Sofas durch ... Buenos Aires
THOMAS NIEMIETZ SWR 3
[kol. 1]
macht laune: Ride hard or stay home
Thomas Aders Buch "Über die Anden bis ans Ende der Welt"
THOMAS MILZ
[kol. 2]
erlesen: Verdammt, Méndez. Verdammt, Lübbe.
Die Rache der Träumerin / Gott wartet an der nächsten Ecke
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 3]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Zwölfte Etappe: Die Gänseberge und der Marsch auf dem Dach Kastiliens
 
Dienstag, 29. August 2012. Golden im Licht der aufgehenden Sonne, aber auch wie befürchtet etwas öde liegen die Felder Kastiliens vor uns. Wir passieren den ersten offiziellen Wegweiser des Camino am Eingang ins spanische Kernland, das mit der größten Steppe Europas weite (und scheinbar endlose) Strecken des Jakobsweges prägen wird.

Für den heutigen Tag haben wir uns aber nicht viel vorgenommen. Die nur 17 Kilometer bis nach Belorado sind nach zwei langen Etappen durch die Rioja ein sehr überschaubares Tagespensum. So schreiten wir ohne Eile durch die abgeernteten Weizenfelder.

Die morgendliche Stille wird immer wieder unterbrochen durch das Hupen eines riesigen LKWs, der die nahe Nationalstraße entlang fährt und offenbar jeden Pilger mit seinem aufmunternd gemeinten Hupsignal begrüßt.

"Nun, da hat er viel zu tun, eigentlich kann er auf Dauer-Hupton schalten", kommentiert meine Begleiterin Cayetana. Denn trotz der frühen Stunde sind wir nicht allein unterwegs Richtung Westen – Dutzende von Pilgern marschieren in einer ansehnlichen Kolonne hintereinander über den Feldweg nach Belorado.

Obwohl wir sehr schnell wandern (Cayetana nennt es stolz "Flamenco-Tempo"), werden wir plötzlich überholt von einer älteren, dünnen und verbissen aussehenden Frau, die ihren Blick beim Laufen stur auf den Boden richtet. Sie hat den Gesichtsausdruck einer unterzuckerten Marathonläuferin wenige Meter vor dem Ziel. "Sollen wir uns das gefallen lassen?", fragt Cayetana und spurtet hinterher, um ihrerseits zum Überholen anzusetzen. In diesem Moment kommt uns ein Bauer mit seinem Esel entgegen. Dann hören wir, wie die grimmige Marathonläuferin dem armen Bauern auf Deutsch die Worte zuraunt: "Falsche Richtung!" Wir schauen uns lachend an. Denn es ist naheliegend, dass der Bauer nicht auf dem Jakobsweg unterwegs ist, sondern einfach nur zu seinem Feld will. Jedenfalls lassen wir vom Überholmanöver ab... Sie entfernt sich bald als winziger Punkt in der kastilischen Steppe.



Endlich um kurz nach 11 Uhr in Belorado angekommen, ist unsere Herberge noch geschlossen, so dass wir im Café "Bulevar" unseren Zuckerspiegel regulieren – Cayetana mit zwei Schoko-Croissants und Kakao mit extra Zucker. Beim ersten Rundgang durch Belorado wundern wir uns über die vielen Hausruinen. Manche bestehen nur noch aus Türsturz und Hausnummer und stehen dort wie Mahnmale  der Vergänglichkeit alles menschlichen (Besitz)Strebens. Die mit Schatten spendenden Bäumen und allen Flaggen Europas geschmückte Plaza Mayor von Belorado aber ist schön und voller Leben.



Als wir kurz nach 12 Uhr mittags vor der Pilgerherberge Cuatro Cantones ankommen, hat sich bereits eine Warteschlange gebildet - Zeichen für die Qualität dieser Herberge. Direkt vor uns steht ein braun gebrannter Typ Mitte 20 mit North Face T-Shirt und cooler Sonnenbrille. Cayetana stößt mir prompt ihren Ellbogen in die Rippen. Es ist wohl wieder so weit: sie wird sich ein weiteres Mal für 1,5 Tage verlieben. Er heißt Javier, arbeitet als Gärtner und kommt aus Barcelona. Schon hat Cayetana ihn in ein Gespräch verwickelt. Ich schwöre, mich diesmal nicht einzumischen. Dann stehen wir vor den Herbergseltern, einem sehr sympathischen Geschwisterpaar Mitte 20 (er fungiert als Koch und sie kümmert sich um alles andere). Sie zeigen uns die Betten, die Waschmaschine und den schönen Garten (mit Swimming Pool!). Eine Oase nach dem ersten Marsch durch die kastilische Steppe.



Während ich vor der Waschmaschine unsere Kleidungsstücke sortiere (wir haben fast nichts Sauberes mehr zum Anziehen), ist Cayetana plötzlich verschwunden.  Sie ist zwar Kommunistin, aber bei ihr zu Hause in Cádiz muss sie sich um so profane Dinge wie Wäsche waschen keinen Kopf machen, dafür haben ihre Eltern Hausangestellte. Endlich entdecke ich sie im Pool und neben ihr Javier, der seinen muskulösen Oberkörper am Beckenrand auf die Ellbogen stützt. Sie unterhalten sich gerade über sein Tattoo. Er hat auf der rechten Schulter sein Sternzeichen, einen Schützen, eingraviert. Cayetana malt mit ihrem Finger die Umrisse des Tattoos auf seiner Haut nach und sagt in diesem Moment zu ihrem neuen Objekt der Anbetung: "Deine Haut ist so weich wie Olivenöl…" Das reicht! Ich drehe mich herum, folge dem Motto "Essen ist die Erotik des alten Mannes" und wende mich dem Mittagmahl zu. Der hausgemachte Zimt-Sahnepudding ist eine kulinarische Streicheleinheit.

Mittwoch, 29. August 2013. Am nächsten Tag wartet Cayetana vergeblich auf Javier und fügt sich erstaunlich klaglos in ihre Verlassenheit. Wir vermuten, dass er schon vor 5 Uhr morgens los marschiert ist. Unser Wanderführer warnt vor "strammen Aufstiegen"  in die Gänseberge (Montes de Oca) nach San Juan de Ortega. Unmittelbar hinter Villafranca geht es tatsächlich zuerst sehr steil bergauf, aber schon nach knapp zwei Kilometern betreten wir das "Dach Kastiliens" und es folgen nur noch sanfte Auf- und Abstiege. "Wie – das war schon alles?", fragt Cayetana, die ähnlich wie ich eine deutlich schlimmere Klettertortur befürchtet hatte.



Erleichtert marschieren wir durch eine schöne Heidelandschaft mit vereinzelten stattlichen Eichen, die nach ein paar Kilometern abgelöst wird von düsterem Nadelwald, durch den sich einsam der Pfad nach Westen  zieht. Schon von weitem springt einem die einzige Ortschaft in dieser Einsamkeit ins Auge: San Juan de Ortega. Die romanisch-gotische Klosterkirche von San Juan de Ortega ist berühmt für ihre schlichte Schönheit und eine ganze Anzahl von Wundern.



Seit Jahrhunderten pilgern nicht nur Jakobspilger, sondern auch viele Frauen der Region hierhin, deren Kinderwunsch unerfüllt blieb. Sogar Königin Isabella die Katholische kniete 1474 hier am Sarkophag des Heiligen, um für die Geburt eines Thronfolgers zu beten, der dann wenig später geboren wurde. Ich weiß nicht, wofür Cayetana hier betet. Jedenfalls amüsiert sie sich über die in der Tat drolligen Bestien eines Seitenaltars , gehörnte Monster, die den Heiligen in seinen Visionen plagen.



Hinter San Juan de Ortega wandern wir noch knapp vier Kilometer über Forstwege durch dichten Nadelwald bis ins Dörfchen Agés, das kaum mehr als 50 Einwohner hat. 



Aber eine stattliche Dorfkirche mit einer Mini-Version des üblichen vergoldeten Hochaltars darf auch hier nicht fehlen. Nach dem Besuch der hübschen Kirche meldet sich deutlich der Hunger, der uns in die Dorfkneipe treibt. Jetzt brauchen wir nach diesen Bergetappen ein zünftiges und kalorienreiches Abendmahl. Und dafür soll gesorgt werden, denn Kastilien rund um Burgos ist "Blutwurst-Territorium". Kurze Zeit später stehen ein riesiger Brotkorb, eine Pfanne mit gebratener Blutwurst und der Rotwein des Hauses vor uns. Nachdem wir mehr als die Hälfte gegessen haben, erinnert sich Cayetana plötzlich daran, dass für diese Blutwurst "vielleicht ein paar kleine süße Ferkel ihr Blut geben mussten". Und legt das Besteck abrupt zur Seite, um noch eine Flasche Rotwein zu bestellen.



Als wir später Richtung Schlafsaal gehen wollen, werden wir von vier Pilgern eingeladen, die am Tisch neben der Eingangstür sitzen. Es sind zwei junge Frauen und zwei ältere Männer aus Zaragoza. Sie halten uns geradezu fest und bestehen darauf, dass wir uns zu ihnen setzen. Vor ihnen die Reste einer ansehnlichen Schlachtplatte, haben sie noch Blutwurst zum Nachtisch bestellt, die sie mit uns teilen wollen. Der euphorische Glanz in ihren Augen verrät, dass sie auch dem schweren Rotwein der Region schon ordentlich zugesprochen haben und die nächste Flasche wird soeben mit der Pfanne abgestellt. Die Blutwurst-Orgie kann also weiter gehen, der Jakobsweg ist nichts für Asketen. Wie in Platons Symposion sorgt auch hier in diesem kastilischen Bergdorf der Weingenuss bald für philosophische Diskussionen.

Die Frauen aus Zaragoza bringen das Gespräch darauf, dass man auf dem Camino nach Santiago besonders viele Menschen trifft, die eigentlich gläubig sind und Gott nahe sein wollen, sich aber von der (Amts)Kirche ausgegrenzt, dagegen vom Camino magisch angezogen fühlen: Geschiedene, überzeugte Singles, Schwule und Lesben und generell sehr viele Frauen. Da hebt der Mann aus Zaragoza – vielleicht ist er ein Priester, der unerkannt bleiben will? - die linke Hand in einer feierlichen Geste und spricht weise Worte, an die Cayetana und ich uns noch lange erinnern werden: "Dies hier – der Camino – ist tatsächlich ein Weg der Suchenden, nicht ein Weg der Pharisäer, die glauben, schon alles gefunden zu haben und behaupten, die Schlüssel zum Himmel in ihren bürokratischen Händen zu halten. Hier auf unserem Weg hat der Vatikan gottseidank gar nichts zu sagen – auf dem Camino ist die Kirche Gottes unterwegs, und das sind wir alle. Dem Camino folgen alle, die Gott wirklich entdecken wollen…" – "Olé", flüstert Cayetana zustimmend und hebt ihr Rotweinglas.



Am nächsten Morgen sind wir etwas verkatert und spüren deutlich die Kälte, die hier auf über tausend Metern Höhe sogar im August vor Sonnenaufgang herrschen kann. Auf nüchternen Magen führt uns ein sehr steiniger und furchtbarer Aufstieg (wir empfinden ihn anstrengender als den in Villafranca) zum Gipfel von Matagrande. Als wir zurück blicken auf die Montes de Oca, geht im Gipfelkreuz von Matagrande die Sonne auf. Auf dem Hügel am Fuß des Kreuzes, gebildet  aus tausenden Steinen, die Pilger aus ihrer Heimat mitgebracht haben, lege ich einen Stein aus Köln ab und Cayetana einen Strandkiesel aus Cádiz. Plötzlich fragt meine jugendliche Begleiterin hinein in die Stille des Sonnenaufgangs: "Und – sind jetzt alle Sünden gelöscht?" Naja, so einfach ist das nicht, will ich eigentlich antworten. Aber als ich das reine Leuchten in ihren Augen sehe, belasse ich sie in diesem Glauben.

Zudem will ich nicht zu dieser frühen Stunde auf nüchternen Magen theologische Diskussionen mit einer 22jährigen führen müssen. Cayetanas billige Digicam, die schon seit Tagen nicht mehr einwandfrei funktioniert, segnet auf diesem heiligen Hügel endgültig das Zeitliche. Das Foto vom Sonnenaufgang im Kreuz ist das letzte, über dem Kreuz kündigt ein rätselhafter Schatten das Ableben ihrer Kamera an. Als sie später den Schatten auf dem Foto entdeckt, wird sie ihn den "Schatten Gottes" nennen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Grañón nach Belorado: 17 Kilometer
Etappe von Belorado über San Juan de Ortega nach Agés: knapp 29 Kilometer

Unterkunft und Verpflegung:
in Belorado:
Private Pilgerherberge "Cuatro Cantones" (sehr empfehlenswert!), Calle Hipólito López Bernal, Tel. 947-580591 oder 696-427070; E-Mail: cuatrocantones@hotmail.com
Website: www.alberguecuatrocantones.com

Im Ortszentrum, geführt von bezauberndem Geschwisterpaar, sehr freundlicher Empfang (12.00 – 22.00 Uhr), die Herberge ist eine Oase mit schönem Garten und Swimming Pool, bietet Küche, Waschmaschine und Trockner, Wäscheservice. Übernachtung nur 5 Euro. Bietet auch Frühstück, Mittag- und Abendessen (s.u.).

Verpflegung in Belorado:
Empfehlenswert: Restaurant der Pilgerherberge "Cuatro Cantones" (auch für Pilger, die woanders übernachten geöffnet, Adresse s.o.): dreigängiges Pilgermenü inkl. Wein 10-12 Euro, sehr gut und großzügig (z.B. Gemüsecremesuppe + Bohneneintopf + hausgemachter Flan-Pudding). Ansonsten gibt es auch rund um die Plaza Mayor viele Restaurants, z.B. "Bulevar".

Unterkunft in San Juan de Ortega:
Kirchliche Herberge im Kloster San Juan de Ortega (Tel. 947-560438): Einfache und rustikale Traditionsherberge ohne Heizung; Übernachtung: 5 Euro

Unterkunft in Agés:
Gemeinde- Pilgerherberge "La Taberna", C. del Medio 21, Tel. 947-400697 oder 660-044575. Herberge mit Waschmaschine und Trockner, Internet, Laden und Bar/Restaurant. Übernachtung 8 Euro.

Verpflegung in Agés:
In der Bar der Pilgerherberge und Dorf-Bar "La Taberna". Das Pilgermenü kostet 10 Euro (nichts für Vegetarier und etwas lieblos zubereitet).

Kirchen:
Kirche Santa María in Belorado:
Renaissancebau am Ortseingang neben der kirchlichen Herberge

Klosterkirche San Juan de Ortega:
Romanisch-gotischer Bau mit schönen Kapitellen und dem Grabmal des Heiligen (gotischer Tempel inmitten der Kirche).

Dorfkirche von Agés:
Mit schöner Glockenwand (Espadaña) und vergoldetem Hochaltar (auch in spanischen Dörfern ein Muss!)

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Unbegegnung in São Paulo
 
Das Teatro Municipal, São Paulo, Brasilien. Ich mache Aufnahmen für einen Radiobeitrag für die Heimat.

Das Orchester aus Deutschland stimmt sich ein. Die Musiker tief in sich versunken, die meisten auf der Bühne, einige haben sich auf Zuschauersitze im Saal zurück gezogen. Eine elegante junge Frau mit asiatischen Zügen betritt die Bühne, setzt sich hinter das Yamahaklavier, streicht sich die langen dunklen Haare aus dem Gesicht, so pechschwarz wie der Klavierlack.

Die Probe beginnt, Rachmaninoff. Ihre Hände fliegen über die Tasten, ihr Gesicht verschwindet hinter den lang herunter hängenden Haaren. Sie ist im Tunnel, dessen Wände aus glattem unendlich langem Haar beschaffen sind. Ich strecke mein Aufnahmegerät der Bühne entgegen, auf der Suche nach dem perfekten Sound, der sich seinen Weg über die beiden Mikrofone hin zu den Kopfhörern bahnt.

Ab und zu schaut sie zu mir herunter, ich lächel, sie lächelt zurück. In einer Pause lehnt sie sich zu mir herunter, "are you the sound guy?" Ich schüttel den Kopf, lächel einfach weiter. Wenig später spricht das wundervolle Geschöpf erneut zu mir: "the piano is not loud enough, right?" Ich kann nur hilflos die Arme ausbreiten und dazu grinsen. Ich bin nicht der Soundguy. Ich sollte sie zum Essen bei Kerzenlicht einladen, denke ich. Und grinse erneut, ob der verwegenen Idee.

Als ihr Part fertig ist, kommt sie von der Bühne herunter, setzt sich neben mich. Ob mein Lächeln ihr gefallen hat? "Did you record it?" Ja, natürlich. Ob sie es hören könne? Na klar. Wir gehen hinaus, suchen nach einem stillen Ort, an dem wir ungestört der Aufnahme lauschen können. Merk Dir jede Kleinigkeit, denke ich mir, später wirst Du der staunenden Welt berichten müssen wie ihr Euch kennen gelernt habt, damals bei den Konzertproben. "Did you record it with the three microfons that hang down from the roof?" Nein, nur mit meinem kleinen Aufnahmegerät, ich bin ja nicht der Soundguy. "Are you Japanese?" Nein, sie kommt aus Südkorea.

Wir sitzen im Foyer, sie hat sich meine Kopfhörer aufgesetzt. "The first movement, please." Sie lauscht gespannt, wippt nervös mit dem Fuß. "What do you think?", fragt das wundervolle Geschöpf mit den pechschwarzen Haaren. Oh, ich fand das Klavier zu leise, lautet meine aufrichtige Antwort. "The second movement, please." Aus der Nähe wirken ihre dunklen Augen riesig.

"Too loud", ruft sie, nein, nicht das Klavier, sondern der aus meinem Recorder kommende Sound. Feines Gehör, anders als meins, das selbst bei voller Lautstärke kaum was hören kann. Sie setzt die Kopfhörer ab. "I think the problem ist the piano. It sounds a bit..." Ihr fehlt das passende Wort. "flat" werfe ich ein, "it sounds a bit to flat, like a tin can. It should have more body, more flavour." Dabei bin ich ja nicht der Soundguy. "Yes, maybe I should change the piano. They have a Steinway, but it is a new piano and therefore will be harder to play. But the sound is more full than the Yamaha." Sie sieht unentschlossen aus, vielleicht sollte ich sie jetzt auf ein Glas Wein nach dem Konzert einladen. Um sie über das dosig klingende Piano hinwegzutrösten.

Ich werfe den Testköder aus. "Can we do an interview?" "Now?" "Yes, I`d like to know a bit about your concert tour here in South America." "Not now, I have to fix the piano problem." Sie springt auf und enthuscht hinter die Bühne. Später erscheint sie in einem wallenden schwarzen Kleid auf derselben, Applaus brandet auf. Sie fegt den Rachmaninoff durch den Saal, dann eine knappe Ansage auf Englisch, sie spiele ein Stück aus Südkorea, und schon fliegen die Hände wieder wie wild. In einer langsamen Passage legt sie den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen wie im Traum. Das Publikum will sie nicht gehen lassen, ich erst recht nicht, doch sie verbeugt sich schüchtern und entschwindet.

"Sie spielt wie von einem anderen Stern", sagt der ältere Herr im Foyer. Ja, wie von einem anderen Stern, denke ich. Das Programmheft nennt sie "den neuen Superstar am Klassikhimmel, der im zarten Alter von 24 Jahren explodierte". Ich komme an einem Spiegel vorbei und erblicke mein T-Shirt. "STAFF" steht darauf geschrieben, das war mir nicht bewusst gewesen. Ob in ihren von Rachmaninoff und Beethoven okkupierten Erinnerungen wohl Platz sein wird für einen einfachen Soundguy? Schließlich hat sie gelächelt, die Göttin.



Text: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Venezuela: Cowboys im Sängerwettstreit
 
Ein Llanero sieht die Frau seines besten Freundes am Ufer des Apure bei der Morgenwäsche. Verschämt wendet er sich ab, doch aus dem Augenwinkel erspäht er einen großen Kaiman, der sich der Llanera nähert. Der Llanero befindet sich nun in einer scheinbar aussichtslosen Situation: tötet er den Kaiman, so ist er als Beobachter entlarvt – unternimmt er nichts, dann ist die Frau seines Freundes in Gefahr. Just in diesem Moment reitet ein weiterer Llanero daher. Der Gewissensgeplagte schildert diesem die Lage.



Gemeinsam beschließen sie, zu handeln und retten die Llanera. Der Gatte kommt hinzu und ist überglücklich über den Ausgang. – Soweit die beschriebene Situation in der Copla (Lied) aus den Llanos: el caimán.

Die Freude unter den Freunden ist riesig, und man trifft sich am Abend zu Tanz und Fiesta. Bei dieser wird das nachmittägliche Erlebnis wieder und wieder vorgetragen und ausgeschmückt. Das ganze Dorf feiert dann die Llanera, ihre Retter, den verständnisvollen Ehemann, die Sänger und letztendlich sich selbst.



Geselligkeit wird in den Llanos großgeschrieben. Gitarre und Sänger fehlen bei keiner Festivität. Die Texte handeln vom Alltag, den Menschen der Umgebung und dem Dorf. So beteuert etwa ein erster Sänger: Ich singe für mein Dorf, das schönste Dorf der Welt. Hier lebe ich unter Freunden. Ein Gast-Sänger erwidert: Auch ich komme aus einem wunderbaren Dorf, aber ich freue mich bei euch sein zu dürfen und über die Gastfreundschaft, die ihr mir entgegen bringt.



Bereits Reisende im 19. Jahrhundert beschreiben die rumba-llanera: Am Abend begannen die Lustbarkeiten und Singen und Tanzen fehlte nie. Die Musik war noch von Gesang begleitet, denn alle Llaneros sind eifrige Sänger, die sehr hübsche Trovas Llaneras vorzutragen verstehen, und fast alle sind geborene Improvisatoren. Kommen zwei derselben zusammen, so beginnen sie sofort einen Wettkampf und singen abwechselnd so lange, bis der Eine schweigt und dadurch den Andern als Sieger anerkennt, der nun der Löwe des Tages wird und die zärtlichsten Blicke der Damen empfängt. (Paéz, Die Landschaft am Apurestrom in Venezuela, 1864).



Man findet jedoch auch gegenteilige Meinungen unter den historischen Reiseautoren. Fixiert auf das deutsche Kulturgut, wurde die fehlende Gesangsausbildung, wie sie doch in der Heimat üblich sei, bemängelt. Und so sah sich manch Reisender durch den die Ohren beleidigenden Lärm des Gesang-Geschreis um seine all so sehr verdiente Nachtruhe betrogen.



Neben dem Gesang beschäftigte unsere Llanosreisenden aus dieser Zeit vor allem das nach christlichem Verständnis indiskutable Miteinander von Frau und Mann. So schreibt Sachs 1879:
Oft war ich erstaunt, wenn mir, in einem ziemlich respectablen Hause, der Hausherr seine "señora esposa" in aller Förmlichkeit vorstellte, und ich hinterher erfuhr, dass hier nur eine freie, mit gegenseitigem Kündigungsrecht eingegangene Vereinigung vorlag. Jeden Augenblick kann eine solche wilde Ehe gelöst werden und beide Theile "verheirathen" sich auf Neue, ohne dass man darin etwas Anstössiges findet.

Häufige Partnerwechsel waren demnach gang und gäbe, und zu der Kinderschar einer Frau gehörten immer mehrere Väter. Auf die Frage nach dem Vater ihrer Kinder antwortete eine junge Llanera den Autoren, Sachs und Páez gleichgültig: Quien sabe? (Wer weiß?)



Wenn ein Llanero oder Steppensohn das Unglück hat, Roß und Weib gleichzeitig zu verlieren, er im Stillen denkt: der Gaul thut mir weh, das Weib aber hätte der Teufel holen können.
– Und wirklich, so Sachs, hat er auch gar nicht Unrecht, wenn alle Llaneras nach dem oben geschilderten Quien-sabe-Grundsatz leben.



Für den Bekanntheitsgrad der Llanos im 19. Jahrhundert sorgten neben ausführlichen Berichten in geographischen Zeitschriften die Werke Alexander von Humboldts. "Die Reise ins Äquatorial" oder "Ansichten der Natur", die Humboldt, nach seiner fünfjährigen Reise durch Venezuela, Mexiko, Kolumbien, Ecuador und Kuba veröffentlichte, waren ein Muss auf dem bürgerlichen Lesepult.



Seit Ende der 1990er Jahren rücken die Llanos wieder mehr in den Fokus Reisender, nachdem das Gebiet für den Tourismus für nahezu ein Jahrhundert lang in Vergessenheit geraten war.

Text: Dirk Klaiber
Fotos: Casa Vieja Mérida, Venezuela

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_4] Brasilien: Literatur von der Leine

In Bezerros, Pernambuco, wo sich heiße Luft aus dem Sertão mit kalter aus den Bergen mischt, atmet sich der Wind, wie sich ein Kakao trinkt, der nur ganz kurz in der Mikrowelle war. Der arme Mensch, der noch nie einen Kakao nur ganz kurz in die Mikrowelle gestellt hat, kann mit diesem Vergleich nichts anfangen. Die anderen aber müssen jedenfalls des Windes wegen nicht mehr nach Bezerros fahren, weil sie das Gefühl ja schon kennen.

Warum dann die Reise auf sich nehmen? Der Ort ist alles andere als beschaulich, auch wenn einem die eine oder andere touristische Broschüre etwas anderes glauben machen will. Ein paar Häuser links und rechts der vielspurigen Bundesstraße, keine Bäume, kein Schatten, viel Asphalt - auch die vereinzelt zaghaft vertretene koloniale Architektur kann da nicht mehr viel rausreißen.


Aber ein zweiter Blick lohnt sich. Zum Beispiel - wenn es ein Blick ist, der absurde Momente zu schätzen weiß - auf den aus Werbungsgründen auf vier Metern Höhe zur Hälfte in der Wand einer Autowerkstatt versenkten gelben VW-Käfer. Oder aber - wenn es Kulturgeschichte ist, die er sucht - in die Werkstatt von José Borges, seines Zeichens cordelista von Rang und Namen.

Es ist kühl und schattig in dem luftigen alten Haus in den Ausläufern der Stadt, es riecht nach feuchter Farbe und trockenem Holz. Und die Werkstatt ist bevölkert mit Fabeltieren, Banditen, Teufeln, mit bauernschlauen Trotteln, dummen Politikern und sprechenden Eseln - mit Geschichten. Unter der Decke sind kreuz und quer Schnüre gespannt, an denen sie in frischen Drucken trocknen, die Wände sind mit unzähligen Druckstöcken behängt, von denen sie herunterschauen. Dazwischen sitzt ihr Vater José. Eduardo Galeano schreibt über ihn, dass er selbst wie einer seiner Holzschnitte aussieht. Das wäre natürlich irgendwie schön; ich kann das nicht wirklich bestätigen, aber der geneigte Leser kann sich das ja der Poesie halber gerne so vorstellen. José Borges ist Geschichtenerzähler und ein Vertreter eines Handwerks, von dem man vermutet, dass es sich um die Fortsetzung der Tradition der reisenden Troubadoure des feudalen Europa handelt; die literatura do cordel, die Literatur von der Leine.

In jüngeren Jahren machte José alles alleine: Er schrieb die gereimten Texte und setzte sie mühsam von Hand, aus bleiernen Buchstaben, die zusammen mit der 150-jährigen Druckerpresse vor langer Zeit aus Deutschland kamen. Er schnitzte die Holzschnitte für die Titelbilder, druckte und band seine Heftchen, schulterte ein paar Stapel und zog von Markflecken zu Markflecken, wo er seine Geschichten an Schnüren aufgereiht feilbot.


Die Poesie von der Leine erzählt die großen Mythen des Sertão in alten und neuen Variationen, kommentiert aber auch mit spitzer Zunge die Tagespolitik und nötigenfalls Fußballspiele, stets in Reimen: "Der Mann, der eine Eselin heiratete", "Die Rückkehr des Banditen Lampião übers Internet", "Bundesstaaten und Hauptstädte", "Brasil sil sil, fünffacher Weltmeister 2003" und "Der schmerzensreiche Streit des Osama Bin gegen Bush".

Der Krieg von Canudos an der Wende zum 20. Jahrhundert, in dem die brasilianische Regierung ganze Regimenter gegen den Wanderprediger Antônio Conselheiro und seine völlig verarmten Anhänger im tiefsten bahianischen Hinterland schickte und diese erst nach mehreren Anläufen erfolgreich restlos niedermetzeln konnte, war das erste große Ereignis brasilianischer Geschichte, das seinen Niederschlag in den Cordel-Heftchen fand - und zwar lang bevor diese wenig ruhmreiche Episode in den Geschichtsbüchern auftauchte.

In Zeiten, in denen Nachrichten noch nicht durch Fernseher ins Hinterland kamen und die wenigsten Menschen Zeitungen lesen konnten, boten die cordelistas, die in einem auf- und abschwellenden Singsang ihre Verse rezitierend auf den Märkten zu finden waren, eine wichtige Quelle von Informationen über das Geschehen im Lande ebensosehr wie willkommene Unterhaltung.

Heute werden sie manchmal zu renommierten Künstlern. Der inzwischen in Ehren ergraute José Borges ist unter Folklore-Forschern an Universitäten oder unter Besuchern von Volkskunst-Ausstellungen in Brasília und gar New York und Paris bekannter als unter den Bewohnern des Hinterlandes, von denen nicht wenige zwar immer noch nicht lesen können, denen aber heute Fernseher dabei helfen, über Fußballspiele und Osama Bin informiert zu sein.

Die Themen der Heftchen sind im Laufe der Zeit urbaner geworden - es ist jetzt ein eher städtisches, gebildeteres und kein besonders großes Publikum auf der Suche nach einer brasilianischen Identität, das sich für die literatura do cordel interessiert.

Mit großer Nonchalance erzählt Borges, wie man ihn in Paris mittelmäßig behandelt hat, in New York gut und in Texas am allerbesten, wie er die Amerikaner mag und die Franzosen nicht; wie der als Musiker mindestens genauso sehr wie als Kulturminister bekannte Gilberto Gil und der weltberühmte Autor Eduardo Galeano ihn zu seinen Freunden zählen. Borges erzählt immer noch gerne, mit einer Art von großväterlicher, kauziger Großspurigkeit, die man ihm gar nicht übel nehmen kann, und man möchte ihm stundenlang zuhören.

Seine Söhne - waren es sechs oder sieben? - sind ihm allesamt in seinem Handwerk gefolgt und haben erfolgreiche eigene Versionen des borgesianischen Stils entwickelt. Von Markt zu Markt wandern die Borges heute allerdings nicht mehr. Die Bilder und Heftchen, die sich in der Werkstatt stapeln, verkauft José nun vor allem an Sammler, Touristen und nicht zuletzt an halbseriöse Reiseschreiber wie mich. Die Literatur von der Leine ist eine Volkskunst geworden, für die sich das Volk nicht mehr recht interessiert.

Ob deswegen aber Wehmut angebracht ist, ist eine andere Frage. José jedenfalls fühlt sich sichtlich wohl in seiner Rolle als internationaler Botschafter brasilianischer Volkskultur und scheint den alten Zeiten nicht großartig nachzutrauern. Und Traditionen, die sich nicht verändern und an neue Zeiten anpassen, sind vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt - und mit Sicherheit weniger interessant, finde ich jedenfalls.


Wer sich nun weder des kaltwarmen Windes, noch des halben VW-Käfers, noch der hübschen kleinen Heftchen wegen auf den Weg nach Bezerros machen, aber doch einen Blick auf die Bilderwelt von José Borges werfen möchte, dem sei die Geschichtensammlung "Wandelnde Worte" von Eduardo Galeano ans Herz gelegt - ein wunderschön gemachtes Buch, das vom Meister illustriert wurde und darüber hinaus von fast so vielen Fabelwesen und Banditen, Helden und Schurken handelt, wie sie in der Werkstatt im brasilianischen Hinterland von Wand und Decke hängen.

Text: Nico Czaja
Fotos: Ronaldo Moura + Nico Czaja

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]




[kol_1] Grenzfall: Auf 3 Sofas ... in Buenos Aires
 
Reiseabenteurer Thomas Niemietz entdeckt Buenos Aires. In der argentinischen 13-Millionen-Metropole Buenos Aires lässt er sich von Carla das argentinische Tangotanzen beibringen.



Er besucht Marcin und die Familie in dessen Wochenendhütte im Urwald und spielt Hippie-Tarzan.



Und er trifft Salome: Ex-Bauchtänzerin, Hexe und angehende Politikerin. Thomas verlässt Buenos Aires dann doch nicht ohne mit Salome eines der berühmten Telos aufzusuchen.



Im TV kannst du die Buenos Aires-Folge am Dienstag, den 26. November 2013, um 21.45 Uhr auf EinsPlus sehen. Oder direkt hier und jetzt:



Weitere Infos zur Serie Auf 3 Sofas … und zu Thomas findest du unter:
http://www.einsplus.de/Auf-3-Sofas-durch

Fotos: SWR Pressestelle / Fotoredaktion
Video: Produziert von EinsPlus

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Macht Laune: Ride hard or stay home
Thomas Aders Buch "Über die Anden bis ans Ende der Welt"
 
"Das Härteste, was wir jemals gemacht haben, aber auch das Spannendste. Die größte Herausforderung, aber auch die größte Freude." So zog der Journalist Thomas Aders in seinem 42ten und letzten Blogeintrag 2010 sein persönliches Fazit einer ungewöhnlichen Reise. 8.000 Kilometer auf einem Motorrad durch halb Südamerika hatte Aders da hinter sich. – Man muss schon Ausdauer und Sitzfleisch haben, um Derartiges durchzustehen. Und dabei auch noch gefilmt zu werden. Nun, Aders hat es!



Mitte 2010 machte er sich mit seiner Filmcrew auf, das große Abenteuer zu realisieren. Normalerweise sitze er eher in seinem Büro, das damals in Rio de Janeiro lag, wo er fünf Jahre lang als ARD-Korrespondent für Südamerika tätig war, so Aders. Doch gerne tauschte er den bequemen Ledersessel im schönen Rio für sieben anstrengende Wochen mit dem Sitz eines Motorrads.

Von Peru über Bolivien und durch Chile bis hinab nach Feuerland filmte seine Crew ihn und seine Abenteuer auf der zermürbenden Strecke. Allerlei Hindernisse türmenten sich vor der Crew auf, manches ging schief, einiges kaputt wie eine der Filmkameras. Doch beharrlich kämpfte man sich gegen Süden, Richtung Ende der Welt.

Ende 2010 konnten die deutschen Fernsehzuschauer Aders Erlebnisse in dem 45-Minüter "Über die Anden bis ans Ende der Welt" erstmals bewundern. Wenig später hatte dann auch die 90-minütige Langfassung ihre Premiere. Seitdem läuft die Doku über diese ungewöhnliche Reise immer wieder über die Bildschirme.

Über die Anden bis ans Ende der Welt
Thomas Aders
Taschenbuch: 312 Seiten
Dumont Reiseverlag; Auflage: 1 (15. Oktober 2013)
ISBN-10: 3770182545
ISBN-13: 978-3770182541

Nun ist endlich auch Aders Reisebericht in Buchform erschienen. Als Basis diente dabei der Reiseblog, den man einst über die 42 langen Tage pflegte. Doch das 300 Seiten starke Buch zum Abenteuer bietet mehr: Aders lässt sich und seiner Crew bei der technisch komplizierten Realisierung des Drehs gerne in die Karten schauen. Gleichzeitig präsentiert er ein an spannenden und bewegenden Geschichten reiches Südamerika.

Und so heißt es: Strecke machen, Kilometer fressen, in die Kurven legen, sich Todesstraßen hinab stürzen und nachts im Schlafsack bloss nicht erfrieren. All das mit dem einen Ziel: das unbekannte Amerika entdecken. Dass sich Aders dabei durch Che Guevaras Motorradtour durch den Kontinent hat inspirieren lassen, daraus macht er übrigens kein Geheimnis.

Text: Thomas Milz
Fotos: Thomas Aders

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_3] Erlesen: Verdammt, Méndez. Verdammt, Lübbe.
Die Rache der Träumerin / Gott wartet an der nächsten Ecke
 
Ich bring dich um, raunte ihm im Hinterzimmer einer Kneipe ein wohlverdienter Bürger zu, der auf den Namen Chinga hörte. "Du hast meine Frau entkommen lassen. Sie will mich erledigen, aber vorher mach ich dich kalt, das schwöre ich dir."
"Du schuldest mir zehntausend Peseten, Méndez", informierte ihn kurz darauf seine Zimmerwirtin. "Sie haben gestern das Geld für das Zeitungsabo kassiert."
"Sie müssen mir meine Pistole wiederbeschaffen, Méndez", verlangte an einer Ecke einer seiner bewährtesten Informanten. "Man hat sie mir gestern gestohlen."
"Ach ja? Und wo hattest du sie?"
"Wo ich sie immer habe. Im Hosenbund. Der hatte ein geschicktes Händchen."
"Weißt du, wer es war?"
"Klar."
"Wer?"
"El manco, der Einarmige."
"Und du hast wirklich nichts gemerkt?"
"Na ja, gemerkt hab ich schon was. Aber eben nur was."
"Was denn?"
"Ich hab gedacht, der tut das aus Freundlichkeit."
"Ich werde tun, was ich kann", versprach Méndez. "Aber es hängt davon ab, wo er sich versteckt hat. Es gibt Stellen, da stecke ich meine Hand nicht hin."
"Natürlich ... Früher waren Sie nicht so zimperlich, Méndez. Mann kann sich auf niemanden mehr verlassen."


Die Rache der Träumerin
Autor: Francisco González Ledesma
Taschenbuch: 304 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (November 2011)
ISBN-13: 978-3431038507

Gott wartet an der nächsten Ecke
Autor: Francisco González Ledesma
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (Juli 2012)
ISBN-13: 978-3404166862


Der Tod wohnt nebenan, unter dem Originaltitel Una novela de barrio im Jahr 2007 erschienen, ist der erste auf deutsch publizierte Méndez-Roman des Autors Francisco González Ledesma. Es folgten Die Rache der Träumerin (La dama de Cachemira, 1986) und Gott wartet an der nächsten Ecke (Historia de Dios en una esquina, 1991). Eine Chronologie allerdings ist in der Vorgehensweise des Verlags Bastei Lübbe nicht auszumachen. Vor allem wenn man die gesamte, zehn Titel umfassende, Inspector Méndez-Reihe mit einbezieht, scheint uns der Verlag kreuz und quer durch die Original-Erscheinungsjahre mit weiterem Barcelona-Kriminalstoff auf deutsch versorgen zu wollen. Denn auch in den Jahren zwischen den drei bereits übersetzten Werken, hatte Ledesma für spanischsprachige Leserinnen und Leser Inspector-Méndez-Krimis publiziert.

Als Méndez vorübergegangen war, blickte sie auf die Uhr. [...] Es war eine weise Uhr, die typische Uhr des verstorbenen Großvaters. Die phosphoreszierenden Zeiger zeigten zwanzig vor drei in der Früh an, am Tag zuvor hatten sie fünf nach zwei angezeigt, als Méndez an dieser Stelle vorübergegangen war. Dieser unmögliche Rhythmus machte es unmöglich Méndez eine Falle zu stellen, und bestätigte zudem seine alte Theorie, dass ein unordentlicher chaotischer Mensch, der keine festen Gewohnheiten hat, geschweige denn eine Ehefrau, hundert Jahre alt wird. Die Gestalt im Rollstuhl erhob sich, steckte die Uhr ein, spähte in die Dunkelheit und trat den Rückzug an.

Méndez kennt sie alle, all die, die zu nachtschwärmerischer Zeit in den Bars von Raval und Poble Sec verkehren, die Prostituierten, die Zuhälter, die Ganoven. Steht ihm sein Vorgesetzter auf den Füßen, nimmt er ein paar von ihnen hoch. Ein berufliches Erfolgserlebnis für die Akten. Ansonsten schützt er sie, meist vor dem Gesetzt. Verdammt, Lübbe! Gut gemacht! Ein dermaßen erlesener Schauplatz, ein dermaßen unschlagbarer Kenner des Subversiven, ein unglaublich sympathischer Kriminaler mit einer nicht genehmigten Dienstwaffe und der körperlichen Fitness eines in die Jahre gekommenen Unsportlichen. Verdammt großes Lob, dass du diesen Inspector Méndez ins Deutsche geholt hast.

Trotzdem übersteigt es meinen begrenzten Horizont, warum bis 2011 kein anderer Verlag auf die Idee gekommen war, das brillante Werk Francisco González Ledesmas zu übersetzen und auf dem deutschen Markt feilzubieten. Doch auch Bastei Lübbe macht Fehler.

Die Casta war eine in Ehren ergraute Veteranin, eine verdiente Anwärterin auf die Arbeitsmedaille, die das mit der Metallgewerkschaft in den ersten Berufsjahren tatsächlich noch erlebt hatte; das war 1936 eine Idee der Kommunisten in Barcelona gewesen, um den Genossinnen Huren gebührende soziale Anerkennung in der Arbeitswelt zu verschaffen. Weil damals jeder zu einer Gewerkschaft gehören musste und man damals nicht so genau wusste, in welche man die Damen stecken sollte, fiel die Wahl nach reichlicher Überlegung auf die Metallgewerkschaft, denn der Arbeitsplatz der Genossinnen hatte doch schließlich eng mit der Sprungfedermatratze zu tun. Und so blieb es bis zum endgültigen Sieg der glorreichen Erhebung, deren Name den ehrenwerten Damen vom Fach ebenfalls eine Zuflucht hätte bieten können – aber das war allein Méndez’ Meinung.

Der Méndez-Roman: Gott wartet an der nächsten Ecke
Méndez entdeckt als er einem Verbrecher in Richtung Friedhof hinterher jagt ein totes Mädchen. Zunächst scheint es, als habe ein alter Bekannter auf Freigang damit zu tun. Dann aber führt ein Überwachungsjob den Inspector nach Madrid und er lernt sowohl die faszinierende blinde Mutter des getöteten Mädchens als auch deren beider Väter kennen. Die Geschichte der Familie ist herzzerreißend, doch der Zwist zwischen Auftragskillern und erneute Geldforderungen an die gebeutelte Mutter unter Androhung, dass auch ihr zweites Kind dran glauben müsse, verlagert die Szenerie nach Ägypten. Schließlich kommt es in Kairo auf dem Friedhof "Stadt der Toten" zum Showdown zwischen Gut und Böse.

Der Méndez-Roman: Die Rache der Träumerin
Méndez jagt den Mörder im Rollstuhl, auch wenn er mit dem Fall weder beauftragt noch seine Anwesenheit bei der Aufklärung erwünscht ist. Méndez nimmt uns mit auf die Jagd. Und weil er damals schon nicht mehr der Schnellste ist, lernen wir an seiner Seite die Menschen der Mitte der 80er Jahre noch verruchten Viertel Barcelonas kennen. Neben den Genossinnen Huren, Kleinkriminellen, Wirtinnen und Hoteliers auch die langweiligen Menschen: die vom homosexuellen Ehemann verratene Ehefrau, den vom Tod des Homosexuellen erschütternden Freund, die vom widerlichen Baulöwen unter Druck gesetzte Altbackene, die vom widerlichen Baulöwen um ihr Leben Gebrachte und die Tagträumer.

Geschickt sprang Méndez mit sechs Hüpfern die fünf Stufen hinauf. Er war heute Morgen gut in Form, und so erreichte er ohne künstliche Beatmung die Eingangshalle.
Er sah sich um.
Nichts.
Nur etwas eingetrocknetes Blut an einem Möbelstück.
Eine umgestürzte Lampe, ein offenes Fenster.
Das schien schon seit Stunden so zu sein.
Méndez stieß einen Fluch aus.
Er sah hinaus in den leeren Garten.
Das Fenster befand sich auf der Höhe eines Zwischengeschosses, und Méndez wollte hinunterspringen, in der Hoffnung, einem möglichen Flüchtling auf diese Weise den Weg abschneiden zu können.
"Ich bin ein dynamischer Polizist", sprach er sich Mut zu.
Er schwang ein Bein über die Fensterbank und bekam einen Krampf.

Der Fehler
Zwei Werke, eine Übersetzerin. Eines phänomenal in die deutsche Sprache übertragen mit all dem anrüchigen Wortwitz, der Poesie der Straße, der Unterwelt und der in die Jahre gekommenen Dirnen. – Eines nüchtern, langweilig und ohne Muse dahin geschmiert. Schwierig, den oder die Schuldige auszumachen. Aber irgendetwas war oder ist da im Busch. Sehr schade. Ich hoffe, dass Bastei Lübbes Lust auf mehr von Francisco González Ledesma nicht erlahmt ist. Denn in 2013 wurde bislang kein weiterer Inspector-Méndez-Fall herausgegeben.

Die Empfehlung
Liebe Kinder! Ihr sucht ein Weihnachtsgeschenk für Mami, Papi, Onkel und Tanten. Auf dem Nachtisch liegen Henry Miller, Manuel Vázquez Montealbán, Charles Bukowski und Rolo Diez, dann ab in die nächste Krimi-Buchhandlung und folgende zwei Werke ordern: Der Tod wohnt nebenan und Die Rache der Träumerin. Und lasst euch auf keinen Fall von Gott wartet an der nächsten Ecke verführen.

* Alle Zitate stammen aus Die Rache der Träumerin
* Weitere Infos zu Der Tod wohnt nebenan

Text: Maria Josefa Hausmeister
Foto: amazon

[druckversion ed 11/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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