ed 10/2015 : caiman.de

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panama: Ach, wie eng war Panama!
Ein Kanal wird ausgebaut (Teil 2)
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Abenteuer im Zeichen der Muschel
Unterwegs auf der Vía de la Plata
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
mexiko: Tequila-Jazz
Im Interview mit der mexikanischen Band Troker
TORSTEN EßER
[art. 3]
uruguay: El Paisito – das warme Herz Lateinamerikas (Teil 1)
Ciudad Vieja – die Altstadt atmet Geschichte
LARS BORCHERT
[art. 4]
grenzfall: Tödliche Exporte. Wie das G36 nach Mexiko kam.
Bundesregierung genehmigte Waffen für Mexiko
SWR
[kol_1]
hopfiges: Marina Summer Ale
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 2]
traubiges: Mondlicht nach dem Sturm
Narbona Tannat‚ Luz de Luna’ 2011
LARS BORCHERT
[kol. 3]
pancho: Buenos Aires
Ein kulinarischer Streifzug im Zeichen des Teiges
ANDREAS DAUERER
[kol. 4]





[art_1] Panama: Ach, wie eng war Panama!
Ein Kanal wird ausgebaut (Teil 2) (Teil 1)
 
Der Panamakanal ist neben dem Suezkanal in Ägypten die wichtigste künstliche Wasserstraße der Welt. Den Schiffen erspart er auf  ihrer Reise vom Pazifik in den Atlantik den Umweg rund um Südamerika – rund 15.000 Kilometer. Als der Ausbau des Kanals in Angriff genommen wurde, war zunächst überlegt worden, weitere Flächen zu fluten, um das Wasserreservoir zu vergrößern. Man entschied sich jedoch für eine andere Lösung.

Die Idee ist die Schaffung von Wassersparbecken, die in der Trockenzeit die Schleusenkammern füllen sollen. Darin wird das Wasser für den nächsten Schleusengang zwischengespeichert. Neben den schon ziemlich weit gediehenen Schleusenkammern sind die ersten Ansätze einer weiteren Aushebung zu erkennen. Hier entstehen die Wassersparbecken. Jede der drei hintereinander geschalteten Schleusenkammern ist mit je drei seitlichen Wassersparbecken verbunden. Statt ins Meer fließt das Wasser bei einem Schleusengang in niedriger gelegene Sparbecken und kann dann für den nächsten Schleusengang wieder genutzt werden, indem es in das nächst niedrige Schleusenbecken geleitet wird. Statt also alle drei Schleusenkammern mit immer neuem Wasser aus dem Gatunsee zu füllen, wird ein und dasselbe Wasser in allen drei Schleusenbecken verwendet. All diese verschiedenen Becken müssen mit riesigen Rohren miteinander verbunden werden.

"In der Standardschleuse hat man nur Verschlüsse in Längskanälen, die unterirdisch entlang der Schleusenachse laufen. Bei uns dagegen gibt es zusätzlich noch Kanalverbindungen quer auf der Schleuse, die in Richtung Sparbecken gehen. Das bedeutet, dass es sich insgesamt um eine recht komplexe Schleuse handelt." Der Ingenieur Hendrik Perdijk ist Niederländer und arbeitet für die deutsche Firma BoschRexroth. Wassersparbecken an Schleusenanlagen sind keine neue Erfindung, sie werden schon seit einigen Jahren gebaut. Doch in dieser Größe und Komplexität sind sie nie zuvor konstruiert worden. Insgesamt werden 158 Verschlüsse in jeder Schleusenanlage verbaut. "Diese Verschlüsse sind vier bis sechs Meter groß. Sie werden angetrieben durch die Hydraulikzylinder und Aggregate", erklärt der Niederländer. Und genau diese Steuerungstechnik liefern die Deutschen. Das System muss absolut zuverlässig funktionieren – denn sollte man alle Verschlüsse gleichzeitig öffnen, läuft der Gatunsee leer. Und die Steuerung muss präzise kontrolliert ablaufen. Strömt das Wasser zu schnell in die Kammern, wirken derart große Kräfte auf das Schiff, dass es durchaus zu Unfällen kommen kann. "Unabhängig von Wasserspiegel und Kräften und so weiter können wir immer eine bestimmte Geschwindigkeit realisieren. Da wird über automatisierte Programme ein optimales Programm zusammengestellt, über die Steuerung, um die Schiffe unter beherrschten Kräften so schnell wie möglich von dem Gatunsee in den Ozean zu schleusen oder umgekehrt."

Sowohl am Atlantik als auch am Pazifik wird mit Hilfe der Becken der Wasserverbrauch der großen Schleusen anhand der neuen Technik um 60 Prozent reduziert. Aber die Becken sind riesig – sie werden trotzdem noch beinahe so viel Wasser wie die bisherigen Schleusen verbrauchen. Wenn  alle Schleusen ausgelastet sind – und darauf hofft man in Panama – wird der Wasserverbrauch des Kanals um fast ein Drittel steigen. Ob der Kanal wirklich ohne einen weiteren Stausee auskommen wird, das muss sich erst noch zeigen.

Als vor über 100 Jahren der Gatunsee aufgestaut wurde, entstanden eine ganze Reihe Inseln. Eine dieser ehemaligen Bergspitzen wurde 1923 zu einer Art Mekka für Wissenschaftler: Die fast vollständig Natur belassene Insel Barro Colorado. "Als der Kanal gebaut wurde, sah der damalige Gouverneur die Notwendigkeit, für zukünftige Generationen einen Platz zum Forschen zu schaffen. So wurde diese Insel zu einem geschützten Gebiet erklärt, um sich auf ihr der Wissenschaft zu widmen", berichtet Oris Acevedo. Sie ist die wissenschaftliche Direktorin der Forschungsinsel Barro Colorado (BCI). Unter ihrer Leitung forschen Wissenschaftler aus aller Welt über Fledermäuse, Bäume, Pilze, Frösche und Insekten. Es dürfte kaum einen Flecken Erde geben, der besser erforscht wurde. "Was BCI so interessant macht, ist die Fülle an Informationen, die hier gewonnen wurden und noch werden. Wir sprechen von rund 4000 Experimenten bzw. 4000 Studien, die hier durchgeführt wurden."

BCI gehört zum Smithsonian Tropical Research Institute, das Wissenschaftlern die Infrastruktur bietet, die sie für ihre Forschungen benötigen. Sie müssen nicht in Hängematten schlafen und in Feldküchen kochen, keine Mikroskope oder Tiefkühlschränke zur Probenaufbewahrung mitschleppen, sondern können sich ganz auf ihre Arbeit konzentrieren.

Eine dieser Wissenschaftlerinnen ist die Kanadierin Diana Sharpe. Die 26jährige Doktorandin wirft den Motor des kleinen Bootes an und fährt raus auf den See. Draußen legt sie eines ihrer Netze bereit. "Jetzt schauen wir mal: Hier haben wir einen Mohara, das ist ein Meeresfisch, der auch Brackwasser und Süßwasser toleriert. Dieser hier kommt aus dem Atlantik. Es gibt verschiedene Arten, sowohl aus dem Atlantik als auch aus dem Pazifik. Die müssen durch die Schleusen durchgekommen sein, denn wir finden sie hier im Gatunsee." Eigentlich beschäftigt sich Diana Sharpe mit der Frage, wie Fischarten aus Südamerika, die im Kanal ausgesetzt wurden, die einheimischen Fischbestände beeinflussen. Doch sie fängt auch regelmäßig Meeresfische. Eine große Zählung im Jahr 2004 ergab, dass es über 100 Meeresfischarten im Gatunsee gibt. Schaffen es die Arten womöglich auch bis in den anderen Ozean? "Einige meiner Kollegen haben dazu geforscht. Nicht anhand der Fischbestände, sondern anhand anderer Meeresorganismen. Und sie haben viele Beispiele dafür gefunden, dass Arten von einem Ozean in den anderen wandern. Der Panamakanal ist ein riesiger Korridor für invasive Arten."

Lange dachte man, dass die dreistufigen Schleusen und das Süßwasser eine solche Invasion unmöglich machen würden. Doch um eine fremde Art "einzuschleppen", reicht es, wenn Fischeier oder Larven bei der Schleusung mitgeschwemmt werden. Doch welche Folgen haben die invasiven Arten auf das ursprüngliche Ökosystem? Diana Sharpe untersucht den aus dem Amazonas stammenden und zur Sportfischerei im Kanal ausgesetzten Pfauenbarsch, der die einheimischen Arten stark dezimiert hat. "Wir schauen uns den Mageninhalt des Pfauenbarsches an und sehen, dass er sich stark von Meeresfischen ernährt. Das ist eine interessante Situation, denn womöglich nehmen die Meeresfische den Druck von den einheimischen Fischen. Das Zusammenspiel kann also sehr komplex sein." Wenn fremde Arten in ein Ökosystem eingeschleppt werden, muss das nicht notwendigerweise schlimme Folgen haben. Oft genug können sich die Invasoren nicht an die neue Umgebung anpassen oder aber sie leben friedlich neben den einheimischen Arten. Doch Lider Sucre vom Museum für Biodiversität in Panama Stadt macht sich Sorgen: Es gibt im Pazifik eine ganze Reihe aggressiver Arten und bei Experimenten in Aquarien zeigte sich, dass diese in der Karibik sehr wohl Verheerungen anrichten können. "Im Pazifik lebt eine Meeresschlange, die es in der Karibik nicht gibt. Das ist eine sehr giftige Schlange. Simuliert man in einem Aquarium ihre natürliche Umgebung (Pazifik), fällt auf, dass sich die sie umgebenden Fische der Gefahr bewusst sind. Sie haben entsprechende Abwehrmechanismen entwickelt. In einer karibischen Umgebung, ist dies nicht der Fall. Es kommt zu einer drastischen Abnahme der Fischbestände und einer explosionsartigen Vermehrung der Meeresschlangen." Und: Massen giftiger Meeresschlangen an Karibikstränden – das ist eine Version wie aus einem Horrorfilm. Lider Sucre ist sich sicher, dass sich dieses und andere Szenarien längst abgespielt hätten, wenn der Kanal auf Meeresniveau und damit ohne Schleusen gebaut worden wäre. Doch trotz der Schleusen und des Süßwassers gab es Ende der 1970er Jahre bereits eine Invasion, die schwere Folgen für das Ökosystem hatte: "Viele Fische, die Algen fressen, waren überfischt worden und da der Seeigel kaum gegessen wird, war er der letzte Algenfresser, der in den Korallenriffen übrig geblieben war. Er hatte also eine sehr wichtige Funktion. 1978 grassierte eine entsetzliche Krankheit, ausgelöst von einer pazifischen Mikrobe, die auf unbekanntem Weg herübergekommen war und die Seeigel befiel – sie waren dagegen nicht resistent. 95 Prozent der Seeigelpopulation fiel diesen Mikroben zum Opfer. Begonnen hatte es in Panama – und breitete sich dann über die ganze Karibik aus," erzählt Sucre.

Es wurde nie geklärt, wie genau die Mikrobe durch den Kanal kam, vermutlich wurde sie im Ballastwasser mitgeschleppt. Nach und nach entwickelten die überlebenden Seeigel Resistenzen – aber es dauerte 20 Jahre, bis sich ihr Bestand erholt hatte. "Aber in der Zwischenzeit entwickelten sich auf vielen Korallenbänken Algen und noch mehr Algen und überwucherten die Riffe. Eine einzige Mikrobe, die ausgerechnet eine Art angriff, die eine Schlüsselposition innehatte, brachte also das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht."

Dass der Kanal –und derzeit besonders sein Ausbau – eine ganze Reihe ökologischer Probleme mit sich bringt, dass streitet in Panama niemand ab. Doch der Kanal ist als die wichtigste Devisenquelle, viel zu wichtig für das Land, als dass irgendwer ernsthaft gegen den Ausbau wäre. Im Gegenteil: Als die Amerikaner den Kanal Ende 1999 an Panama zurückgaben, entschieden sich in einem Referendum 78 Prozent der Bevölkerung für den Ausbau. Und man will alles richtig machen und selbst die Umweltschutzorganisationen des Landes  sind sich einig, dass er so schonend wie möglich vonstatten geht. Außerdem stünde Panama in Sachen Umweltschutz ohne den Kanal wohl wesentlich schlechter da, denn er bringt sehr viel Geld ins Land und ein Teil davon fließt in die Schaffung und den Erhalt von Naturschutzgebieten.

Das Containerschiff Rupanco mit Heimathafen Monrovia im afrikanischen Liberia verlässt die letzte Schleuse auf der pazifischen Seite und macht sich auf den Weg Richtung Karibik. Der rostige Pott stößt tiefschwarze Dieselrauchwolken aus. Der Umweltschützer Lider Sucre sieht darin ein Problem, dem viel zu wenig Beachtung geschenkt wird: "Die Luft müsste in Panama sauberer sein, aber sie ist es nicht. Wir haben keine Industrie, aber wir haben Schiffe. Und diese Schiffe gehören zu den schlimmsten Umweltverschmutzern. Mit dem Ausbau verdoppelt sich die Fracht, die durch den Kanal transportiert wird und es werden sehr viel größere Schiffe sein, die hier durchkommen. Ich sorge mich, was das für unsere Luft bedeuten mag." Das ist eine Frage, zu der es bislang keine einzige Studie gibt – weder zu dem bestehenden, noch zu dem zukünftigen Schiffsverkehr. Doch sie ist wichtig, denn mit der geplanten Eröffnung der neuen Schleusen ist der Kanalausbau nur vorübergehend abgeschlossen. Die noch nicht einmal fertig gestellte Anlage ist jetzt schon für viele der neueren Schiffe zu klein. Pläne für die nächste Großbaustelle liegen bereits in der Schublade.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

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[art_2] Spanien: Abenteuer im Zeichen der Muschel
Unterwegs auf der Vía de la Plata
 
6. Juni 2015. Diese Route, genannt Vía de la Plata, ist bei weitem nicht so populär wie der so genannte Camino Francés, der Haupt-Jakobsweg, der im Norden Spaniens von den Pyrenäendörfchen Roncesvalles oder Somport über Burgos und León nach Santiago de Compostela verläuft. Aber das Abenteuer, das an der im Boden eingravierten Muschel vor dem Südportal der Kathedrale von Sevilla beginnt, ist mit fast 1000 Kilometern immerhin der längste aller Jakobswege.

Wie fast alle, die sich an diesen entbehrungsreichen Pfad tief im Westen Spaniens, der durch immense Einsamkeiten führt, heran trauen, hatte auch ich den Camino Francés zuvor absolviert. Es sollte mir wenig nützen, denn die Vía de la Plata, die durch die Extremadura (Nomen est Omen!) führt, ist ein ganz anderes Kaliber von Pilgerweg. Der Start in der schönsten Stadt der Welt, dem besonders im heißen Juni vor Lebensfreude überquellenden Sevilla, war jedoch beschwingt und euphorisch. Denn mein Sevillaner Freundeskreis hielt sein Versprechen, mich während der ganzen ersten Tagesetappe (22 Kilometer) bis Guillena zu begleiten. Dazu gehören mein Flamenco-Lehrer Manuel, der Energieriegel-Spezialist Antonio, die in Sevilla studierende Italienerin Silvia, die Sängerin Carmen, die es sich nicht nehmen lässt, eine aztekische Trommel zur rhythmischen Begleitung ihres Gesangs mitzunehmen (sie hatte schon immer einen extravaganten Geschmack) und Angélica, die allerdings im Auto nach Guillena fahren wird, um "schon mal ein Restaurant zu reservieren" und die Truppe wieder zurück nach Sevilla zu kutschieren.

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Um 6:00 Uhr kurz vor Sonnenaufgang näherten wir uns mit unseren Muschel geschmückten Rucksäcken der Kathedrale von Sevilla. Und um 6.20 Uhr formten unsere Hände einen Kreis um die Jakobsmuschel auf der Bodenplatte vor dem Bethlehem-Portal an der Südwestecke der riesigen Kathedrale (Puerta del Nacimiento), auch Puerta de San Miguel genannt. Und hier singen wir das erste Lied aus dem von Carmen zusammen gestellten Musikprogramm. Dies ist streng genommen kein Pilgerlied, sondern ein deutsches Weihnachtslied: "Es ist ein Ros entsprungen." Damit erregen wir bei den müde über die Avenida flanierenden heimkehrenden Nachtschwärmern einiges Aufsehen und ernten neugierige, aber auch verständnislose Blicke.

Dann geht es endlich los. Wir überqueren die alte Brücke nach Triana während die Sonne hinter unserem Rücken aufgeht. In der Calle Castilla in Triana fällt ein letzter Blick auf einen schattigen Patio – da ahnte ich noch nicht, wie sehr ich die kleinste Andeutung eines Schattens während der nächsten drei Wochen vermissen würde. Am Ortsausgang von Sevilla posieren wir vor einem Graffito-Gemälde, das über dem Wappen Sevillas (No8Do) die Fassade der Kathedrale von Santiago zeigt und rechts daneben das Pilgermotto "Buen Camino!" und die gelbe Jakobsmuschel als aufgehende Sonne präsentiert.

Nach einer kurzen Durchquerung des Weltausstellungsgeländes von 1992 haben wir Sevilla erstaunlich schnell hinter uns gelassen und befinden uns mitten in der ursprünglichen Ufervegetation des Guadalquivir, umgeben von übermannshohem Schilf und Oleandergebüsch. Noch hält die Sonne ihre Gluthitze zurück, aber ab 11:00 Uhr wird die Temperatur jede Stunde um 5 Grad steigen, bis die 40° Grad Marke erreicht oder übertroffen wird. Doch vor der großen Hitze legen wir die erste Pilgerpause an einem besonders sakralen Ort ein.

Der Klosterkomplex von San Isidoro del Campo erwartet alle Besucher mit grandiosen Kunstschätzen. Von außen präsentiert sich der gotisch-mudejare Bau eher schlicht. Sobald man aber San Isidoro del Campo von innen erkundet, kann einem schwindelig werden von so unerwartet vielen erstrangigen Kunstwerken auf engstem Raum. Es ist ein Skandal, dass dieses ehemalige Kloster in einem Dorf vor den Toren Sevillas noch nicht offiziell zum Weltkulturerbe zählt. Für uns allerdings ist es ein Glücksfall, dass diese Sehenswürdigkeit von Touristen und sogar von Pilgern so wenig beachtet wird. Denn wir erleben den Luxus, ganz allein (!) durch dieses Labyrinth voller unentdeckter Schätze wandeln zu dürfen. Besonders Antonio wirkt sehr ergriffen, denn er ist zum ersten Mal hier. Wir verweilen im Kreuzgang vor dem rätselhaften Labyrinth, in dessen Zentrum ein achtstrahliger Stern prangt, der ein vierblättriges Kleeblatt umschließt und diskutieren über seine Bedeutung. Amüsiert betrachten wir danach die Engelsköpfe der Deckenfresken und die Taube des Heiligen Geistes, die sich wie eine Rakete auf uns zu stürzen scheint.

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Nebenan in der Sakristei beschließt Carmen, dass hier ein würdiger Ort sei, unser zweites Pilgerlied zu intonieren. Wir nehmen Aufstellung vor dem Altargemälde der Virgen de la Antigua und singen "Cuncti simus concanentes – Ave María". Das heißt wir anderen halten uns vornehm zurück beim Singen, damit Carmens schöne Stimme möglichst ungestört diese heilige Halle erfüllen kann.

Manuel legt einen unterwegs gesammelten Strauß Feldblumen als Opfergabe vor der Madonna nieder und als wir vom Textblatt des Pilgerliedes wieder aufblicken, haben alle Tränen in den Augen, die sakrale Atmosphäre des Klosters, gepaart mit Carmens Gesang, hat ihre Wirkung nicht verfehlt.

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Das Beste haben wir uns für den Schluss aufgehoben: den grandiosen Hochaltar von Juan Martínez Montañés, geschaffen zwischen 1609 und 1612 am Übergang von Renaissance zum Barock. Im Vertrag stand ausdrücklich, dass jede Skulptur vom Meister selbst geschaffen werden musste, ohne Mitwirkung von Assistenten. Nach langen Diskussionen tendieren die meisten Kunsthistoriker nun dazu, ihn nicht als letzten Renaissance-Altar, sondern eher als ersten Barockaltar Spaniens zu klassifizieren. Aufgrund der Harmonie seiner Proportionen und der Ausdruckskraft seiner Figuren gilt er als einer der wichtigsten Hochaltäre Europas. Wie ein goldenes Gebirge ragt er empor. Im Zentrum kniet der heilige Hieronymus als halbnackter Büßer mit rötlich schimmernder Haut, von ganz oben grüßen die mit edlen Gesichtszügen die Jungfrau Maria und die christlichen Tugenden Gerechtigkeit, Klugheit, Kraft und Mäßigung.

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Von Mäßigung kann bei den Temperaturen keine Rede mehr sein, Als wir die kühlen Kirchenhallen verlassen, laufen wir draußen gegen eine glühende Wand – und haben noch mehr als die Hälfte des Weges vor uns. Langsam schleppen wir uns schwitzend zum Ortsausgang und sehen dabei offenbar nicht sehr motiviert aus. Denn aus dem letzten Straßencafé von Santiponce gegenüber der Römerstadt Itálica tritt plötzlich ein schon leicht beschwipster Rentner hervor, der sich selbst als Philosoph des Dorfes bezeichnet, "Ánimo!", brüllt er uns zu, und ehe wir uns wehren können, hält er uns großzügig fünf gefüllte Bierkrüge zur Übernahme hin. Da greifen wir natürlich zu und vorübergehend beschleunigt sich unser Tempo, um uns kurz danach in sonnenglühende Lethargie verfallen zu lassen. Vor uns liegt jetzt eine gnadenlose Etappe, die aussieht, als würden wir uns nicht in der Provinz Sevilla, sondern schon mitten in der kastilischen Steppe befinden: eine baumlose Einöde erstreckt sich bis zum Horizont. Sehr entmutigend. Die Sonne ist so grell, dass auch die dunkelsten Sonnenbrillen nichts mehr helfen, das Wasser in unseren Plastikflaschen nähert sich der 60° Grad Marke. Erfrischung schmeckt anders! Wie komatöse Schnecken kriechen wir den staubigen Endlospfad entlang.

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Da schlägt Antonios große Stunde. Er verteilt Energieriegel auf Fruchtbasis "ganz neu, erst seit ein paar Wochen auf dem Markt, anders als alle, die ihr schon kennt!", preist er seine Entdeckung an. Ich halte dagegen mit meiner "Energiebombe" aus dem REWE, einem köstlichen marzipanigen Riegel, dessen Konsistenz durch die Hitze allerdings zu einer halbflüssigen Matsche verkommen ist. Wir bilden uns ein, dass die Riegel uns wirklich einen Energieschub liefern und erreichen den einzigen Schatten zwischen Santiponce und Guillena, ein kleines Wäldchen, wo wir uns vor dem Endspurt eine Viertelstunde ausruhen.

Die letzten drei Kilometer verlangen uns nochmal alles ab. Erneut führt der Weg durch baumlose Steppe und vorbei an Kakteen voller Spinnennetze. Der letzte Schluck heißes Wasser ist längst getrunken, als wir endlich die ersten weißen Häuserzeilen von Guillena erreichen – pünktlich zur Mittagessenszeit um 15:00 Uhr. Da klingelt Carmens Handy und unsere Freundin Angélica dirigiert uns zum Restaurant "El Poli", wo wir das wohlverdiente und sehr reichhaltige Mittagsmahl einnehmen. Das Gelage dauert Stunden und danach wäre ein Weiterwandern unmöglich gewesen.

Wir entledigen uns unserer Wanderschuhe und strecken unsere gequälten Füße unter dem Tisch aus. Angélica zückt ihren Fächer gegen die Hitze und fächelt sich mit solch eleganter Grandeza Luft zu, wie sie nur von Sevillanerinnen beherrscht wird.

Nach dem Abklingen der Siesta am frühen Abend postieren wir uns vor der leider geschlossenen Dorfkirche und intonieren das letzte Pilgerlied aus Carmens Mittelalter-Repertoire.

Diese erste Etappe von 22 Kilometern sollte eine der kürzesten bleiben und auf jeden Fall die emotionalste. Denn alle haben ihren Teil beigetragen zu diesem schönen ersten Tag: Manuel die Blumen für die Madonna in Santiponce, Carmen die Pilgerlieder und den wunderbaren Gesang, Angélica die Organisation fürs leibliche Wohl und den Rücktransport der Sevillaner, Antonio die Energieriegel, die uns über die anstrengende Etappe hinweg halfen und Silvia die Aloe Vera Salbe. Und wir waren bisher mit Sicherheit die einzige Pilgergruppe auf dem Weg nach Santiago, die zum Rhythmus einer aztekischen Trommel marschierte.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Reiseführer
Natürlich Cordula Rabe: "Vía de la Plata", Reihe Rother Wanderführer, München 2011
und Raimund Joos: "Spanien: Jakobsweg - Vía de la Plata", Conrad Stein Verlag, Welver 2014

www.sevilla.es

Kirchen
Die wichtigsten Kirchen Sevillas aufzuzählen, würde den Rahmen jedes Artikels sprengen. Neben der grandiosen Kathedrale von Sevilla (in der für Jakobspilger natürlich besonders die Santiago-Kapelle im linken Seitenschiff wichtig ist), sind die bedeutendsten Pilgerkirchen Sevillas: Iglesia del Salvador (Capilla de Jesús de la Pasión), Basilica del Gran Poder, Basilica de la Esperanza Macarena, Iglesia de San Antonio Abad, Capilla de los Marineros (Esperanza de Triana), Capilla del Patrocinio (Cristo de la Expiración).

Kirche in Santiponce:
Kloster San Isidoro del Campo: erbaut in der in Andalusien üblichen Mischung aus Gotik und Mudéjarstil, im Innern trotz vieler Verluste eine Fülle großartiger Kunstwerke: Fresken wie das gigantische Abendmahlsbild im Refektorium, die Engelsscharen der Deckenfresken oder das verschlungene Labyrinth im Kreuzgang, alles wird überstrahlt durch das frühbarocke Meisterwerk des genialen Martínez Montañés aus dem Jahr 1609 - den perfektesten Hochaltar der spanischen Kunstgeschichte.

Eintritt frei (wieso eigentlich?)

Öffnungszeiten: Von Oktober - März: montags + dienstags geschlossen, Mi. + Do. von 10:00 bis 14:00 Uhr. Fr. + Sa. von 10:00 bis 14:00 Uhr und 16:00 bis 19:00 Uhr, So. von 10 bis 15 Uhr. Von April - September: montags + dienstags geschlossen, Mi. + Do. von 10:00 bis 14:00 Uhr, Fr. + Sa. von 10:00 bis 14:00 Uhr und 17:30 bis 20:30 Uhr, So. von 10:00 bis 15:00 Uhr.

https://es.wikipedia.org/wiki/Monasterio_de_San_Isidoro_del_Campo

http://www.juntadeandalucia.es/culturaydeporte/agendaandaluciatucultura/evento/visitas-san-isidoro-del-campo

Kirche Virgen de la Granada in Guillena: bescheidene Dorfkirche im Mudéjarstil, meist geschlossen. http://www.guillena.org/opencms/opencms/Guillena2/home.jsp

Unterkünfte
Pilgerherberge in Sevilla: "Albergue Triana", C. Rodrigo de Triana, Tel. 954-459960, Groß, günstige Lage, mit Küche und Internet, freundliche Aufnahme. Übernachtung 12 Euro. www.trianabackpackers.com

Pilgerherberge in Guillena: private Herberge "Luz del Camino", an der Hauptstraße kurz vor "El Poli" (s.u.), Tel. 955-785262. Mit Küche, Waschmaschine und Trockner, Internet, Aufenthaltsraum mit Fernseher. Übernachtung mit Frühstück 12 Euro. contacto@albergueluzdelcamino.es

Verpflegung
Restaurant "El Poli" in Guillena: an der Hauptstraße oberhalb der Herberge, gutbürgerlich, besonders zu empfehlen "Berenjenas con Salmorejo" (frittierte Auberginen mit kalter Tomatencreme).



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_3] Mexiko: Tequila-Jazz
Im Interview mit der mexikanischen Band Troker
 
Die Band Troker aus Mexiko legte auf der diesjährigen Musikmesse jazzahead in Bremen einen fulminanten Auftritt hin. Nachdem den Zuhörern die Gehörgänge freigepustet waren, fingen viele an zu tanzen (und einige verließen den Saal). Über ihren Hard-Groove-Jazz sprach Torsten Eßer mit der Band.


Bei eurem Auftritt gestern haben sicher einige Puristen gedacht: Was machen die denn auf einer Jazz-Messe?
Frankie Mares (Schlagzeug): Das Genre öffnet sich immer mehr allen möglichen Musikstilen. Wir wollen nicht in einem festgelegten, starren Rahmen spielen. In unserem Fall integrieren wir Hiphop, Funk und auch Rock in unser Spiel, in die Musik, die uns gefällt. Das sind unsere Einflüsse, schließlich haben wir vorher u.a. auch in Rockbands gespielt.


Frankie Mares: Schlagzeuger der mexikanischen Band Troker

Streckenweise erinnert mich eure Musik an Rock- Mestizobands wie Control Machete oder Molotov?
Arturo Santillanes (Saxophon): Mit dieser Musik sind wir aufgewachsen, einige der Musiker sind heute unsere Freunde. Diese Musik ist uns ins Blut übergegangen, genauso wie sehr mexikanische Elemente, z.B. der Mariachi, den man einfach mit der Muttermilch aufsaugt. Und wenn Du dann spielst, fließt all das aus dir heraus.

Samo González (Bass): Wir mögen die Vielfalt, wir möchten keine simplen Pop- oder Rocksongs spielen, sondern uns öffnen für Improvisationen. Daher ist unsere Musik mehr Jazz als alles andere.

In Stücken wie "Chapala Blues" oder "Príncipe Charro" habe ich Elemente der mexikanischen Folklore gehört.
Arturo: Das ist erstens Teil unserer Identität und zweitens gibt das unserer Musik eine gewisse Originalität. Wir sind stolz darauf Musikstile zu integrieren, die schon unsere Väter und Großväter gerne gehört haben. Aber letztendlich entsteht das auf natürliche Weise. Irgendwann haben wir das bemerkt, als Leute uns darauf ansprachen, das "Chapala Blues" sehr mexikanisch klingt. Bei "Príncipe Charro" haben wir das Ganze dann bewusst eingebaut, um traditionelle Elemente mit dem Hiphop und unserem DJ zu verbinden.

Ist es schwierig traditionelle Musik mit Jazz, Funk und Rock zu vermischen?
Frankie: Meistens kommen diese Elemente auf natürlichem Weg in unsere Musik. Bei einer Probe hören wir dann zum Beispiel so ein typisches Vibrato bei den Bläsern. Wir trinken sehr gerne Tequila, entspannen uns, und dann kommen unsere Wurzeln ganz von selbst ins Spiel (lacht!).

Samo: Wir haben einmal in der Provinz Oaxaca ein Projekt mit einem indigenen Symphonie-Orchester gemacht. Mit den Jugendlichen übten wir "Chapala Blues" ein und führten es im Palacio de Bellas Artes in D.F. auf. Das war eine tolle Erfahrung. Danach haben wir hier und da auch indigene Instrumente benutzt.

Das Stichwort indigenas bringt mich zu der Frage, wie Ihr zur problematischen Situation eben jener Bevölkerungsgruppe steht?
Samo: Wir haben ein interaktives Programm für Kinder entwickelt, nicht nur indigene, in dem wir ihnen etwas über Musik vermitteln. Außerdem geben wir Gratiskonzerte in Jugendgefängnissen, Krankenhäusern, Schulen oder marginalisierten Vierteln. Wir mischen uns in die aktuelle Politik ein, indem wir z.B. in Interviews gegen die Regierung argumentieren. Wir wollen den Jugendlichen vermitteln, dass wir mit der Korruption der Regierung nicht einverstanden sind, auch nicht mit der zunehmenden Kriminalität, die dafür sorgt, dass man sich kaum noch auf die Straße traut. Dabei hilft uns natürlich unsere steigende Popularität.

Arturo: Dabei dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass unsere Hauptaufgabe die Musik bleibt, damit die Leute auch mal für einen Moment diese Probleme vergessen können.

Ja, das verstehe ich. Was mir als Europäer aber unverständlich ist, dass Auftritte im "falschen" Lokal für einen Musiker tödlich enden können, auch wenn das vor allem die Sänger von narcocorridos betrifft...
Frankie: Das hat unter anderem damit zu tun, dass sie dazu gezwungen werden, Botschaften zu "singen", von einem Drogenkartell an ein anderes. Dann kommen diese zum Konzert und veranstalten hässliche Sachen.. Das und vieles andere ließe sich unserer Meinung durch eine Legalisierung der Drogen abstellen.

Euer DJ macht bei euch viel mehr als DJ’s üblicher Weise in Bands...
Frankie: Er benutzt seine turntables wie ein Instrument und gibt vielen unserer Stücke einen speziellen Klang. Er hat schon mehrere Preise gewonnen, u.a. bester DJ Mexikos. Als unsere Gruppe anfing, gingen wir in eine Bar, in der er auflegte. Sofort dachten wir darüber nach, ob es nicht cool wäre unserer Band einen DJ hinzuzufügen. Und schon bei der ersten Probe mit ihm waren wir begeistert. Er hat außerdem tolle Ideen für Samples aus alten mexikanischen Filmen etc. Diese Fusion geht weit über das Scratchen anderer DJ’s hinaus.

Samo: Wir integrieren ihn auf unterschiedliche Weise: er spielt Harmonien, manchmal sogar eine Melodie, wie in "Mosquita muerta". Schon während des Komponierens denken wir oft darüber nach, was wir mit den Plattenspielern anstellen können, etwas Neues, Aufregendes halt.

Und nun zu einer brennenden Frage: Woher kommt der Name Troker, das klingt ziemlich deutsch?
Frankie (lacht): Zu Beginn suchten wir einen Namen, der die Kraft unserer Musik ausdrückte. Wir überlegten hin und her, fanden aber nichts. Zu der Zeit trugen wir dicke Schnauzbärte und oft Baseballkappen So sehen in Mexiko oft die Fahrer großer Lastwagen aus, Trucker halt. Und daraus haben wir dann dieses Kunstwort gemacht. Es weckt Assoziationen zu Kraft, Lärm, starken Motoren und zu Truckern, die Jazz hören. So ist das entstanden.

Interview + Foto: Torsten Eßer
Cover: amazon

Troker
Crimen Sonoro (2014)
troker.com.mx
(inkl. Video des Auftritts auf der jazzahead)

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]





[art_4] Uruguay: El Paisito – das warme Herz Lateinamerikas (Teil 1)
Ciudad Vieja – die Altstadt atmet Geschichte
 
"Uruguay? Warum würde jemand in Uruguay Urlaub machen wollen?", fragt Lars Borchert, Autor des im August im Reise Know-How Verlag erschienen Reiseführers Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken in seinem Vorwort etwas rhetorisch. In dem kleinen Land irgendwo zwischen Argentinien und Brasilien gebe es doch "nichts außer beißende Fußballer und Kühe". So, schiebt er direkt hinterher, heiße es zumindest immer. Die Antwort auf seine Frage gibt der Autor selbst: Ohnehin sei Uruguay in vieler Hinsicht besonders. Aber absolut einzigartig sei, dass sich dort das Urlaubsgefühl von Entschleunigung und Entspannung schon auf der Autobahn einstelle. "Denn häufig nutzen sogar Jogger, Kutschen oder Rinder die Rutas Nacionales – und der Anblick der Oldtimer, die hier beschaulich tuckern, ist schlicht unbezahlbar." Urlaub in Uruguay sei auch aus vielen anderen Gründen nicht nur eine Erholungs-, sondern auch eine Zeitreise. Eine Zeitreise?

Was er damit genau meint, erzählt der Autor ab dieser Ausgabe in ausgewählten Kapiteln seines Uruguay-Reiseführers, die wir an dieser Stelle abdrucken. Ergänzt werden sie durch Lars Borcherts Wein-Kolumne ‚traubiges’, die er schon seit über einem Jahr exklusiv für den Caiman schreibt. Dort stellt er, ebenfalls ab diesem Monat, immer einen der uruguayischen Weine vor, die er bei seiner Recherchereise bei den Bodegas verkosten durfte.

Ciudad Vieja – die Altstadt atmet Geschichte

Als kleine Halbinsel in den Río de la Plata hineinragend ist die Altstadt, die Ciudad Vieja, das historische Herzstück Montevideos. Ursprünglich war sie lediglich als Festung zum Schutz gegen die Angriffe argentinischer und brasilianischer Truppen gebaut worden und daher einstmals komplett ummauert. Die Puerta de la Ciudadela, das Tor einer gewaltigen Zitadelle, die sie zusätzlich absichern sollte, steht noch heute gegenüber der Plaza de la Independencia (der Nahtstelle zwischen Alt- und Neustadt), die Zitadelle selbst ist Vergangenheit. Ein Spaziergang durch die im Schachbrettmuster angelegte Ciudad Vieja ist wie ein Ausflug in die Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.

Foto: Die Puerta de la Ciudadela und der Palacio Salvo

Hier finden sich noch immer prächtige Kolonialbauten, Kirchen und die Kathedrale von Montevideo (1804 eingeweiht, war sie das erste öffentliche Gebäude der Stadt) sowie Paläste in den unterschiedlichsten Stilrichtungen: von der Renaissance über den Barock bis hin zu den verschiedenen Ausprägungen von Klassizismus und Neoklassizismus. Direkt gegenüber der Kathedrale erhebt sich der Cabildo, zur Kolonialzeit sowohl Rathaus als auch königliches Gefängnis.

Es lohnt sich unbedingt, nicht nur durch die Gassen zu bummeln, sondern auch hier und da in die alten Hinterhöfe zu schauen oder sich auf eine der Plazas zu setzen, um bewusst den außergewöhnlichen architektonischen Reichtum zu bestaunen. Besonders pittoresk ist die Plaza Zabala, die nach Bruno Mauricio de Zabala, dem Gründer Montevideos, benannt ist: Ihm zu Ehren steht in der Mitte sein überlebensgroßes Reiterdenkmal. An den Platz grenzt der dreieckige Palacio Taranco, der erst 1910 fertig gestellt wurde und heute das Museo Nacional de Arte Decorativo beherbergt. Seine Fassaden wurden von zwei französischen Architekten eklektisch gestaltet und erinnern an den Louis-XVI.-Stil, ebenso wie die Inneneinrichtung.

Wo immer möglich (vor allem in öffentlichen Bauten) ist es ein Muss, die Gebäude zu betreten und ihre üppige Ausstattung zu bewundern: Carrara-Marmor auf den Böden, Kristalllüster unter den Decken, riesige französische Spiegel an den Wänden sowie Gold- und Stuckornamente, wohin man schaut. All das zeugt heute oft weit mehr als die Fassaden dieser architektonischen Meisterwerke vom einstigen Reichtum in der Stadt.

Von außen sehen einige Gebäude ziemlich heruntergekommen aus. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Achterbahnfahrt der vergangenen Jahrzehnte fehlt(e) es vielerorts an den Mitteln für die nötige Sanierung. Doch das tut dem Charme der Häuser und der Altstadt als Ensemble keinen Abbruch. Es lohnt sich unbedingt, eines der Caféhäuser aufzusuchen oder in ein Museum zu gehen und vor allem das Teatro Solís zu betreten, das erste große Theater Lateinamerikas, ganz gleich, ob zu einer Führung tagsüber oder zu einer der Vorstellungen am Abend (am besten beides). Die Errichtung des klassizistischen Baus im italienischen Stil war noch vor der neunjährigen Belagerung Montevideos begonnen worden, als die Stadt gerade einmal 30.000 Einwohner umfasste.

Bei einem Gang durch die Altstadt lassen sich an einigen Stellen noch die Überreste der alten Stadtmauer besichtigen. Das lukullische Herz der Ciudad Vieja schlägt gegenüber dem Hafen mit zahlreichen Restaurants und dem Mercado del Puerto (Hafenmarkt). Diese Markthalle aus dem Jahr 1868 galt lange Zeit als einer der schönsten Märkte Südamerikas. Heute findet sich hier ein Lokal neben dem anderen, ferner ein paar Geschäfte mit Kleidung sowie Kunsthandwerk. Besonderer Blickfang ist aber die in der Mitte der Halle aufgestellte Paganini-Uhr, die extra für den Markt aus Liverpool importiert wurde.

Text + Foto: Lars Borchert

Reiseführer Uruguay: Dieser Text ist dem Reiseführer Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken erschienen im Reise Know-how Verlag entnommen. Wer nicht bis zum nächsten Caiman warten, sondern möglichst schnell mehr über Uruguay erfahren möchte, kann sich diesen Reiseführer für 16,95 Euro unter info@larsborchert.com persönlich beim Autor bestellen oder im gut sortierten Buchhandel kaufen.

Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: uruguay]





[kol_1] Grenzfall: Tödliche Exporte. Wie das G36 nach Mexiko kam.
Bundesregierung genehmigte Waffen für Mexiko
 
Am 23.9.2015 brachte das Erste einen Themenabend zum Export deutscher Waffen nach Mexiko. Es lief zunächst der Spielfilm Meister des Todes (SWR/ARD Degeto/BR), der in der ARD Mediathek bis zum 23.12.2015 täglich ab 20 Uhr abgerufen werden kann. Dann folgte die Doku Tödliche Exporte. Wie das G36 nach Mexiko kam. von Daniel Harrich (SWR/BR), die unter swrfernsehen.de zur Verfügung steht.

Zudem gibt es auf br.de die interessante Webdoku Waffen für Mexiko.


Foto 1: Schießübungen mit G36-Sturmgewehren von Heckler & Koch im mexikanischen Bundesstaat Puebla. Ab Herbst 2002 veranstaltete das H&K-Verkaufsteam Waffenpräsentationen und Schießübungen für Militär und Polizei in Mexiko, unter anderem auch in Bundesstaaten, für die die Bundesregierung Waffenlieferungen untersagt hatte. / Bild: SWR

Bundesregierung genehmigte Waffen für Mexiko
Trotz Warnung durch das Bundesausfuhramt
Beamter räumte gegenüber der Staatsanwaltschaft fehlende Kontrollen ein

Die Bundesregierung genehmigte dem Rüstungskonzern Heckler & Koch Kriegswaffenexporte nach Mexiko auch nachdem bereits bekannt war, dass die Firma nicht - wie vorgeschrieben - nachweisen konnte, in welchem Bundesstaat die Waffen zum Einsatz kommen würden. Das ergaben SWR-Recherchen zu der Doku "Tödliche Exporte - Wie das G36 nach Mexiko kam".

Das Bundesausfuhramt (BAFA) hatte bereits 2008 bei einer Überprüfung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz in der Heckler-&-Koch-Geschäftszentrale in Oberndorf am Neckar alarmierende Unregelmäßigkeiten bei den ersten Exporten von G36 Sturmgewehren nach Mexiko festgestellt. Das war zwei Jahre bevor die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler Waffenexporte nach Mexiko einleitete.


Foto 2: In der Aula des Lehramtsseminars von Ayotzinapa / Guerrero ein Mahnmal mit 43 leeren Stühlen. Fotos und persönliche Erinnerungsstücke sollen an das Verbrechen vom 26. September 2014 und die 43 von der Polizei verschleppten Studenten erinnern. Auch bei diesem Einsatz gegen Studenten waren G36-Sturmgewehre von Heckler & Koch im Einsatz, obwohl der Export der Waffen in den Bundesstaat Guerrero von der Bundesregierung untersagt worden war. / Bild: SWR

Bei der Überprüfung der sogenannten Kriegswaffenbücher stellten die Beamten "erhebliche Defizite" fest. Die Prüfer entdeckten Lücken bei der Dokumentation der Endverbleibe der G36: Es fehlten Empfangsbestätigungen der mexikanischen Polizeieinheiten, an die Heckler & Koch laut "Endverbleibserklärung" liefern wollte. Diese Unregelmäßigkeiten waren so gravierend, dass das Bundesausfuhramt 2008 darüber eine Meldung an das übergeordnete Bundeswirtschaftsministerium machen musste. Damit setzte das Bundesamt die oberste Genehmigungsbehörde darüber in Kenntnis, dass der Verbleib der G36 in Mexiko unklar war.

Das Bundeswirtschaftsministerium erteilte dennoch Heckler & Koch weiterhin Genehmigungen zum Export von Kriegswaffen nach Mexiko. Die letzte dieser Genehmigungen datiert auf den 13. April 2010. Sechs Tage später stellten der Freiburger Buchautor Jürgen Grässlin und der Tübinger Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige wegen der G36-Exporte nach Mexiko. Holger Rothbauer erweiterte 2012 die Anzeige gegen Beamte im Bundeswirtschaftsministerium.

Im Interview mit dem SWR sagt er dazu: "Es könnte sich um Beihilfe zum Verstoß nach dem Außenwirtschaftsgesetz handeln. Es könnte sich aber auch um Vorteilsannahme und um Urkundenfälschung im Amt handeln." Der Ministerialrat, der für die G36-Ausfuhrgenehmigung verantwortlich war, gab gegenüber der Staatsanwaltschaft Stuttgart an, dass der Endverbleib der Kriegswaffen vor Ort nicht durch die Bundesregierung kontrolliert werde. Das geht aus dem Vernehmungsprotokoll hervor, das der ARD vorliegt.


Foto 3: Das Verbrechen von Iguala /Guerrero am 26. September 2014 löst eine nicht endende Protestwelle in der mexikanischen Bevölkerung aus. Hier demonstrieren Hunderttausend Menschen in der Innenstadt von Mexiko-Stadt. / Bild: SWR

Rainer Arnold, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, teilte der ARD mit: "Es bestätigt sich, dass es eine ganze Reihe Probleme gegeben hat. Das Genehmigungsverfahren ist insgesamt kritikwürdig. So hätte es nie laufen dürfen und es darf sich nicht wiederholen."

Agnieszka Brugger, die Obfrau der Grünen im Verteidigungsausschuss erklärte dazu im Interview: "Diese Dokumente und diese Details belegen, dass sowohl Mitarbeiter aus dem Auswärtigen Amt als auch aus dem Bundeswirtschaftsministerium wirklich fast fahrlässig oder willfährig sich zum Helfer der Rüstungsindustrie gemacht haben und da müssen auch personelle Konsequenzen gezogen werden und da muss man auch schauen, wie man dafür Sorge trägt, dass so etwas nie wieder vorkommt."


Foto 4: Der Kommandant der Bürgerpolizei FUSDEG in Tiera Colorada im mexikanischen Bundesstaat Guerrero präsentiert ein G36-Sturmgewehr. Diese Waffe haben Mitglieder der FUSDEG kurz zuvor “El Taliban”, dem Chef des lokalen Drogenkartells, gewaltsam abgenommen. Der Bundesstaat Guerrero ist einer von vier Bundesstaaten, in die die Bundesregierung aufgrund der desaströsen Menschenrechtssituation den Export von G36 verboten hat. / Bild: SWR


Jan van Aken (Die Linke), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, sagte der ARD gegenüber: "Wenn man sich das Protokoll anschaut, hat man ja das Gefühl, da sitzen richtige Helfershelfer oder sogar Mittäter in den Behörden. Ich möchte wissen - und zwar mit Namen und Dienstgrad - wer sitzt wo im Ministerium, der sich an diesem schmutzigen Geschäft beteiligt hat."

In einer schriftlichen Stellungnahme gegenüber der ARD räumte Heckler & Koch ein, das Unternehmen habe - trotz der verbindlichen 'Endverbleibserklärung' - "keinen Einfluss darauf, wohin die Waffen letztendlich geliefert wurden." Weiterhin teilt Heckler & Koch mit: "Zu Kleinwaffenexporten möchten wir generell festhalten, dass Heckler & Koch sich als Hersteller von Waffen der besonderen Verantwortung bewusst ist. Unsere unternehmerische Tätigkeit unterliegt den bestehenden waffen- und ausfuhrrechtlichen Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland, an die wir uns strikt halten. Das Verhältnis des antragstellenden Unternehmens zu den Entscheidungsträgern im Genehmigungsverfahren wird durch die klaren gesetzlichen Vorgaben des Antragsverfahrens bestimmt."

Das Bundeswirtschaftsministerium betont in einer schriftlichen Stellungnahme der ARD gegenüber, dass sie "seit 2010 die Genehmigung von Anträgen von Heckler & Koch für den Export von Kleinwaffen nach Mexiko ausgesetzt" habe. Weiter heißt es in der Stellungnahme: "Seit 2010 ist die Vorlage von Empfangsbestätigungen für den Erhalt von Waren für alle Exporteure von Kriegswaffen zudem eine allgemeine Genehmigungsauflage. Seit 2010 ist somit die nachträgliche Vorlage von Empfangsbestätigungen zusätzlich zu den Endverbleibserklärungen Teil des Genehmigungsverfahrens."

Die Zuverlässigkeitsprüfung von Heckler & Koch durch das Bundesausfuhramt und die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen dauern an.

Text + Fotos: SWR

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Hopfiges: Marina Summer Ale aus Blanes (Katalonien / Spanien)
 
Ein wunderbar warmes Spätsommer-Wochenende in Berlin. Dazu passend ein Marina Summer Ale, ein Bier aus Blanes, Costa Brava, Katalonien.

Die ungelernten, aber passionierten Bier-Schöpfer des Marina Summer Ale, die lustigen Brüder Pep und Kevin mit irischen Wurzeln, transportieren auf ihrer Website in erster Linie eine Botschaft: Trinkt Bier und habt Spaß!

Gut! Dem wollen wir gerne nachkommen. Um es ihnen gleich zu tun, passe ich ein Wochenende ab, an dem meine Brüder zu Besuch sind. Einer braut, der andere philosophiert. Beide lieben bbbv, Basketball mit Bier-Verkostung.


Der Ball springt und fliegt. Nach kurzer Zeit steigt die Frequenz der Atmung und Durst kommt auf, ran an das Summer Ale.

Das Etikett ist farbenfroh. Das Layout ein wilder Mix, vergleichbar mit dem Radio-Jingle "Das Beste" aus den 80ern und 90ern. Dazu ein wenig Ikea und grottig gruselige Icons, sowie eine Meerjungfrau – das dürfte dann Marina sein –, die mit ihrem Stock im Hintern besser als Marien-Erscheinung in die österreichische Serie Braunschlag gepasst hätte als in die an Blanes grenzende Party-Hochburg Lloret de Mar.

Sei’s drum. Das Summer Ale duftet himmlisch nach einer Grapefruit, die in der heißen hochsommerlichen Abendsonne Spaniens ihre letzte Reife erhalten hat, gepaart mit leicht herben Böen eines deutschen Inselwetters.

In freudiger Erwartung, das Bier möge auch den Mund, wie zuvor die Nase, begeisternd einnehmen, um ein "Stürz mich hinab, als gäbe es keinen Morgen mehr" hinterher zu schieben, nehme ich einen tiefen Schluck.

Doch ganz wider Erwarten, an Disharmonie zwischen Erschnuppertem und Erschmeckten kaum zu überbieten, bleibt mir das Getränk im Halse stecken. Mit seinen 6% Alkohol kann das Bier die versprochene Leichtigkeit nicht halten und lässt sich träge und müde auf der Zunge nieder. Es verweilt und nur gutes Zureden bringt es zum Weiterfließen.

Eine schwere, leicht modrige Brühe, die von der Grapefruit nur das sehr bittere weiße Gewebe abbekommen zu haben scheint, mit sich vereinzelt an die Geschmacks-Oberfläche kämpfenden Zitrusnoten. Um etliches leichter zubereitet, etwa durch weniger Alkohol, hätte die Diskrepanz zwischen Geruch und Geschmack überraschen statt entsetzen können.

Möglicherweise hat ja die Flasche Marina Summer Ale die Fahrt von Barcelona nach Berlin nicht so gut überstanden. Eventuell ist aber auch der nur bedingt gelungene Einsatz des US-amerikanischen Hopfens namens Amarillo schuld, der an der Seite von Cascade und weiteren hochgejubelten Hopfen-Sorten aus den USA die Craft-Brau-Szene zurzeit entscheidend mitbestimmt.

Dass der Einsatz der Mode-Hopfen nicht schlecht sein muss, zeigen andere spanische Biere, von denen wir in den nächsten Ausgaben noch das eine oder andere für euch trinken werden.

Für dieses Mal spielen wir weiter, um zu vergessen.

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_3] Traubiges: Mondlicht nach dem Sturm
Narbona Tannat‚ Luz de Luna’ 2011
 
Langsam zieht sich der Himmel zu. Immer tiefer hängen die Wolken, immer schwerer. Wo eben noch ein strahlendes Blau den Raum bis zum Horizont füllte, macht sich jetzt eine düstere Melange tiefer Grautöne breit. Wind kommt auf, wie aus dem Nichts. In Minutenschnelle wird er zu einem tösenden Sturm. Die Rebstöcke hinter der Wine Lodge Narbona biegen sich zu allen Seiten. Regen setzt ein. Nicht langsam und kein erstes leichtes Tröpfeln, sondern sofort dicke schwere Tropfen, die mit der Kraft von Hagelkörnern gegen das Fenster prasseln. In kürzester Zeit sind die Weinfelder des Weinguts im Südwesten von Uruguay von einem dichten Regenschleier überzogen.

Immer schneller und immer schwerer schlagen die Tropfen gegen die Scheiben, bis von der Umgebung draußen nur noch vage das saftige Grün zu erkennen ist. Der Takt und die Lautstärke des Regens erinnern an das rhythmische Trommeln einer Sambagruppe.

Mit der Zeit wird es noch dunkler. Die Sonne ist untergegangen, die Dämmerung setzt ein. Als der Himmel schon fast schwarz ist, zieht das Unwetter weiter und gibt auf einmal die Sicht frei auf einen vollen runden Mond, der langsam in all seiner Pracht aufsteigt.

So tief schwarz wie der Himmel leuchtet auch der Wein in meinem Glas. Schwarz mit zarten rubinroten bis dunkelblauen Reflexen. Der äußere Kranz strahlt in einem fast synthetischen Magenta. Schwarz ist die charakteristische Farbe der National-Resorte Uruguays: kein anderes Land baut so viel Tannat an. Nirgends sonst gibt es Winzer, die die Ecken und Kanten dieser höchst tanninhaltigen Sorte – daher der Name – so gekonnt abzurunden wissen. Selbst die französischen Gewächse können nicht mit ihnen mithalten.


Aus dem Glas strömt ein extrem intensiver Duft nach oben: Eine Mischung aus Brombeeren, Preiselbeeren und vor allem Schleen gepaart mit Rosmarin und Pfeffer und einem kaum wahrnehmbaren Vanillehauch steigt in die Höhe. Er verrät, dass der Wein etwas Zeit im Holzfass gereift ist. Aber nur fünf Monate hat er dort gebraucht, bis seine Tannine ihre Kratzbürstigkeit verloren. Sanft wie ein Kätzchen schmiegen sie sich jetzt an den Gaumen. Auf der Zunge dominieren dunkle, herbe Früchte in Personalunion mit Pflaumenmus, Tabak, Kaffee und reinstem Kakao. Das Säuregerüst ist fein und ausgewogen. Kraftvoll und saftig dominiert der Tannat den Gaumen. Ebenso kraftvoll ist der Abgang dieses Weins, den die Bodega Narbona ‚Luz de Luna’, genannt hat.

Als ich den letzten Schluck davon trinke, steht der Mond hoch über den Weinfeldern. Die Reben glänzen in seinem Licht, der Sturm ist fast vergessen.

Text + Fotos: Lars Borchert

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges]





[kol_4] Pancho: Buenos Aires
Ein kulinarischer Streifzug im Zeichen des Teiges

Man kennt es nur zu gut: Die Sonne klettert langsam über die Dächer der Stadt, wärmt den Asphalt und seine Bewohner und erinnert diese daran, endlich mal aus dem Bett zu kriechen. Dann schlüpft man frisch geduscht in die Kleider und schon geht es hinaus über die Straße ins nächste Café. Morgens sind es Medialunas, die einen den Tag versüßen können. Quasi die argentinische Antwort auf französische Croissants. Und es gibt sie in zwei verschiedenen Varianten. Einmal die Medialunas de manteca und dann die Medialunas de grasa. Erstere also mit jeder Menge Butter im Teig, letztere haben stattdessen Fett bzw. Margarine an Bord. Das Problem ist: Sie schmecken einfach gut. Und die Schlingel in den Cafés haben immer Promociones und man bekommt zum (manchmal hervorragenden, manchmal auch fast englischen) Kaffee gleich drei von diesen kleinen Teigwundern auf den Tisch. Wunder deshalb, weil die argentinischen Croissants tatsächlich ziemlich schwer im Magen liegen können. Immerhin braucht man dann bis mittags nichts mehr. Eine ungeheure Zeitersparnis. Also liest man ein wenig in der Zeitung, plaudert mit dem Kellner über Fußball oder beobachtet einfach seine Umgebung, die immer spannend zu sein scheint.

Egal, ob man dann die kommenden zwei bis drei Stunden im Büro hockt, spazieren geht oder als Tourist vielleicht die eine oder andere Sehenswürdigkeit abfotografiert, erst pünktlich zur Mittagszeit sendet der Körper wieder eindeutige Hungersignale. Natürlich sind die Möglichkeiten mannigfaltig, sogar Sushi hat sich schon in die Hauptstadt verirrt, aber wir bleiben beim Teiggericht: Empanadas dürfen es diesmal sein.

Auch hier haben wir zwei Varianten im Angebot: Empanadas al horno oder fritas. Ofen oder frittiert. Das Schlimme daran: Beide Zubereitungsarten haben ihren Reiz. Und je nach dem, wo man die Dinger kauft, gibt es einige Füllungen nur in frittierter Form. Persönlich mag ich die Ofenexemplare lieber, aber das ist bekanntlich Geschmacksache. Ebenso übrigens wie die Füllungen. Denn man kauft und isst keine Empanadas wegen des Teigs, sondern wegen der Füllung. Klassisch ist natürlich die Rinderhackfüllung - wir sind schließlich in Argentinien. Aber auch Hühnerfleisch, Schinken und Käse, Thunfisch, Zwiebel und Käse oder Mais fehlen fast nie im Angebot. Hier scheint es keine Grenzen zu geben und die drei größten Ketten überbieten sich ebenfalls gerne mit Lockangeboten. Ab 12 Stück gibt’s dann schon mal drei extra oder ein Maxigetränk dazu - ebenso wie den obligatorischen Erklärzettel, damit man weiß, welche Füllung in welcher Empanada versteckt ist. Denn von außen sehen die Teighalbmonde nahezu identisch aus. Die Schlauen unter den Empanada-Köchen machen schon mal Eselsohren in die Ecken (mal eins, mal zwei, mal eins nach hinten, mal eins nach vorne geklappt) oder färben eine Ecke am Rand dunkel ein. Oder zwei oder drei. Irgendwie müssen die vielen Füllungen für den Kunden ja ersichtlich sein, zumal man Empandas auch gerne als Vorspeise mit mehreren Leuten verzehrt.

Wo es die besten gibt, muss man wohl oder übel selbst herausfinden. Die Ketten sind mal besser, mal schlechter, und die mit Abstand besten Empanadas macht noch immer die argentinische Großmutter. Aber da hat man als Tourist nicht immer die besten Karten: eine kennen zu lernen, die für einen auf Anhieb Empanadas in den Ofen wirft.

In jedem Falle kann man nach dem Verzehr gut gesättigt weiterziehen. Wer rein zufällig am Wochenende in Recoleta unterwegs ist, der sollte über den Markt an der Plaza Francia schlendern. Nicht etwa, weil einem da Kunsthandwerk feilgeboten wird, das man nur in den seltensten Fällen wirklich braucht, sondern weil es da als Zwischenmahlzeit das wunderbare Pan relleno gibt. Gefülltes Brot mit Tomaten-Käse-Füllung oder Fleisch. Manchmal auch mit Schinken und Käse. Und wenn die Männer mit ihren riesigen Bastkörben herumlaufen und die Tücher aufschlagen, dann duftet es so wunderbar, dass man eigentlich schon verloren hat und das warme Brot in eine Serviette gehüllt bereits zum Munde führt ehe man sich versieht. Und das ist wirklich ein Gedicht, zumal alles immer hausgemacht ist. Besser geht’s nicht. Leider sind die Pan-Relleno-Verkäufer nicht in der Stadt, sondern eher auf Märkten oder Freiluftveranstaltungen unterwegs. Sehr schade!

Abends hat man dann die Qual der Wahl. Aber: auch wenn die Argentinier noch zur Hälfte italienisches Blut in sich tragen, die Pizza ist maximal in Restaurants wirklich genießbar. Am Schlimmsten jedoch bei den Ketten, allen voran Zapi. Das einzig gute an dieser Pizza ist noch, dass sie wirklich warm aus dem Ofen kommt. Oder die Literflasche Bier, die man sich aus dem Kühlschrank holt. Egal, was euch irgendjemand raten sollte, weil ihr in der Stadt vielleicht gerade planlos umherirrt oder ihr vor Heißhunger zu krepieren droht: wenn ihr euch für eine Pizza entscheidet, dann nur für eine Margarita unter der üppigen Verwendung des Gewürzstreuers. Alles andere ist wirklich ungenießbar und hat eher schlechten Gummicharakter.

Also doch lieber zum Paty greifen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als ein Hamburger. Den gibt’s ähnlich wie den Pancho (Februarausgabe 2006) an vielen Ecken in der Stadt. Vor allem natürlich zwischen zwei kleinen (teigigen) Weißbrothälften. Wenn er frisch gemacht ist, schmeckt der richtig gut.

Käse ist optional, ebenso wie die Soßen und Salat und Tomate. Aber wenn man schon mal dabei ist, kann man auch alles draufhauen, was der Laden zu bieten hat. Chimichurri, das feine Fleischgewürz, sollte man nicht vergessen. Wer’s dann noch scharf mag, der greift zum Löffel der salsa picante. Was genau da drin ist, erfährt man erfahrungsgemäß nie. Aber die Soße ist gerade zu vorgerückter Stunde immens wichtig, vertreibt sie doch die bösen Geister, die sich eventuell über den Alkohol in den Körper geschlichen haben könnten. Dann schmeckt sogar ein mittelmäßiger Paty noch annehmbar und man kann guten Gewissens und frisch gestärkt weiter um die Häuser ziehen.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 10/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]






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