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[kol_1] Helden Brasiliens: Adeus Dr. Socrates - Zum Tod eines Fußballhelden
 
Brasilien trauert um sein Fußballidol Socrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira, kurz Socrates genannt. Anfang Dezember verstarb er nach langer Krankheit an einer Blutvergiftung, Folge einer durch seinen Jahre lang ungehemmten Alkoholkonsum hervorgerufenen Leberentzündung. Er wurde gerade einmal 57 Jahre alt. Dr. Socrates, der seinen akademischen Titel einem Medizinstudium in den 70er Jahren verdankte, verstarb nur wenige Stunden bevor sein heiß geliebter Klub Corinthians São Paulo brasilianischer Meister wurde.



Ihm selber, der die brasilianischen WM-Mannschaften von 1982 und 1986 als Kapitän anführte, blieben die großen nationalen und internationalen Titel verwehrt. Brasilianischer Meister wurde er nicht, auch nicht mit den Corinthians, und Weltmeister mit der brasilianischen Nationalmannschaft auch nicht. Dafür nahm er den Ballsport letztlich nicht ernst genug. Lieber engagierte er sich für Politik, wobei Zigarretten und Alkohol stets seine Begleiter waren.

Für die Brasilianer wird Socrates als der große Intellektuelle des brasilianischen Fußballs in Erinnerung bleiben, der mit seiner revolutionären Demokratiebewegung innerhalb seines Klubs Corinthinas Anfang der 80er Jahre das Ende der Militärdiktatur in dem südamerikanischen Land vorwegnahm. Die von ihm angeführte Bewegung "Democracia Corintinana" setzte Lichter in den dunklen Zeiten der Militärdiktatur. So verlangten die Spieler Mitbestimmung bei der Ansetzung von Trainingszeiten, bei der Aufstellung, Taktik und der Reiseplanung des Klubs.

Dafür lief die Mannschaft mit "Demokratie Jetzt!" Slogans auf den Trikots auf. Sie bereiteten damit das politische Spektrum für die "Diretas Ja"-Bewegung von 1984 vor, die direkte demokratische Wahlen forderte und das Ende der Militärdiktatur einleitete. Auf den Demonstrationen der "Diretas Ja" trat Socrates als Redner auf, neben den späteren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso und Luiz Inacio Lula da Silva.

Zweimal traf ich "Magrao", den "Dünnen", wie seine Freunde und Mitspieler den 1,92 Meter großen Mittelfeldregisseur nannten. Das erste Mal im April 2006, am Tag als Meistertrainer Tele Santana starb, zu dem Socrates während ihrer gemeinsamen Jahre in der Nationalelf eine enge persönliche Beziehung aufgebaut hatte. Es war in einem Hotel in São Paulo, wo wir nach seiner offiziellen Stellungnahme zum Tode Santanas noch gut zwei Stunden beisammen saßen und über den brasilianischen und internationalen Fußball sprachen. Intelligent war er, schüchtern auch und er wirkte oft ein wenig genervt und ungeduldig. Was natürlich auch an den Fragen gelegen haben mag.

Das zweite Mal traf ich ihn im Oktober 2007 in Ribeirao Preto, der Stadt, in der er seit seiner Kindheit lebte. Ich wollte ihn zur Vergabe der WM 2014 an Brasilien befragen, was er davon erwarte, was er zu den Mächtigen des brasilianischen Fußballs zu sagen habe. Und vieles mehr. Wann hat man schließlich schon mal die Möglichkeit, eine lebende Legende zu interviewen. Eigentlich wollte er gar keine Interviews mehr geben, sagte er mir sofort nach der Begrüßung. Er wisse nicht, welcher Teufel ihn geritten hätte, meinen Anruf zuerst einmal anzunehmen und dann auch noch für das Interview zuzusagen. Danach tranken wir in dem Lokal in der Innenstadt von Ribeirao zwei Stunden lang frisch gezapftes Bier. Immer wieder wurden wir dabei von anderen Gästen unterbrochen, die mit dem Mann in Badelatschen und kurzer Sporthose ein Foto machen wollten.

Danach lud er mich ein, mit seiner "Cachaca"-Runde weiter zu trinken, mit den Freunden für die härteren Drinks. Ich lehnte ab, er verabschiedete sich und schlenderte die Straße hinab. Danach habe ich ihn nur noch im Fernsehen gesehen, wo er zuletzt als lebende Leiche auftrat, gezeichnet von der schweren Krankheit. Mit ihm geht auch ein Stück Geschichte zuende, die des "schönen Spiels", des "Futebol Arte", und die von Brasiliens Rückkehr zur Demokratie. Gelernt haben wir (vielleicht) von ihm, dass man den Fußball und die dort errungenen Erfolge nicht ganz so ernst nehmen sollte, wie wir es heute tun. Mit seinem Einsatz als Kinderarzt und kritischer Journalist wollte er uns klar machen, dass es Wichtigeres im Leben gibt als gegen einen Ball zu treten. Aber auch nichts Schöneres, zumindest wenn man ihn so liebevoll und kunstfertig behandeln kann wie es Dr. Socrates auf dem grünen Rasen stets tat.

Text + Fotos: Thomas Milz

Zu Socrates berichtete der caiman bisher:
Der tote Held: Über den Verfall der "Kanarienvögel"
Brasilien und die WM 2014: Mal wieder Carnaval - Interview mit Sócrates
Die runde Revolution: Walter Casagrande und die "Democracia Corintiana"
Gesehen mit anderen Augen (Teil II): Wie man Fußballjournalist wird

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