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[kol_1] Helden Brasiliens: Brasilien und die WM 2014
Mal wieder Carnaval - Interview mit Sócrates

Wirklich überschwänglichen Jubel gab es in Brasilien bei der Vergabe der WM 2014 nicht. Dazu war schon zu lange klar, dass Brasilien die Copa als einziger Kandidat so oder so erhalten würde.

Vor Brasilien liegt nun die Mammutaufgabe der Organisation des größten Sportereignisses der Welt. Chronisches Chaos im Luftverkehr, mangelnde Infrastruktur und veraltete Stadien - in den nächsten sechs Jahren muss massiv investiert werden.



Wir fragten Sócrates, den Kapitän der brasilianischen Nationalelf von 1982 und 1986, zur Vergabe der WM 2014 an Brasilien.

Freuen Sie sich darüber, dass Brasilien die WM 2014 ausrichten wird?

Sócrates:
Prinzipiell ist es eine gute Sache, eine WM auszurichten, oder sogar Olympische Spiele in einer Stadt wie Rio de Janeiro. Aber wenn man sich die Herren anschaut, die dahinter stecken, muss einem klar werden, dass diese nicht ernsthaft und verantwortungsbewusst mit der Sache umgehen werden. Denn die große Frage, die wir uns hier immer wieder stellen, ist: wer hat eigentlich ein Interesse daran, in Brasilen eine WM zu organisieren? Schließlich darf man nicht vergessen, dass es hierbei um Unsummen an Investitionen geht. In einigen Bereichen wurde ja bereits Maßnahmen ergriffen, beispielsweise der Infrastruktur.

Aber die Geschichte dieses Landes zeigt leider keine positiven Entwicklungen: so fanden in Rio de Janeiro gerade die Panamerikanischen Spiele (PAN) statt. Ursprünglich hatte man im Rahmen der Spiele 350 Millionen Reais für die Reinigung der Guanabara-Bucht und für den Ausbau der Metro veranschlagt. Und? Letztlich passierte gar nichts. Was man gemacht hat, war einige Arenen in Form von Betonmonstern zu bauen, die nach den Spielen an die Privatwirtschaft weitergegeben wurden. Und das mit unserem Geld.

Und das gleiche, was bei den Panamerikanischen Spielen passiert ist, wird auch bei der WM geschehen. Daran habe ich keinerlei Zweifel. Wir Brasilianer werden die Zeche zahlen müssen. Es gibt momentan keine wirkliche Planung und es wird auch in Zukunft keine geben. Wir bräuchten eine ernsthafte Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Es kann nicht sein, dass, wie bei den Panamerikanischen Spielen, das Budget von anfangs 350 Millionen Reais am Ende auf 3,5 Milliarden Reais anwächst.



Bei der WM wird das noch viel schlimmer werden. Denn dann wird man Investitionen dieser Größenordnung in 10 oder 12 Städten tätigen müssen. Die Endabrechnung geht dann zu Lasten des Bundes und damit des brasilianischen Volkes. Und so wie ich das sehe, bleiben die Sponsorengelder der großen WM-Partnerfirmen bei der FIFA hängen. Viele Menschen werden mit der WM reich werden, aber nicht unser Land.

Darf Brasilien demnach keine Vorteile von der WM-Ausrichtung erwarten?

Sócrates:
Eigentlich haben wir ja schon genug Karneval hier. Da brauchen wir nicht noch mehr, denn die WM wird ein 30 Tage langer Karneval werden. Die Brasilianer sind natürlich super drauf, wenn es ums Feiern geht. Das Land wird für 30 Tage stillstehen. Den ganzen Juni über Ferien. Aber danach, was wird bleiben? Welchen Gewinn im sozialen Bereich wird man erzielen?

Was ist mit dem Selbstbewusstsein der Brasilianer - würde es diesem nicht gut tun, eine WM auszurichten? In Deutschland hat es funktioniert.

Sócrates:
Selbstbewusstsein brauchen die Brasilianer nicht - sie haben eher schon zuviel davon. Denn inmitten ihrer Misere leben die Brasilianer gut und sie sind die ganze Zeit über sehr positiv eingestellt.

Bei einer Kosten-Nutzenrechnung sehe ich nicht viel Positives. Natürlich kann es in einigen Bereichen zu Verbesserungen kommen, wie dem Tourismus. Was die Sicherheitsfrage angeht: während der 30 Tage werden die Sicherheitskontrollen sehr intensiv sein. Vergleichbar denen beim PAN in Rio, wo man eine Art Waffenruhe vereinbart hatte. Aber danach? Wenn ein Tourist  drei Monate nach der WM nach Brasilien kommt, wird alles anders sein. Die für die WM aufgebauten Sicherheitsstrukturen sind dann wieder verschwunden.

Deshalb müsste man langfristig in den sozialen Bereichen investieren. Aber die WM-Organisation hat natürlich keinerlei Absichten, in diese zu investieren. Es geht um rein wirtschaftliche Interessen - die wirtschaftlichen Interessen des eigenen Geldbeutels natürlich.



Sind die kontinentalen Dimensionen Brasiliens nicht ein Problem für die Ausrichtung?

Sócrates:
Man müsste vor allem die Gruppenphase regional begrenzen, denn Brasilien ist so groß wie ganz Europa. Einen Tag spielt man in Rom, danach in Skandinavien und das nächste Spiel in London. Das ist nicht durchführbar. Man muss den Modus regionalisieren. Macht man es nicht, wäre das ein Zeichen enormer Ignoranz.

So könnte zum Beispiel eine Gruppe im Nordosten spielen, in Natal, Recife und Salvador. Das ist logistisch per Bus machbar. Aber man kann die Spiele nicht über 4.000 Kilometer auseinander reißen und diese Distanz zweimal die Woche zurücklegen. Doch selbst darüber hat man sich bisher keine Gedanken gemacht, denn die Herren sind nicht an logistischen Lösungen interessiert. Sie denken nur an Geld: So wird die WM laufen. Man müsste ein nationales Organisationskomitee mit aufrichtigen Personen besetzen, die verstehen, was unser Land braucht. Man darf die Organisation nicht der CBF überlassen. Denn sonst wird die WM in Brasilien mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.

Wie sind die Zuschauerzahlen etwa bei einem Spiel wie Tunesien gegen Saudi Arabien in Porto Alegre einzuschätzen?

Sócrates:
Die Brasilianer wird das natürlich nicht interessieren. Da wird niemand im Stadion sein. Nur die Tunesier, die die Reise auf sich genommen haben. Solange keine Freikarten vergeben werden, wird es so laufen.

Und wenn die Selecão im Viertelfinale rausfliegt?

Sócrates:
Dann wäre die WM zu Ende. Das würde einem Begräbnis der aktuellen Weltmeisterschaft gleich kommen. Aber das wird nicht passieren, dafür wird schon gesorgt werden. Mindestens ins Halbfinale kommt Brasilien bei der Heim-WM, das ist ja immer so gewesen, da stehen genug Leute dahinter, die dafür sorgen. Selbst Süd-Korea hat es ja bei der WM im eigenen Land bis ins Halbfinale geschafft. Fußball ist eben ein Sport, der für Manipulationen wie geschaffen ist. Es gibt ja nur einen einzigen Schiedsrichter, der alles entscheidet.

Text + Fotos: Thomas Milz

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