peru: Die Gebrüder Pizarro und der legendäre Palast La Conquista
FELIX HINZ
[art. 1]
spanien: Eine Stadt schwelgt im Barock
Die Sevillianer Architektendynastie der Figeroa
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
mexiko: Tzetzal Tzotzil
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
brasilien: Internationalität und Künstlertum
Auf der Suche nach den Wurzeln der Familie Mann in Brasilien
MICHAEL GRISKO
[art. 4]
helden brasiliens: Maria Fumaça und das Spanferkel
Einblicke in das koloniale Tiradentes
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: LAN geweile - alles falsch gemacht?
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
grenzfall: Zurück zu den Wurzeln - Alternative Denkmodelle
Interview mit Reinhard Senkowski
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Chano Domínguez vs. Quadro Nuevo
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Peru: Die Gebrüder Pizarro und der Palast La Conquista

Pizarro - ein legendärer Name in der Eroberungsgeschichte Südamerikas. Francisco Pizarro hatte 1513 zusammen mit Balboa die Landenge von Panama überquert und den Pazifik entdeckt. Er überlebte in der Golfregion ungeheure Strapazen und Gefahren. Mit mehr als fünfzig Jahren schließlich machte er sich an die Eroberung Perus, vegetierte monatelang mit zwölf Gefährten auf der Gorgoneninsel vor sich hin, um sein fantastisch erscheinendes Ziel nicht aufgeben zu müssen, das er dann schließlich mit nicht einmal zweihundert Konquistadoren 1532 in Cajamarca zu Ende führte; indem er Atahualpa, den frisch gebackenen Usurpator des Inkareiches, gefangensetzte, einen unglaublichen Goldschatz erpresste und das Reich für Kastilien in Besitz nahm.

Doch Francisco war nicht der einzige Pizarro in Peru: Bevor er zum entscheidenden Zug in die Anden aufbrach, holte er aus Spanien seine Brüder:

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Juan Pizarro, der einzige der Brüder, der in Kampfhandlungen gegen die Inkas umkam. Da er 1535 wegen einer Kopfverletzung keinen Helm tragen konnte, kämpfte er ohne diesen bei der Erstürmung der Trutzburg Saksahuaman bei Cuzco und wurde dabei tödlich verwundet.

Gonzalo Pizarro, eine Geschichte für sich. Er war der jüngste der Pizarrobrüder und vielleicht der charismatischste von ihnen. Ihn trieb es zwischen 1539 und 1542 auf der Suche nach El Dorado in die undurchdringlichen Wälder des Amazonastieflandes. Nach Jahren der Entbehrungen kehrte er mit einem kleinen Rest seiner Truppe, alle nur noch in Lumpen und Felle gekleidet, zurück, um festzustellen, dass sein Bruder Francisco von seinem Widersacher, Diego Almagro dem Jüngeren, ermordet worden war. Gonzalo stellte die Ehre seiner Familie wieder her und schwang sich dann zum von Kastilien unabhängigen Alleinherrscher von Panama bis Feuerland auf. Wie ein spanischer Grande gekleidet und geschmückt mit einem roten Kopfband, das an die Borla erinnerte, die Krone der Groß-Inkas, erfocht er zahlreiche Siege, tötete sogar den rechtmäßigen Vizekönig Blasco Núñez de Vela im Kampf, bevor der mächtige Arm Karls V. ihn 1548 durch einen klugen Gottesmann, Pedro de la Gasca, doch noch zur Strecke brachte.

Hernando Pizzaro, sozusagen der "eigentliche Pizarro". Während all seine oben genannten "Brüder" unehelich gezeugt waren, war Hernando der einzig eheliche. Hernando war intelligent und gebildet, während Francisco bekanntlich nicht einmal lesen konnte, stolz und aufbrausend; und so machte er sich Feinde. Andererseits fühlte er sich, wie die Chroniken übereinstimmend berichten, dem gefangenen Atahualpa sehr verbunden und schloss Freundschaft mit ihm. Hernando soll diesem geschworen haben, seiner Tötung niemals zuzustimmen, während der Inkaherrscher seinerseits zu sagen pflegte, keiner unter allen Spaniern sei so sehr ein Herr wie Hernando.

Der gefangene Atahualpa hatte in Cajamarca versprochen, einen großen Raum mit Gold anfüllen zu lassen, wenn man ihn freiließe.

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Obwohl das von den Spaniern so sehr begehrte Edelmetall von allen Seiten aus den Palästen und Heiligtümern herbeigeschafft wurde, ging es den Conquistadoren doch nicht schnell genug. So kam es, dass Hernando zum altehrwürdigen Orakel von Pachacamac im Lurintal, südlich des heutigen Lima, geschickt wurde. Bei dieser Gelegenheit sollte er auskundschaften, ob an den Gerüchten etwas dran sei, dass die Generäle Atahualpas dort Truppen sammelten, um ihren Herrscher zu befreien. Hernando wurde von Juan und Gonzalo sowie zwanzig Reitern auf diesem waghalsigen Ritt begleitet, über den er für die Audiencia von Santo Domingo einen Bericht anfertigte. Darin beschreibt er, wie sie einer sehenswerten Inkastraße durch die Berge folgten und besonders über zwei große Hängebrücken staunten: Eine sei für den Inka und sein Gefolge, die andere für das Volk gewesen. Wenn sie nach Pachacamac fragten, bekamen sie keine Antwort, fanden das Heiligtum aber dennoch. Sie mussten allerdings feststellen, dass die Schätze bereits vor ihnen in Sicherheit gebracht worden waren. Die lokalen Priester wollten weder mit Atahualpa noch mit den Pizarros etwas zu tun haben.

Wieder in Cajamarca wurde Hernando auf eine noch heiklere Mission geschickt, nämlich den Atahualpa treu ergebenen Inkageneral Chalicuchima inmitten seiner Truppen aufzusuchen und nach Cajamarca zu bringen. Auch hierbei stand ihm das Glück zur Seite.
Um Hernando bei der geplanten, weil zur Eroberung des Reiches notwendig erscheinenden, Ermordung Atahualpas nicht im Weg zu haben, schickte Francisco ihn nach Spanien, damit er dort den Kaiser von dem Vorgefallenen unterrichten solle. Hernando gehorchte und Atahualpa musste sterben.

Als Hernando nach Peru zurückkehrte, geriet er in den Krieg zwischen Francisco und dessen ehemaligen Kompagnon Diego Almagro dem Älteren und wurde von letzterem 1537 in Cuzco gefangen genommen. Almagro ließ ihm das Leben, doch Hernando, der ohnehin nie gut auf den ungehobelten Almagro zu sprechen gewesen war, verzieh ihm dies nicht, und sorgte nach seiner Befreiung für dessen Enthauptung. Dies sollte ihn wieder in Spanien teuer zu stehen kommen. Trotz eines weiteren großen Schatzes, den Hernando für die Krone mit sich führte, ließ diese wegen Almagros Tod ein Verfahren gegen ihn einleiten. Zunächst wurde Hernando in Madrid, dann von 1540 bis 1561 in der Burg La Mota (Medina del Campo) inhaftiert. Man wollte ihn nach Afrika verbannen, doch kam es nicht dazu. Während der Rebellion Gonzalos verschärfte sich die Haft.

Nach dessen Niederlage kam es schließlich zu einer hohen Geldbuße Hernandos und seiner ewigen Verweisung aus Hispanoamerika.

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1551 traf Doña Francisca Pizarro y Yupangui, anerkannte Tochter seines Bruders Francisco und der Inkafürstin Inés Yupangui Huyllas, in Spanien ein und reiste als große Dame. Hernando rief sie zu sich nach Medina del Campo. Ein Jahr darauf heiratete der knapp Fünfzigjährige seine neunzehnjährige Nichte unter den nötigen Dispensen, die Erbin der Inkas und des Marquesats. Mit diesem Coup vereinte Hernando das verbliebene Erbe der Pizarros in seiner Hand. Lediglich Gonzalos Teil blieb ausgenommen, da der Anteil des Hochverräters an die Krone zurückfiel.

Bereits von La Mota aus hatte Hernando nahe Trujillo, der Heimatstadt der Pizarros, beim Dorf La Zarza systematisch Land gekauft. Nach seiner Freilassung 1561 siedelte er mit seiner Frau dorthin über und ließ einen kleinen Palast erbauen. Ein weiterer, prunkvollerer Palast entstand an der Plaza Mayor Trujillos. Dieser bekannte Palacio ist mit Halbplastiken historischer Persönlichkeiten der Pizarros und Inkas geschmückt.

Hernando und Francisca hatten fünf Kinder und gründeten 1578 das Majorat des Hauses. Doch die Linie der legitimen Nachfahren erlosch und vererbte sich nur über eine außereheliche Tochter von Hernandos Sohn Francisco, Beatriz Pizarro Inga. Halb erblindet starb Hernando 1578 trotz seines ebenfalls sehr abenteuerlichen Lebens als einziger Pizarro im Bett.

1630 verlieh Philipp IV. den Titel "Marqués in Spanien" an einen der letzten Nachkommen dieser Ehe, an Juan Hernando Pizarro. Dieser zog nach La Zarza und nannte es dem Ruhm seiner Vorfahren zu Ehren "La Conquista", die Eroberung.

Der Palast, der 1808 größtenteils dem Rückzug des Generals Dupont zum Opfer fiel, ist in keinem Reiseführer mehr erwähnt.

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Nach einigem Suchen und Fragen stellte sich heraus, dass er sich nahe der heutigen Ortschaft "Conquista de la Sierra" im Besitz eines Bauern befindet; so dass das letzte Zeugnis des alten Hernando inmitten von Kuhfladen und Müll nun ein unwürdiges Dasein fristet. Das Hauptgebäude zeigt noch deutlich zwei Stockwerke und eine sorgfältige Verputzung der Innenwände. Aber wenn nicht bald Restaurierungsmaßnahmen ergriffen werden, scheint der völlige Einsturz nur mehr eine Frage der Zeit. Über dem Tor erkennt man noch gut das alte Wappen der Pizarros. Das Kellergewölbe, die massiven hohen Mauern mit ihren zahlreichen Schießscharten und der unversehrte Turm zeugen jedoch noch vom kriegerischen Stolz der Familie, die von hier auszog, um am anderen Ende der Welt ein Reich zu erobern.

Text + Fotos: Felix Hinz





[art_2] Spanien: Eine Stadt schwelgt im Barock
Die Sevillaner Architektendynastie der Figueroa

Es war eine Wiedergeburt nach apokalyptischem Untergang. Sevilla, Handelszentrum und reichste Metropole des spanischen Weltimperiums, war 1649 von der schlimmsten Katastrophe seiner langen Geschichte heimgesucht worden. Die große Pest hatte die Hälfte aller Einwohner der damals viertgrößten Stadt Europas das Leben gekostet. Innerhalb weniger Monate starben ca. 80.000 Menschen, die von den Überlebenden - stets verfolgt von der Angst vor Ansteckung - meist in anonyme Massengräber geworfen wurden, in denen sich die Leichenberge türmten. Es schlug die Stunde Null für Sevilla, alles schien still zu stehen.

Während der folgenden Jahrzehnte aber erholte sich die Stadt langsam von diesem Schrecken und eroberte ihren sprichwörtlichen Stolz zurück. Der Schöpfer dieser Wiedergeburt wurde ein Jahr nach dem Untergang geboren, allerdings nicht in Sevilla, sondern in der kastilischen Provinz Cuenca. Als Jugendlicher kam Leonardo de Figueroa in die Stadt am Guadalquivir und machte sich schnell als herausragender Architekt einen Namen.

1674- 1679

Links: Die Fassade der Kirche des Hospital de la Caridad ist das erste gesicherte Werk von Leonardo de Figueroa als Architekt in Sevilla, ein Gemeinschaftsprojekt mit Sánchez Falconete
Rechts: Der originelle Doppel- Patio des Hospitals, getrennt durch eine elegante Säulengalerie, war der erste architektonische Paukenschlag von Figueroa

La Caridad


Erstmals taucht der Name Leonardo de Figueroa im Zusammenhang mit zwei architektonischen Großprojekten in den 1670er Jahren auf. Beim Bau des Hospital de la Caridad und des Hospital de los Venerables wirkt er bei der dekorativen Gestaltung der Kirchenfassaden und beim Entwurf der Patios mit. Schon der außergewöhnliche Patio des Hospital de la Caridad erregt Aufmerksamkeit: es ist ein doppelter Innenhof, getrennt durch eine doppelte Säulengalerie.

1691-1709

Links: Frontfassade der majestätischen Magdalena-Kirche mit hoher Espadaña (Glockenwand)
Rechts: Hochaltar der Capilla Sacramental im rechten Seitenschiff der Kirche, mit schöner Inmaculada des Bildhauers Duque Cornejo (18. Jh.)

La Magdalena


Im Jahr 1691 gelingt Leonardo de Figueroa der Durchbruch: man überträgt ihm die Bauleitung für die neue Klosterkirche der Dominikaner - ein Prestigeobjekt. Am ersten Adventssonntag 1691 war die alte Kirche eingestürzt, ein Neubau dringend erforderlich und die Dominikaner wollten dabei nicht sparen, denn schließlich sollten ihre Rivalen um die Gunst der Gläubigen, die Franziskaner und die Jesuiten, architektonisch übertrumpft werden. Figueroa entwirft dazu eine dreischiffige Barockbasilika, in die er eine Seitenkapelle, die als einziger Bauteil der alten Mudéjarkirche " überlebt" hat, integriert. Während des Neubaus dieser heute der heiligen Magdalena gewidmeten Kirche zieht er alle Register seines Könnens: er krönt die sehr hohe Hauptfassade mit einer zweifachen Espadaña (Glockenwand), eingefasst von salomonischen Säulen und getrennt durch einen Aufbau, der an einen Hochaltar erinnert. Die Fensterrose wirkt durch den eingesetzten Keramikschmuck wie ein eingefasster Diamant und eine Sonnenuhr hatte bis dahin noch keine Sevillaner Kirche auf ihrer Fassade.

Noch mehr Erstaunen löst die Kuppel aus: achteckig, versehen mit Fenstern, die aussehen wie vierblättrige Kleeblätter; von der Laterne der Kuppel werfen steile Fenster ihr Licht nach unten, bevor der ganze Aufbau in einer schmiedeeisernen Krone mit Kreuz gipfelt. Auch bei der Kuppelgestaltung hat Figueroa zwei seit der arabischen Epoche traditionelle andalusische Baumaterialien wieder entdeckt, die während der Epoche der Renaissance fast " vergessen" waren: Ziegel und vor allem Keramikelemente - und zwar nicht wie üblich als Kachelbild, sondern Keramik als skulpturaler Schmuck. Man kann Blumen und Wappen aus - vorwiegend blauer und dunkelgrüner - Keramik erkennen. Über dieser schon einfallsreichen Dekoration hat Figueroa ganz oben unter der Krone der Kuppel sozusagen als letztes Ausrufezeichen, um die Originalität der Komposition zu unterstreichen, " Inka- Figuren" anbringen lassen, die in einem Kreis unter der Krone stehen. Solche indianisch aussehenden Skulpturen kannte man vorher nur von Kirchenfassaden aus Peru oder Mexiko.

Leider kann man all diese wunderbaren Details, die inzwischen natürlich auch schon Spuren von Verwitterung aufweisen, von unten als normaler Passant kaum erkennen. Man müsste schon über die Magdalena- Kirche fliegen oder das Glück haben, eine Dachgeschosswohnung gegenüber zu besitzen, um diese innovative Dekoration Figueroas gebührend bewundern zu können.

1696-1712

Links: Fassade und Kuppel der grössten Barockkirche Sevillas, Iglesia del Salvador, von Figueroa erbaut in der für ihn typischen Kombination von roten Ziegeln und gelbem Sandstein
Rechts: Turm von El Salvador: ein ehemaliges Minarett aus dem 11. Jahrhundert wurde mit barockem Glockenturmaufsatz überbaut

El Salvador


Wenig später, noch während der Bauarbeiten an der Magdalena- Kirche, die bis 1709 andauern, bekommt der erfolgreiche Architekt 1696 einen Auftrag von noch größerer Dimension. Er soll den Plan für einen Neubau auf dem Areal der ältesten Hauptmoschee Sevillas, der Mezquita Ibn Adabbas, entwerfen. Diese Moschee war im 10. Jahrhundert erbaut worden, wurde seit dem 13. Jahrhundert als Kirche genutzt, befindet sich aber im 17. Jahrhundert in endgültig ruinösem Zustand. Nachdem die Ruine der Moschee bereits 1671 abgerissen wurden, beginnen die Bauarbeiten für einen ambitionierten Tempel in modischem Barock. Allerdings müssen zwei Architekten nacheinander erleben, wie ihre halb fertige Kirche in sich zusammen stürzt. Es ist, als ob der Himmel will, dass nur Leonardo de Figueroa, der neue Stern unter den Baumeistern Sevillas, dieses Projekt ausführen soll. Und so übernimmt Figueroa 1696 den Auftrag, an zentraler Stelle die größte Kirche Sevillas zu errichten.

In nur 16 Jahren - bis 1712 - entsteht die majestätische Erlöserkirche (Iglesia del Salvador), für die Figueroa erstaunlicherweise im Gegensatz zu La Magdalena einen eher konservativen, weniger experimentellen Stil wählt. El Salvador erinnert in vielen Details (relativ schmucklose Fassade, große, strenge Kuppel ohne überbordende Dekoration) mehr an einen Renaissance- Tempel als an eine Barockkirche. Dies mag auch im Sinne der adeligen Auftraggeber gewesen sein, die einen großen und großartigen Bau ohne Experimente wünschten.

1699-1730

Links: Die das ganze Macarena- Viertel beherrschende Kuppel von San Luis de los Franceses, der von Figueroa erbauten Jesuitenkirche - ein barocker Traum!
Rechts: Blick in die Kuppel von San Luis: die Fresken des Barockmalers Lucas Valdés entführen in himmlische Sphären...

San Luis de los Franceses


Links: Nächtlich angestrahlte Fassade der Kirche mit platereseken Elementen, Statuen der Erzengel grüßen aus der Höhe
Rechts: Kuppel von San Luis mit "Engelsgetümmel"


Ganz anders wiederum präsentiert sich das Ergebnis des nächsten Großprojekts, das Figueroa fast gleichzeitig mit El Salvador ab 1699 in Angriff nimmt: die Kirche San Luis de los Franceses. Dieser Neubau von ebenfalls nicht gerade bescheidenen Dimensionen ist ein Auftrag der Jesuiten. Wir wissen nicht, ob sie dem Architekten mehr zahlten als die Dominikaner, aber alle, die staunend vor dem 1730 abgeschlossenen Bau stehen, werden dies vermuten. Mag auch die Magdalena- Kirche größer sein und bedeutendere Kunstwerke in ihrem Innern aufbewahren, rein architektonisch haben die Jesuiten in Sevilla das Kirchen- Duell gegen die Dominikaner gewonnen. Denn hier konnte Leonardo de Figueroa sich mit seiner ganzen barocken Phantasie austoben, die er bei El Salvador noch in vornehmen Schranken hielt. San Luis de los Franceses ist ein Zentralbau, ganz dominiert von der enormen Kuppelkonstruktion, die sich zwischen den Doppeltürmen erhebt. Diese Jesuitenkirche gehört zu den spektakulärsten Barockbauten Europas und wirkte zugleich wie die architektonische Trompetenfanfare einer Stadt, die ihre stolze Wiedergeburt nach der größten Katastrophe demonstrieren wollte. Die Schmuckelemente sind sowohl an Kuppel und Fassade als auch im Innenraum sehr ideenreich und in ihrer Fülle Schwindel erregend.

Ausgehend vom bewundernswert filigranen Fassadenschmuck, der an plateresken Stil erinnert, wandern die Blicke nach oben, verlieren sich zwischen den Säulen, Voluten und Schnörkeln der beiden Glockentürme, die jeweils von Skulpturen der vier Evangelisten und Kirchenväter flankiert werden, bleiben haften auf dem wappenverzierten Giebel des Hauptportals oder den drei Erzengeln, die es bekrönen, gleiten weiter nach oben zur thronenden Kuppel, an der Treppenstufen empor führen zur Laterne, an der sich salomonische Säulen hoch ranken. Und über allem schwebt ein Kreuz aus verschnörkeltem Metall. Diese Kirche ist wirklich wie eine Treppe zum Himmel - auch innen wo man zwischen sieben goldstrahlenden Hochaltären hypnotisiert in das Kuppelgewölbe starrt, in dem es von fliegenden Engeln nur so wimmelt. Umgeben von so vielen himmlischen Wesen und einem Goldglanz, der durch Hunderte von winzigen Spiegeln, die in den Hochaltären versteckt sind, noch verstärkt wird, fühlt man sich selbst dem Irdischen entrückt und in höheren Sphären schwebend.

Alles in diesem Tempel wurde entworfen, um bombastische Effekte zu erzielen - entlarvend wirkt dabei der Hauptaltar der Kirche, der umrahmt wird von einem imaginären Bühnenvorhang, dessen Falten aus Stuck sind. Alles in San Luis ist großes sakrales Theater, in dem das Publikum hin- und hergerissen werden soll.

Auch über die Vielfalt an Einflüssen, die Figueroa hier zu einem harmonischen Komplex zusammen gebracht hat, kann man nur staunen. Das Ausgangsmodell für San Luis ist zweifellos im italienischen Barock zu suchen, und zwar in Borrominis Sant`Agnese in Rom. Aber Figueroa übernimmt nur das Grundschema, die Ausgestaltung bleibt zutiefst spanisch. Als Baumaterial verwendet er vor allem die seit der arabischen Tradition in Spanien populären Ziegel und Keramik: rote Ziegelsteine in Kombination mit ockergelbem Bruchstein (wie bei El Salvador) und dunkelblaue Keramikfliesen. Die Reliefs der Fassade greifen den plateresken Stil der spanischen Renaissance wieder auf, werden aber dominiert von ultrabarocken Formen und Schnörkeln. Die Dekoration ist so überladen und detailverliebt, dass man Vieles erst auf den zweiten Blick erkennt - z.B. die beiden über dem Eingangsportal drollig grinsenden Löwenköpfe.

Figueroa wurde offenbar große Freiheit bei der Planung dieser märchenhaften Kirche gewährt, aber er musste sie sich erkämpfen. Es wird berichtet, dass die Jesuiten seine Entwürfe kritisierten, und erst als er drohte, alles hinzuwerfen, lenkten sie ein und er konnte seine Vorstellungen durchsetzen. Am Ende waren dann auch die Auftraggeber zufrieden mit dem Werk. Doch konnten sie sich nicht lange an ihrer pompösen Kirche erfreuen, denn nur drei Jahrzehnte später wurde der Orden in Spanien verboten und alle Jesuiten vertrieben (bis 1814).

Die kurze Auseinandersetzung mit den Jesuiten ist die einzige spannende Episode, die aus seinem Leben überliefert ist. Ansonsten scheint Figueroa - ganz im Gegensatz zum Choleriker Valdés Leal oder zum ebenfalls oft aufbrausenden, stolzen Martínez Montañés - ein eher ruhiger Zeitgenosse gewesen zu sein. Er fand aber wohl auch kaum Zeit für Extravaganzen, denn sein Leben bestand vor allem aus unermüdlicher Arbeit. Er baute und baute an seinem neuen, barocken Sevilla, gab der Stadt nach der großen Krise ein neues glanzvolles Gesicht. Allein im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts arbeitet er nicht nur an der Fertigstellung von La Magdalena, El Salvador und San Luis, den drei größten Barockkirchen Sevillas, sondern entwirft auch Baupläne für das Kloster San Acasio (existiert heute nicht mehr), die Doppelkirche von San Antonio Abad, die Montserrat- Kapelle, sowie diverse Privatpaläste. In den 1720er Jahren erhält er immer mehr Unterstützung durch seine Söhne Matías de Figueroa (1698 - 1765) und Ambrosio de Figueroa (1700 - 1775), beide ebenfalls hervorragende Architekten. Später wird sogar sein Enkel Antonio Matías de Figueroa (* 1734) den selben Berufsweg einschlagen. Es ist also eine ganze Architektendynastie, welche das Erscheinungsbild Sevillas bis heute prägt und für Andalusien ähnlich bedeutend ist wie die fünf Churriguera- Brüder für den kastilischen Barock.

Bei der Betrachtung des Spätwerks von Leonardo de Figueroa ist oft schwer zu sagen, ob diese Prachtbauten noch von ihm oder schon von seinen Söhnen entworfen wurden. Die meisten Kunsthistoriker gehen davon aus, dass die Pläne noch vom Vater stammen, während die praktische Durchführung und Überwachung der Bauarbeiten schon Aufgabe der Söhne Matías und Ambrosio war. Dafür spricht auch, dass der Gesundheitszustand von Leonardo sich im letzten Jahrzehnt seines Lebens so dramatisch verschlechtert, dass er 1722 ein erstes Testament diktierte.

1724- 1725

Links: Blick in den Haupt- Patio des ehemaligen Klosters La Merced, seit der Säkularisierung 1835 das Museum der Schönen Künste Sevillas
Rechts: Patio des Museums der Schönen Künste, Leonardo de Figueroa gestaltete nur die Innenhöfe neu, Kloster und Kirche sind älter und wurden schon um 1600 erbaut

Convento de la Merced


1722- 1736

Links: Das Hauptwerk von Leonardo de Figueroa, von seinem Sohn Matías nach seinem Tod vollendet: der Palacio de San Telmo, wichtigster Barockpalast Andalusiens - das effektvolle Portal wirkt wie ein riesiger Hochaltar
Rechts: Nordfassade von San Telmo nächtlich angestrahlt und bekrönt von den Statuen berühmter Sevillaner

Palacio de San Telmo


Links: Hauptfassade von San Telmo, in der typischen Figuero- Kombination von ziegelrot und ockergelb
Rechts: Hauptportal von San Telmo, dem Palast der als Seefahrerschule gegründet wurde, mit bizarr illuminierten Statuen


Links: Palacio de San Telmo: Südfassade vom Guadalquivir aus gesehen
Rechts: Südturm von San Telmo mit Bougainvillea- Pracht


Nur ein Jahr zuvor hat er die Bauleitung für sein Opus Magnum übernommen - eines der wenigen profanen Gebäude, das unter seiner Regie entsteht: den Palacio de San Telmo (1721 - 1736). Erbaut wurde der Komplex aber nicht als Palast, sondern als Universität für Nautik und Seefahrt, in der Waisenkinder für den Dienst in der Königlichen Armada ausgebildet werden sollten. Erst später im 19. Jahrhundert wird er von Mitgliedern der spanischen Königsfamilie als Palast bewohnt, heute ist er Amtssitz des Präsidenten von Andalusien. Auch bei diesem großen, vierflügeligen Profanbau mit Patio wendet Figueroa die Kombination von dunkelroten Ziegeln mit gelbem Stein an.

Der Palast, der seine repräsentative Hauptfassade dem Ufer des Guadalquivir zuwendet, besitzt zwei Stockwerke und nur die Ecktürme und das Hauptportal sind dreistöckig. Mit diesem imposanten Portal haben die Figueroas ihrer Heimatstadt Sevilla ein Monument geschenkt, dessen Figuren wie in einem barocken Triumphmarsch in Erscheinung treten - ein Monument, das ähnlich wie El Salvador und San Luis die neue Blüte der " Königin der Ozeane" (Fernando de Herrera über Sevilla) demonstrieren sollte. Ein ganzer Katalog von Symbolen aus dem Bereich Nautik und Seefahrt taucht in der Dekoration des San Telmo Palasts auf. Der zentrale, halbkreisförmige Balkon des Hauptportals wirkt wie der Bug eines Schiffes. Die vier Atlanten, die den Balkon stützen, sehen aus wie Meeresgötter. Wenn man direkt unter dem Eingang steht, scheinen diese zum Sprung ansetzenden Skulpturen auf die eintretenden Besucher herabzustürzen.

Alles an dieser Fassade wirkt ungeheuer dynamisch: die halb springenden, halb stürzenden Atlanten, die geschwungenen Formen; selbst in die Säulen hat man Wellenmuster eingraviert. Über dem von dorischen Säulen flankierten Eingangstor thront der Aussichtsbalkon, eingerahmt von jeweils drei jonischen Säulen, an denen Statuen lehnen - allegorische Darstellungen von Künsten und Wissenschaften. Ganz oben, alle Blicke auf sich ziehend, steht zwischen korinthischen Säulenpaaren der heilige Telmo, Schutzpatron der Seefahrer. Sehr effektvoll erscheint die Statue San Telmos in einem ovalen Bogen der hier durchbrochenen Fassade vor dem blauen Himmel und blickt auf den Guadalquivir, über den soviel Reichtum aus allen Kontinenten nach Sevilla transportiert wurde.

Leonardo de Figueroa arbeitet an diesem prunksüchtigen Portal, das sich wie ein strahlendweißer Triumphbogen über dem Flussufer erhebt, erneut zusammen mit den gleichen Künstlern, die an der Ausgestaltung von San Luis beteiligt waren, vor allem mit dem Bildhauer Duque Cornejo, von dem alle Skulpturen stammen.

1722-1736

Bild: An die mittelalterliche Mudéjar- Kirche Santa Catalina fügte Figueroa die von seinen Söhnen nach seinem Tod vollendete Sakramentskapelle an - ein Meisterwerk des Ultrabarocks in Spanien und trotz kleiner Dimensionen ein geniales Gemeinschaftswerk des Familienclans

Santa Catalina:
Capilla Sacramental


Gleichzeitig mit San Telmo entwerfen Figueroa und seine Söhne ein zwar sehr viel kleineres, aber ebenso geniales Bauwerk: die Sakramentskapelle für die Kirche Santa Catalina. Diese erhebt sich mit einer achteckigen, sehr eleganten Kuppel über das Seitenschiff der alten Kirche. Schlank und hoch gestreckt, rhythmisch gegliedert mit hervorspringenden Gesimsen und Kapitellen, überstülpt mit einem sehr originellen Türmchen, das sich dreht wie eine Wendeltreppe, wirkt die ganze Kuppel fast wie eine abstrakte Skulptur. Ganz oben grüßt wie so oft die blendend weiße Symbolgestalt des Glaubens mit Kreuz und Krone. Innen fühlt man sich wie in einer goldenen Tropfsteinhöhle. Von allen Seiten wird man bombardiert mit wuchernder Dekoration, die nach dem Grundsatz des horror vacui keinen Zentimeter frei gelassen hat; eine ultrabarocke Orgie von Farben und Formen, goldglänzenden Ornamenten und niedlich aus den Gewölben purzelnden Engelchen. Durch eine beeindruckende Lichtregie beim Kuppelbau werden je nach Tageszeit bestimmte Details besonders strahlend hervorgehoben.

Leonardo de Figueroa sagte stolz, dass diese Kapelle nach ihrer Fertigstellung " vielleicht die beste der Stadt sein würde" . Aber er erlebt weder die Vollendung dieser Kapelle noch die von San Telmo, denn er stirbt 1730, sechs Jahre bevor die Bauarbeiten abgeschlossen werden.

ca. 1750

Links: Etwa zwei Jahrzehnte nach dem Tod seines Vaters baute Ambrosio de Figueroa im großen Komplex des Kartäuserklosters Santa María de las Cuevas (La Cartuja) die spätbarocke Kapelle am Eingangsportal: Hochaltar aus rotem "falschem" Marmor
Rechts: Blick auf die Kuppel der Kapelle, die als einziger Bereich des Klausurklosters der Öffentlichkeit zugänglich war

Cartuja:
Capilla Pública


ca. 1760

Bild: Diese winzige Rokoko- Kapelle des "Christus der Schutzlosen" wurde von Ambrosio de Figueroa im Patio der Kirche El Salvador erbaut und im Innern ganz mit Azulejos verkleidet

Capilla del Cristo
de los Desamparados

Seine Söhne Matías und Ambrosio führen das Werk des Vaters fort. Und beide planen neue, wichtige Projekte, wobei Matías eine eher klassizistische Linie verfolgt (Kirche San Jacinto in Triana, um 1760) und Ambrosio mehr in die Richtung des Rokoko tendiert (Capilla del Cristo de los Desamparados). Insgesamt hat die Familie Figueroa fast hundert Jahre lang (1670 - 1770) die Architektur Sevillas geprägt und der Kunstmetropole des spanischen Weltreichs nach der Pest- Krise ihr Selbstbewusstsein zurück gegeben. Bis heute dominieren ihre emblematischen Barockbauten im charakteristischen dunkelrot und ockergelb die Stadtlandschaft mit ihren Kuppeln - und viele ihrer Entwürfe wurden in den spanischen Vizekönigreichen jenseits des Atlantik kopiert. Reduziert auf den architektonischen Aspekt ist es nicht übertrieben zu sagen: Sevillaner Barock ist Figueroa- Barock.


Text + Fotos: Berthold Volberg





[art_3] Mexiko: Tzetzal Tzotzil

Der staubige, steile Weg führt durch eine immergrüne Landschaft. Es ist sieben Uhr in der Früh und die Sonne wärmt noch nicht richtig. Eine Stunde Fußmarsch durch die dicht bewachsenen Berge Chiapas im Süden von Mexiko liegen vor dem mit einem schweren Rucksack bepackten Adin. Der 24-jährige hat heute viel vor: 60 Bienenstöcke muss er kontrollieren und das Gelände in Ordnung bringen.

Bei den Bienenstöcken angekommen, gönnt sich Adin keine Pause, sondern macht sich gleich daran, mit der Machete trockene Holzspäne zu schlagen, um damit seine Imkerpfeife zu füllen. Dann öffnet er vorsichtig die Kästen und bläst etwas Rauch hinein.


Die Bienen summen einmal auf und beruhigen sich wieder. Langsam und konzentriert zieht Adin die einzelnen Waben heraus. Zum Schutz trägt er nur einen Imkerhut, Handschuhe hat er keine. Doch gestochen wird er nur selten – mit Bienen umzugehen, das hat er schon als 13-jähriger von seinem Vater gelernt. Nur mit den " mutigen Bienen" hat er manchmal Schwierigkeiten. Um seine Bienenstöcke vor größeren Tieren und neidischen Nachbarn zu schützen, hat er vier Killerbienenvölker, die seinen Besitz gegen Eindringlinge verteidigen. Und wenn die ihn doch einmal stechen, dann nimmt er das gelassen hin. " Meine Familie verdankt den Bienen alles. Mein Vater war noch ein abhängiger Landarbeiter und lernte bei seinem Patron alles über Bienen. Er sparte ein wenig Geld und kaufte seine erste eigene Königin. Damit fing unsere Unabhängigkeit an, denn mit dem Gewinn aus dem Honig kaufte er das erste Stück Land, auf dem er dann Kaffee anpflanzte." Doch der Aufstieg der Familie wäre ohne den Fairen Handel undenkbar gewesen: " Das wichtige am Fairen Handel ist für uns nicht nur der höhere Preis, den wir für den Honig bekommen, sondern vor allem, dass wir überhaupt einen Absatzmarkt für unser Produkt haben. Denn hier in Mexiko könnte ich meinen Honig oft gar nicht verkaufen", erklärt Adin.

Es ist Mittag geworden, Zeit für eine Pause. Am Rande der Bienenstöcke packt Adin im Schatten eines Baumes sein Mittagessen aus: Eine Wasserflasche und gemahlenen Mais. Es ist ein wunderschöner Platz: Kein Straßenlärm stört die friedliche Stille aus Bienensummen und Vogelgezwitscher, keine Straße durchschneidet das dichte Grün. In der Mittagshitze duften die Blumen und Büsche noch intensiver. Zweimal in der Woche kommt Adin hier her um sich um seine Bienen zu kümmern. An den übrigen Tagen arbeitet er auf seiner Kaffeepflanzung. Mit einem Zwinkern in den Augen meint er, die Arbeit in den Bienenstöcken sei fast wie Urlaub, denn die Bienen seien wegen der Kälte vor acht Uhr in der Frühe so gereizt, dass er dort nichts ausrichten und deshalb ausschlafen könne. Wenn er in der Kaffeepflanzung arbeite, stehe er nicht um sechs, sondern um vier Uhr auf. " Reich kann ich mit dem Honig nicht werden, aber er ist eine gute zusätzliche Einnahmequelle neben dem Kaffee. Ich verdienen jetzt dank dem Fairen Handel soviel, dass wir ein Mal in der Woche Fleisch essen können. Und wir tragen jetzt neue Kleider. Zum ersten Mal in meinem Leben trage ich keine gebrauchten Hosen und Hemden", sagt Adin mit sichtlichem Stolz.

Die Pause ist vorbei, Adin macht sich wieder an die Arbeit. Mit seiner Machete schneidet er das hochgewachsene Gras zwischen den Bienenkästen. Es ist wichtig, dass es kurzgehalten wird und den Bienen nicht den Eingang zu ihren Stöcken versperrt. Adin hockt auf dem Boden und schlägt ein ums andere Mal mit dem langen Messer zu. Stunden später schaut er prüfend hoch zur Sonne.

Es ist Zeit aufzubrechen, wenn er noch bei Tageslicht zu Hause ankommen und nicht im Dunkeln durch das unwegsame Gelände stolpern will. Adin packt ein paar Waben mit männlichen Larven zusammen mit den Wachsplatten, der Drahtrolle, der Machete und dem Imkerhut in den Rucksack. An dessen Seite baumelt die Imkerpfeife. Das scheint eine ganz schön schwere Last zu sein – doch Adin winkt lachend ab. " Das ist noch gar nichts. Wenn ich den Honig ernte, dann wird es schwer. 60 Kilo habe ich immer den weiten Weg geschleppt. Aber im letzten Jahr habe ich dank des Fairen Handels soviel verdient, dass ich mir ein Pferd kaufen konnte. Das nimmt mir jetzt diese schwere Knochenarbeit ab." Seinen Honig liefert Adin bei der örtlichen Kooperative Miel y Café ab, einer Unterorganisation von Tzetzal Tzotzil. Sie würden es mit ihrem Honig auch gerne auf dem internationalen freien Markt versuchen, doch das ist schwierig, denn die Mitglieder können dafür nicht genügend Honig produzieren. Adin ist zwar ein geschickter Züchter, der seine Königinnen auch gut verkauft. Doch in der Gegend wachsen nicht genügend Blumen um die Honigproduktion noch wesentlich ausweiten zu können. " Wir haben also nur die Möglichkeit, unseren Honig an den Fairen Handel zu verkaufen."

Aolimba wartet am Dorfeingang. Jeden Abend steht sie hier um ihren Vater in Empfang zu nehmen. Noch ist die Dreijährige sein einziges Kind. Ernsthaft erklärt sie, dass sie Adin helfen möchte und besteht darauf, ihm die Machete abzunehmen, die fast so lang ist wie das kleine Mädchen. Aufgeregt erzählt sie dem Vater von den Abenteuern ihres Tages, während die beiden Hand in Hand nach Hause gehen. Dort hat Adins Frau Rosa in dem offenen Küchenhaus, das aus rohen Holzbrettern gezimmert ist, schon das Feuer auf dem Herd entfacht. Sie hat den Tag mit der Wäsche verbracht - per Hand und mit kaltem Wasser. An einem Holzbalken baumelt ein Sack mit Maismehl, an den die Mäuse nicht herankommen können. Rosa treibt die Hühner hinaus und formt geschickt mit der Hand Tortillas, die sie über der Glut backt. In einem Topf köchelt Bohnenmus. Den Höhepunkt der Mahlzeit hat Adin dabei: Die Drohnenlarven. Die Waben werden in der Pfanne geschmolzen, das flüssige Wachs abgegossen und die Larven mit Salz angeröstet.

Mit dem Bohnenmus zusammen in die Tortillas gewickelt, ergibt das ein nahrhaftes, proteinhaltiges Gericht, auf das Aolimba schon ungeduldig wartet. Die Nacht bricht herein, und während sich die Hühner im Baum einen Ast zum Schlafen suchen, trinkt Adin einen starken Kaffee – sein Arbeitstag ist noch nicht zu Ende.


"Ich möchte alle meine Bienenkästen austauschen, denn wenn sie mit Farbe gestrichen sind, dann ist der Honig nicht rein organisch", erklärt er und sucht das Werkzeug aus dem Küchenregal zusammen. Alle seine Bienenkästen schreinert Adin selber. Es braucht dazu nicht viel: Holz, etwas Draht und Geschick. Die fertigen Kästen wachst er zum Schutz gegen Nässe mit seinem eigenen Bienenwachs. Zwei volle Tage braucht er um einen Bienenstock fertig zu stellen. Um rein organischen Honig produzieren zu können, musste er sich auch etwas anderes als Gift im Kampf gegen die Ameisen überlegen, die immer wieder Raubzüge gegen die Bienen führen. Stolz zeigt er seine Erfindung: Eine aus Beton gegossene große Schale, die mit Wasser gefüllt wird. Darauf kommt dann ein Block mit dem Bienenstock, so dass die Ameisen nicht an die Kästen gelangen können. "Ich bin heilfroh, dass ich mein Pferd habe, alleine würde ich diese Ungetüme nie zu dem Bienenstock bringen können", erklärt Adin.

"Ich arbeite sehr hart. Manche Leute fragen mich, warum ich das tue, ich hätte doch schon alles: Ein Haus aus Stein, Kleider und gutes Essen. Aber ich muss auch an die Zukunft meiner Kinder denken. Wenn ich ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen will, dann muss ich dafür Geld zur Seite legen. Und das kann ich nur, weil mir die gepa den Honig abnimmt."

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
276 Seiten
36 detaillierte Karten und Ortspläne, Umschlagkarten, Register, Griffmarken, 120 Farbfotos ISBN 3-89662-338-9
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2005





[art_4] Brasilien: Internationalität und Künstlertum
Auf der Suche nach den Wurzeln der Familie Mann in Brasilien

Auszüge aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung Paratii - Segredos Coloridos, Buddenbrookhaus Lübeck: 10.12.2006 bis 25.02.2007

Wenn ab heute (10. Dezember) bis zum 25. Februar die brasilianische Hafenstadt Paraty - und damit die Geburtsstadt von Julia Mann, der Mutter von Thomas und Heinrich, - in den Fotos von Britta Morisse Pimentel (Interview) zu Gast in unseren Räumen sein wird, so ist das in gewisser Weise ein Blick zurück auf die internationalen Wurzeln der Familie Mann.

Indem Südamerika zu Gast in Lübeck ist, ist es aber auch ein Blick auf die künstlerischen Wurzeln im sonst so asketischen und auf Leistungsethos ausgerichteten Haushalt des Senators Mann. Denn, so stellt Thomas Mann 1936 fest:

"Frage ich mich nach der erblichen Herkunft meiner Anlagen, so muß ich an Goethe's berühmtes Verschen denken und feststellen, daß auch ich `des Lebens ernstes Führen´ vom Vater, die `Frohnatur´ aber, das ist die künstlerisch-sinnliche Richtung und - im weitesten Sinne des Wortes - die `Lust zu fabulieren´, von der Mutter habe", schreibt er in seinem 1936 verfaßten "Lebenslauf".

Die Ausstellung ist eine künstlerische Annäherung, nicht an das Leben Julia Manns, sondern an einen Ort, der für das Leben der Familie Mann eine zentrale Bedeutung erhält. Insofern versucht die Ausstellung vielleicht auch so etwas wie eine fotografische Annäherung an die unsichtbaren Wurzeln eines internationalen Künstlertums.

Fünf Meter über dem Meer und auf der Karte nach Augenmaß genau zwischen São Paulo und Rio de Janeiro an der Küste des Atlantischen Ozeans liegt Paraty.

Der aktuelle Baedeker1 "Brasilien" zählt die 1667 gegründete und aktuell 27.000 Einwohner zählende Hafenstadt zu den "Top-Reisezielen" des Landes, die man auf keinen Fall versäumen darf und schreibt: "Das im 17. Jahrhundert gegründete Hafenstädtchen Paratii erlebte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wahre Blütezeit dank des in Minas Gerais geschürften Goldes, das von hier in das 261 Kilometer entfernte Rio de Janeiro verschifft wurde. (…) Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung zählte die Stadt 1700 Häuser sowie 150 Zuckerrohrplantagen und Brennereien: neun auf dem Festland und den vorgelagerten Inseln angelegte Festungen schützten den Gold- und Zuckerausfuhrhafen vor Angriffen."

Dieser Höhepunkt - zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts - fällt zusammen mit dem Kaffeeboom und dem um 1855 systematisch betriebenen Ausbau des Hafens und der Eisenbahn.
Zu dieser Zeit, im Jahre 1851 wird Julia da Silva Bruhns, die spätere Frau von Senator Thomas Johann Heinrich und Mutter von Heinrich und Thomas Mann, geboren.

In ihren knapp 100 Jahre später erstmals veröffentlichten Memoiren "Erinnerungen aus Dodos Kindheit" entführt uns Dodo (Julia) tief in den brasilianischen Dschungel und die Atmosphäre kolonialer Herrschaft:

"Im Urwalde, nahe dem Atlantischen Ozean, südlich des Äquators, war es, wo DODO das Licht der Welt erblickte. Unter Affen und Papageien, wie ihr der Pai (Vater) später erzählte. Sie erschien, als Pai und Mai im Begriffe waren von einer kleinen Küstenstadt in die andere überzusiedeln. Eine Negerschar nahm sich der drei älteren Kinder und des Gepäckes an und marschierte voraus, während Pai und Mai, welche zu Pferde waren, unter Zurückbehaltung einer Anzahl von Negern zu ihrer Bedienung, eine ausgedehnte Pause in der Reise machten. Danach ging es in das neue Domizil, wo Dodo zwischen Meer und Urwald aufwuchs."

Dodo beschreibt ihre abenteuerliche Kindheit, das Leben im brasilianischen Urwald, zwischen exotischen Tieren, süßen Früchten und schillernden Pflanzen, als abwechslungsreich.


Jedoch sollte schon bald ein einschneidendes Ereignis einen tief greifenden Wandel ihres Lebens herbeiführen: War ihr Vater Johann Ludwig Hermann Bruhns 1840 als 19-jähriger nach Brasilien gegangen, um Zuckerrohr und Kaffee anzubauen, so musste Julia bereits als 7-jähriges Kind den Tod ihrer Mutter hinnehmen, ein Verlust, der Julia "das ganze Leben über begleitet."

Noch im gleichen Jahr, also 1858, ging der Vater mit seinen Kindern zurück in die Hansestadt Lübeck, wo sich seine Großmutter um das Kind kümmern wollte.

Heinrich Mann hat seiner Mutter in dem 1907 erschienenen Roman "Zwischen den Rassen" ein literarisches Denkmal gesetzt. In seinen Worten wird die Ankunft zu einem Wechselbad der Gefühle, zu einer Erfahrung der äußersten Gegensätze. Bei ihm heißt es und man sieht - ohne dass er die Stadt beim Namen nennt - die lokalen Gegebenheiten durchschimmern:

"Eines Morgens dann eine Fahrt mit der Bahn: und da waren sie in einem seltsamen Städtchen mit höckrigen Häusern und mit Gassen, die über Berge kletterten und rutschten - (…)."

Es waren einschneidende Kontraste, oder wie es Dieter Strauss der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts São Paulo zusammenfasste:

"Im Gegensatz zu dem sonnigen und fröhlichen Ambiente des katholischen und tropischen Paraty, fand sich Dodo in Lübeck in einer Stadt mit überwiegend kaltem Klima, düsteren mittelalterlich aussehenden Häusern und einer allgegenwärtigen, typisch lutherischen Strenge. Dieser Zwiespalt prägt ihr Leben."

1869 folgt auf die Verlobung auch die Heirat Julias mit dem Kaufmann Thomas Johann Heinrich Mann. Zwei Jahre später wird Heinrich und 1875 schließlich Thomas geboren, diesen folgen bis 1890 Viktor, Carla und Julia. Im Jahr 1891 stirbt ihr Thomas Johann Heinrich.

In seinem Roman "Doktor Faustus" hat Thomas Mann eine kleine Momentaufnahme seiner Mutter verewigt: "Ihre Bewandtnisse waren leicht zu durchschauen. Dunkeläugig, das braune, zierlich gekräuselte Haar nur wenig ergraut, von damenhafter Haltung, elfenbeinfarbener Teint und angenehmen, noch ziemlich wohlerhaltenen Gesichtszügen, hatte sie ein Leben lang als gefeiertes Mitglied einer patrizischen Gesellschaft repräsentiert, einem dienstbotenreichen und verpflichtungsvollen Haushalt vorgestanden. Nach dem Tod ihres Gatten (…), bei stark herabgesetzten Verhältnissen und nicht ganz zu bewahrender Stellung in dem gewohnten Milieu, waren Wünsche einer unerschöpften und wahrscheinlich nie recht befriedigten Lebenslust in ihr freigeworden, die auf ein interessanteres Nachspiel ihres Lebens in menschlich wärmerer Atmosphäre abgezielt hatten."

Julia Mann, die 1923 stirbt, verbrachte ihre letzten Tage in München, sie war nie wieder nach Brasilien in die kleine Hafenstadt Paraty zurückgekehrt.

Blicken wir zum Sprung über den Ozean und in die Gegenwart noch einmal in den aktuellen Baedecker. Verlassen hatten wir dort die Stadt zu Zeiten des Gold-, Kaffee- und Zuckerrohrbooms. Es heißt weiter über das heute denkmalgeschützte Städtchen:

"Nach der Öffnung des Camino de Garcia Pais, eines direkten Verbindungsweges zwischen Minas Gerais und Rio de Janeiro, geriet Paratii jedoch schnell in Vergessenheit; vielleicht", so die Vermutung der Autoren weiter, "konnte es aber gerade aus diesem Grund einen Großteil seiner kolonialen Bausubstanz erhalten, die der Stadt zusammen mit ihrer wundervollen Lage vor den mit Atlantischem Regenwald überzogenen Bergen, einen außergewöhnlichen Reiz verleiht." So weit der Sprung in die Gegenwart.


Paratii - Segredos Coloridos
(Ausstellung Buddenbrookhaus Lübeck 10.12.2006 bis 25.02.2007)


Die Fotografin Britta Morisse Pimentel hat lange Zeit in Brasilien gewohnt, kennt also Mentalität und Sprache des viertgrößten Flächenstaates der Erde. An Paraty interessiert sie nach eigener Aussage das "genügsame, ländliche Leben außerhalb der Metropolen". Es sei, in ihren Augen, das "eigentliche Brasilien". Die Bilder der Ausstellung entstanden in den Jahren 2003-2005. Fotografiert hat die Hamburgerin vor allem in den frühen Morgen- und späteren Abendstunden jenseits des geschäftigen Alltags.

Und so laden die Fotos ein zur Entdeckung der Gegenwart einer künstlerischen Vorgeschichte, aber auch zur Entdeckung einer fremden Kultur. Der dokumentarisch-beobachtende Blick ihrer Fotografien ist empathisch, aufgeschlossen, aber angesiedelt fernab jedes folklorischen Anbiederns.

Auch die Tradition eines durch die zeitgenössischen Medien immer wieder forcierten Exotismus zwischen Sensation und Schaulust ist der Fotografin fremd. Den Aufnahmen geht es im besten Sinne um die Kommunikation der Eigen- und damit auch Fremdartigkeit der brasilianischen Hafenstadt. Die Fotografien nehmen damit eine Vermittlerrolle ein - werden zu Instrumenten der Kommunikation im Prozess der Aneignung, des Verstehens des Fremden.

Ein wichtiges strukturierendes Element ist dabei die Farbe und deren direktes, nicht durch Rahmen und Spiegelungen gebrochenes Erlebnis: kräftiges Rot, intensives Kobaltblau, erdiges Braun und naturverwandtes Flaschengrün zeigen sich als Teil einer von der Natur bestimmten Kultur.

Diese werden von Britta Morisse-Pimentel in für jede Räumlichkeiten neu zu denkende Abfolgen gehängt. Sie sollen aber nicht die serielle Wiederholung, sondern das korrespondierende und kommunikative Element der Farben im gesamten Alltag hervorheben. Gleichzeitig richtet sie unseren Blick durch die Wahl des fotografischen Ausschnitts auf die Besonderheiten des Details. Auf Türgriffe und Schlösser, die Natur oder einfach nur die Topographie des Ortes. Sie bietet uns die Möglichkeiten der Entdeckung: vielleicht könnte man dabei von einer Entdeckung des Besonderen im Normalen sprechen. Dabei überträgt sich der Prozess des Fotografierens von der Künstlerin auf den Betrachter, denn die Künstlerin betont in einem Interview: "Die Fotografie (….)", "sagt sie, "Die Fotografie lehrt mich genauer hinzusehen, besser wahrzunehmen, mehr zu verstehen und tiefere Zusammenhänge zu erblicken. Durch die Fotografie nehme ich sehend am Leben teil, ich erfahre mit den Augen, was geschieht und Menschen bewegt." Gleichwohl bleibt jedoch ein unausdeutbarer Rest, ein Stück unerklärbare Faszination.

Ich möchte Sie nun einladen diese faszinierende Fremdheit, oder um mit dem Untertitel zu sprechen, diese farbigen Geheimnisse zu entdecken, ich möchte sie einladen, für Momente innezuhalten und in einem sinnlichen Erlebnis die eigene Welt mit der Brasiliens zu vergleichen. Vielleicht ist diese Ausstellung ein weiterer Schritt zur Internationalisierung der Familie Mann.

Text: Dr. Michael Grisko
Fotos: Britta Morisse Pimentel


Interview mit der Fotografin Britta Morisse Pimentel
Was fasziniert Sie an der Hafenstadt Paraty?
Die kleine Stadt Paraty (moderne Schreibweise, früher Paratii) finde ich besonders interessant, weil in ihr das brasilianische genügsame, ländliche Leben ausserhalb der Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo zu finden ist. Es orientiert sich an traditionellen Werten, ist einfach und geruhsam und im Ausland wenig bekannt, obwohl es das eigentliche Brasilien ist.

Paraty hat zudem etwas Besonderes zu bieten, weil die Stadt zum Weltkulturerbe gehört. Der alte Stadtkern ist gut erhalten und sehr reizvoll. Die landschaftliche Lage der Stadt, umgeben von Meer und Bergen, ist ungewöhnlich schön.

Was hat das Paraty von heute mit der Geburtsstadt von Julia Mann zu tun?
Daran, dass Paraty der Ort ist, in dem Julia da Silva Bruhns, die spätere Julia Mann geboren wurde, erinnert heute nichts mehr. Die Fazenda Boa Vista liegt ausserhalb der Stadt. Das Wohnhaus, das verfallen ist und zur Erhaltung dringend saniert werden müsste, ist durch Absperrungen eines nahe gelegenen Yachtclubs für Besucher schwer zu erreichen. Die Idee von Frido Mann (Enkel Thomas Manns), dort ein Kulturzentrum zu errichten, ist großartig. Zur Verwirklichung wären jedoch erhebliche finanzielle Mittel aus privater Hand erforderlich, denn der brasilianische Staat leistet bei derartigen Projekten keine Unterstützung.

Was interessiert Sie beim Fotografieren?
In meinem Gedicht "photography, my way of contemplating", geschrieben für die Ausstellung „the bicycles of lucca im Museum Brevard in Florida im Jahre 2003, reflektiere ich, was Fotografieren für mich bedeutet. Die Fotografie ist für mich Ausdrucksmittel zur persönlichen, visuellen Stellungnahme. Sie lehrt mich genauer hinzusehen, besser wahrzunehmen, mehr zu verstehen und tiefere Zusammenhänge zu erblicken. Durch die Arbeit mit der Fotografie nehme ich sehend am Leben teil, ich erfahre mit den Augen, was geschieht und was Menschen bewegt. Durch das Erlebnis des Fotografierens steigere ich meine Aufmerksamkeit, stelle mich technischen Herausforderungen und erlange persönliche Erfüllung, die ich mit anderen Menschen teilen kann. Das kommunikative Element der Fotografie fasziniert mich seit frühster Jugend.

Wie kommt Ihre Motivauswahl zustande? Warum denken Sie, ist die Fotografie das geeignete Medium für Ihre Arbeit?
Die Bearbeitung eines fotografischen Projekts vollzieht sich in drei Schritten, deren Sequenz variieren kann. Außerhalb einer Projektbearbeitung nehme ich den Fotoapparat selten zur Hand. Meist ist Schritt 1 die gedankliche Auseinandersetzung mit einem Thema, Schritt 2 die praktische Umsetzung in die visuelle Darstellung und Schritt 3 die Auswertung und Auswahl der Fotoarbeit für die Ausstellung. Das gesamte Projekt soll möglichst einen kulturell-sozial-künstlerischen Charakter haben und die Form eines Essays annehmen, häufig in Kombination mit kulturellen Ereignissen, historischen oder aktuellen Texten und ausgewählten Beiträgen.


Was ist das besondere an der  Hafenstadt Paraty? Warum ausgerechnet Paraty? Wie kam Ihnen die Idee zu diesem Projekt?
Das Projekt "Paratii - Segredos Coloridos" hat sich spontan beim ersten Besuch der Stadt ergeben. Es folgten zwei weitere Besuche, Kontakte zu den Einwohnern, Gespräche und Lektüre über die Bedeutung vergangenen und gegenwärtigen Lebens in Paraty. Für die erste Ausstellung in der brasilianischen Botschaft Berlin im November 2005 wurde der Kontakt zu Frido Mann hergestellt. Durch die zweite Ausstellung im Goethe Institut Hamburg ergab sich der Kontakt zu Dieter Strauss, ehemals Leiter des Goethe Instituts in São Paulo, heute Institutsleiter in Rabat, Marokko und Autor des Buches "Julia Mann, Brasilien Lübeck, München".

photography, my way of contemplating
the bicycles of lucca

betrachtung
examination and inspection
observation and reflection
andacht
devotion, dedication
nachdenken, nachsinnen
to consider bicycles

meditation
verweilen, vertiefen, verwischen
dasheit
viewing and looking,
dwelling, exploring
resting my eyes
to echo bikes

kontemplation
versunkenheit, hingabe
unter ausschaltung allen wollens
internalizing shadows
nach vorsichtiger erwägung
pursuing colors and images
to contemplate bicycles

wiederholung
repeating, replaying
reiterating
again and again
ergründen, erkennen
to go further, invading
to conquer my bike.

written for exhibit
Museum of Art and Science Brevard
april /may 2003
britta morisse pimentel







[kol_1] Helden Brasiliens: Maria Fumaça und das Spanferkel
Einblicke in das koloniale Tiradentes

Aus weit aufgerissenen Augen starren die Frauen auf die Straße hinaus, ihre in bunte Kleider gehüllten Körper auf die Fensterbretter gelehnt. Sie scheinen zu träumen, doch wenn man ihnen näher kommt, entdeckt man ihre wahre Natur: sie sind aus Holz geschnitzt, und in der ganzen Stadt begegnet man dem neuesten Trend in Sachen Mitbringsel. Im Stadtzentrum, wenn man die Gegend um den zentralen Platz, den Largo das Forras denn so nennen möchte, finden sich zahlreiche kleinere Geschäfte, die dieses und ähnliches Kunsthandwerk anbieten.


Ganz im Gegensatz zu den Frauen aus Holz hat das Spanferkel schon lange seine Augen geschlossen. Mit einem eigens gebastelten Handgrillgerät gibt Chefkoch Dr. Luiz Ney dem bereits einige Stunden über dem Feuer gebratenen Spanferkel den letzten Schliff. "Die Haut muss Blasen werfen, knusprig werden, aber man muss vorsichtig sein, damit das Spanferkel nicht verbrennt."

Von allen Seiten drängen sich die schaulustigen Besucher der Villa Paolucci um das sich unter der Hitze krümmende Ferkel. "Leitão a pururuca" nennt Dr. Luiz Ney seine Spezialität. Eigentlich Arzt von Beruf, lässt er es sich nicht nehmen, jedes Wochenende den Gästen seiner opulenten Pousada dieses extravagante kulinarische Spektakel zu servieren.

Die Pousada, eigentlich eine fürstliche Fazenda aus vergangenen Tagen, grenzt direkt an das kleine Städtchen Tiradentes mit seinen nicht einmal 6.000 Einwohnern. Im Hintergrund richtet sich die beindruckende Gebirgswand der Serra de São José auf, und das Haupthaus der Fazenda ist umringt von 800.000 Quadratmetern reinster Mata Atlântica, dem dichten Regenwald der brasilianischen Küstenregion.

Ob die düsteren Figuren des nur einige Minuten entfernt gelegenen São José Springbrunnens aus dem Jahre 1749 ihre Augen geöffnet haben oder nicht, kann nicht wirklich geklärt werden. Aus ihren Mündern entspringt ein weiter Wasserstrahl, an dem sich die Kinder des Städtchens nach einer deftigen Partie Querfeldeinfußballs erfrischen. Der Springbrunnen soll São José de Botas darstellen, doch niemand kann sagen, wer das war oder sein soll. Einige Meter weiter plätschert das Wasser des kleinen Flusses Santo Antônio daher, und Familien picknicken auf den Wiesen rund um den idyllischen Springbrunnen.


Nur einige hundert Meter weiter steht das Haus des Padre Toledo, in dem sich einst die Verschwörer der ersten brasilianischen Unabhängigkeitsbewegung trafen, um ihre Pläne für eine Loslösung Brasiliens von Portugal zu schmieden. Das war 1788, und heute beherbergt das Haus ein Museum, in dem 250 Jahre alte Möbel einen Eindruck von früheren Wohnwelten vermitteln. So sehen wir das Bett von Carlos Correia de Toledo e Mello, so des Padres vollständiger prunkvoller Name, in dem er wohl in den Jahren zwischen 1777 und 1789 geschlafen hat.

Ein Blick durch die reich verzierten Fenster des Hauses verrät, dass draußen auf den Straßen Tiradentes ein brasilianischer Fernsehsender eine Telenovela vor historischer Kulisse dreht. Überall stehen Technikwagen herum, und böse schimpfen die Touristen auf die moderne Technik, die ihnen die schönsten 18. Jahrhundert-Postkartenmotive verstellt.

Draußen vor der Stadt führt eine Brücke über den Rio das Mortes hinaus zur Bahnstation. Von hier aus fährt am Wochenende zweimal täglich der kleine Zug ins 12 Kilometer entfernt gelegene São João del-Rei ab. Um die Lokomotive, "Maria Fumaça", "Dampfmaria" genannt, drängeln sich die Schaulustigen. Die rumpelige Fahrt mit rauschenden 20 Stundenkilometern an grünen Wiesen zu Füßen der Serra de São José vorbei und dem Rio das Mortes entlang dauert 35 Minuten.

Vor der Station in Tiradentes wartet ein Ochsenwagen, "boi-taxi" genannt, auf Fahrgäste, die es nicht ganz so eilig haben. Während der eine Ochse ganz interessiert daherkommt und vergeblich versucht, das Objektiv der Kamera abzulecken, döst sein Kumpel mit geschlossenen Augen selig vor sich hin.


Ob den beiden wohl bewusst ist, dass ihre kleine Stadt nach Brasiliens Nationalhelden Nummer 1 benannt ist, dem hier im Jahre 1746 geborenen Joaquim José da Silva Xavier, genannt "Tiradentes", der "Zahnzieher", da er in der portugiesischen Kolonialarmee als Zahnarzt tätig war. Ihm zu Ehren erhielt die kleine Stadt nach Abschaffung des Kaiserreichs und Ausrufung der Republik im Jahre 1889 den Namen ihres berühmtesten Sohnes.

Dabei war Tiradentes, will man der jüngeren Geschichtsforschung glauben, gar keine der führenden Persönlichkeiten der Verschwörung von Minas Gerais, die 1789 versuchte, Brasiliens Unabhängigkeit von Portugal zu erzwingen. Eher sieht es so aus, als ob die wirklichen Drahtzieher der Verschwörung den geistig nicht wirklich fitten Tiradentes ans Messer geliefert haben, um den eigenen Kopf zu retten.

Fakt ist jedenfalls, dass Tiradentes der einzige Verschwörer war, der für seinen Verrat an der portugiesischen Krone mit dem Leben bezahlen musste. Während die eigentlichen Köpfe der Verschwörung einige Jahre Zwangsverbannung in Afrika absaßen, teilte man Tiradentes Körper vor den Augen der versammelten Volksmasse von Rio de Janeiro in vier ungleiche Teile.


Wie den beiden berühmten Bildern "Tiradentes esquartejado", "Tiradentes gevierteilt" von Pedro Américo, und "Martírio de Tiradentes", "Das Martyrium von Tiradentes" von Aurélio de Figueiredo zu entnehmen ist, handelte es sich dabei um folgende Körperteile: der Oberkörper samt Armen, dem linken Bein, dem rechten Bein und schließlich dem völlig losgelösten Kopf. So sehen wir einen von den bösen Besatzern Brasiliens hingerichteten Tiradentes, der sein Leben hingab, um sein Volk zu befreien - näher kann man Jesus gar nicht mehr kommen.

Tiradentes Augen sind geschlossen, so wie die des Ochsen. Wovon er wohl träumt?

Text + Fotos: Thomas Milz





[kol_2] Macht Laune: LAN geweile - alles falsch gemacht?

Manchmal will es der krude Zufall, dass wir in mehr oder wenige interessante Situationen schlittern. In meinem speziellen Falle war es das gerade abgeleistete Weihnachtsfest, das ich an Board einer Maschine von LAN verbringen durfte. Weihnachten also in hohen Lüften über dem Ozean. Ich war gespannt. Sehr sogar. In einer Maschine zu hocken, mit lauter unbekannten Gesichtern zusammen zu sein und sich mit Latino-Fluggästen am weihnachtlichen Abend zu berauschen. Und vielleicht hatte ja auch noch die Airline etwas vorbereitet, um sich an diesem Tage nicht lumpen zu lassen. Lasst den Champagner aus den Flaschen!

santiago de chile
Und ehrlicher bzw. normaler hinsichtlich der zu erwartenden kulturellen Unterschiede hätte mein Vierundzwanzigster gar nicht beginnen können: Natürlich hatte der Flieger um über zwei Stunden Verspätung - genügend Zeit also, um sich einen überteuerten Flughafenkaffee zu gönnen.

Der schmeckt zwar nicht wirklich gut, aber seinen Zweck erfüllt er klaglos, hilft dabei, die Augen beim Durchforsten des Zeitungsladens offen zu halten, um den einen oder anderen überbrückenden Lesestoff zu sichern.

Später, dem Lateinamerikafreund brauche ich an dieser Stelle nicht zu sagen, dass es nicht bei den zwei Stunden bleiben sollte, finde ich mich nach Abfertigung und diversen Methoden des Zeittotschlagens in der Wartehalle wieder. Gut gefüllt mit vielen dunklen Gesichtern. Drei haben ihre Gitarren ausgepackt und spielen gemeinsam ein paar Lieder. Leise höre ich Gesang und einige wenige Passagiere summen dazu. Na, das lässt doch hoffen auf ein lustiges Fest an Board der 737. Und später kommt ja auch noch Wein.

Leider, ich muss es an dieser Stelle vorweg nehmen, überträgt sich nichts von dem viel versprechendem Beginn der Wartehalle in den Flieger. Als ich schließlich meinen Sitzplatz erreiche, bin ich zwar umgeben von Chilenos, Peruanos, Brasileros und Argentinos, aber kein weiterer Gesang, kein einziger auch nur klitzekleiner Weihnachtsschmuck an Board und anscheinend Lachverbot, so finster schauen die meisten aus ihren Sitzen drein. Bleibt also nur der Wein, dem ich mich hingebungsvoll widme. Immerhin ist mein brasilianischer Sitznachbar João ein lustiger Geselle. Jung, studiert im Ausland und freut sich auf seine Familie in Rio de Janeiro. Und, auch das erfüllt mich mit Genugtuung, er erweist sich als freundlicher Mit-Trink-Kumpane. Da liegt es gewissermaßen auf der Hand, dass der Wein alsbald Gin und Rum zu weichen hat - ein wenig zum Missfallen der überaus bezauberten Stewardess. Aber allen kann man es schließlich auch am Weihnachtsabend nicht recht machen. Für unseren Vorschlag, doch gleich die jeweiligen Flaschen bei uns zu lassen - im Falle, dass wir sie nicht schaffen würden, hätten wir sie natürlich brav zurückgebracht - ernten wir ein müdes Lächeln und ein no se puede. Nun ja, so musste sie halt ein wenig hin und her rennen. Gesungen haben wir aber trotz der flüssigen Leckereien nicht. Geschlafen aber umso besser.

Nach Ankunft in Santiago, erfolgreicher Passkontrolle und den ersten Schritten auf chilenischem Boden bietet sich dem Betrachter zumindest ein, wenn auch winziges, geschmücktes Bäumchen im Ausgangsbereich, sofern der aufmerksame Blick ihn zwischen all den aufdringlichen Taxistas auszumachen vermag. Doch noch ist alles möglich; da ich die Datumsgrenze überflogen habe, ist immer noch der 24. Dezember.

Da sich meine deutsch-chilenischen Kontakte ganz unerwartet als eher müde Gesellen entpuppen, mache ich mich auf in die Innenstadt. Mit dem Bus versteht sich, denn Zeit besitze ich ja noch genug. Diego, ein Uruguayo aus Montevideo, den ich zufällig in einer Cafetería treffe, gibt mir den Tipp für ein nettes Hostal unweit des Zentrums an der Plaza Brasil. Er selbst wohne auch da und frei habe er obendrein, und grinsend merkt er an: "Also können wir schon eine Flasche Wein trinken."

Die Modalitäten für das Einchecken sind schnell erledigt und ein Gang zum Supermercado gibt mir schließlich wieder das Gefühl auf lateinamerikanischem Boden zu sein. Es gibt meine geliebten Empanadas, jede Menge gutes Fleisch, allerlei Süßigkeiten und natürlich ein gut sortiertes Weinregal und ja, auch den kitschigen Weihnachtskram, den niemand braucht. Nach einer ausgiebigen Unterhaltung mit einer chilenischen Familie probiere ich zwei ihrer Recomendaciones und anschließend noch zwei Flaschen nach meinem Geschmack. Weihnachten, ich komme.

Nun habe ich auch endlich Gelegenheit, mir das Hostal genauer anzuschauen. Ein Altbau, drei bis vier Meter hohe Decken, mit Stuck verziert und in herrlich bunten Farben.

santiago de chile


Ich bin hin und weg. In der Küche laufen unterdessen die Vorbereitungen für das abendliche Mahl auf Hochtouren. Cebiche steht auf dem Menue und sollte jemand dieses Sushi á la Peru nicht gutheißen, der kann auch pavita und carne a la brasa bekommen. Salat und Pommes gibt es dazu in rauen Mengen. Die Zeit bis zum Mahl überbrücken wir mit einer Flasche Merlot und nach drei Stunden ausgiebigen Essens mit Nachtisch, Trinken, Lachen und Flirten wird endlich auch das fünfzehnte Remix von Feliz Navidad ausgemacht und die erste Gitarre ausgepackt. Es gibt sie also doch noch, die berühmte fiesta latina, und als die ersten bekannten Töne aus den Saiten sprudeln, beginnen die Hüften zu kreisen. Dazu werden Löffel und Tisch zum Rhythmusinstrument umfunktioniert und sogar ein, zwei steife Europäer lassen sich von der Atmosphäre inspirieren.

Es sollte eine lange, lustige, lebendige Nacht werden. Weniger weihnachtlich im traditionellen, aber dafür umso wertvoller im übertragenen Sinne. Und auch wenn es niemand im Hostal an der Plaza Brasil so empfunden haben wird, es wurde tatsächlich ein Fest der Liebe und Harmonie. Irgendwie. Aber genau darum geht es ja beim Feiern im Latinoland! Nur im Flugzeug, da wollte dies alles noch nicht so klappen. Wahrscheinlich wussten da die Gäste schon, dass sie sich ihre Energie besser für später aufheben. Eine, wie ich meine, recht weise Entscheidung.

Text + Fotos: Andreas Dauerer






[kol_3] Grenzfall: Zurück zu den Wurzeln - Alternative Denkmodelle
Interview mit Reinhard Senkowski

Reinhard Senkowski lebt seit 1980 in Lateinamerika: zunächst in Peru, danach in Brasilien und seit 1999 in Mexiko. Zurzeit arbeitet er in Mexiko Stadt an seiner Doktorarbeit über Natur- und Kulturvielfalt.

1. WAS HAT DICH 1980 BEWEGT, NACH LATEINAMERIKA ZU GEHEN?

Ich engagierte mich damals in Deutschland stark im sozialen und politischen Bereich; auch in Richtung einer alternativen Kultur. In den 60ern und 70ern träumten wir von der Internationalen Solidarität, identifizierten uns mit so großen Denkern und Akteuren wie Che Guevara, Don Helder, Hotshiminh, Paulo Freire. Viele von uns schwelgten in revolutionären Träumen und Slogans wie "Nieder mit dem Imperialismus!. "Macht kaputt, was dich kaputt macht!" "Der Muff von tausend Jahren" steckt noch unter den Talaren!"

Reinhard Senkowski
Das war es, was in der Luft lag: der Traum vom anderen Menschen, dem von Fesseln befreiten, der sensibler, sozialer, der schlicht besser wäre, der freier leben könnte.

Der freier leben könnte, losgelöst vom  Muff unserer alten Herren, der Alt-Nazis und anderer Betonköpfe.

Das Ganze mündete in einer entfesselten, stark antiautoritären Stimmung; einer Bewegung und Lebensart mit antirassistischen, alternativen, ökologischen Tendenzen. Im Großen war es ein Aufbegehren gegen das herrschende, einengende System.

Als dann die Friedens- und ökologische Bewegung aufkamen, versuchte ich als Lehrer, innerhalb dieser Strukturen etwas zu bewegen. Es galt, gegen die Slogans der Wirtschaftswunderzeit vom Schlage Erhards anzugehen, andere als die herrschenden Werte zu kreieren, alternative Modelle zum vorherrschenden Konsumtraum und -rausch zu entwerfen.

Und plötzlich beschimpfte man mich in orthodoxen kommunistischen Kreisen als Sponti, als Chaoten und hinterging mich auf teilweise unfaire Weise (im Namen Lenins) - dabei wollte ich bloß eine gewisse Spontaneität retten, weg von der repressiven Masche, der leeren und lebensverachtenden Bürokratie, vom faschistischen und stalinistischen Trend, der so rigide in Deutschland jegliche Beziehungen beeinflusste.

Ich erkannte immer deutlicher, dass es in Deutschland nicht möglich war, effektive Basisarbeit zu leisten. Ab 1980 reiste ich  mehrmals nach Peru, blieb dort zuerst vier Wochen, dann später noch mal drei Monate, danach ein ganzes Jahr. In dieser Zeit reiste, schrieb und arbeitete ich. So engagierte ich mich u.a. in einem indianischen Dorf während des Bürgerkrieges des Sendero Luminoso und half mit, in einem pueblo campesino namens Jicamarca eine Gemeindetischlerei aufzubauen.

Ich verliebte mich in alles, was ich in Peru sah und erlebte, trotz vieler Widersprüche und persönlicher Härten. Es waren  Landschaften, Menschen, Mythen, Bräuche, die Herzlichkeit und Tiefe, der Schmerz und die Sehnsucht nach einem ebenbürtigen Leben der Völker am Rand einer Geschichte, die mich berührten, aufwühlten und letztendlich zu einem Lyrik-Fotoband animierten.

Danach habe ich mich in Deutschland nicht mehr einfügen können. So schrieb ich eine Bewerbung an den DED und bin 1986 als Entwicklungshelfer nach Minas Gerais (Brasilien) gegangen, um in einem Favela-Projekt zu arbeiten. Anschließend wechselte ich nach Pernambuco, wo ich über 15 Jahre vielerlei Erfahrungen mit der lateinamerikanischen Wirklichkeit sammeln konnte.

2. DU FORSCHST IN MEXIKO ZURZEIT ÜBER DIE BEGRIFFE NATUR- UND KULTURVIELFALT. WAS KANN MAN DARUNTER VERSTEHEN?

Meine These ist, dass die Artenvielfalt für das ökologische Gleichgewicht genauso wichtig ist wie die Kulturvielfalt für das Gleichgewicht zwischen den menschlichen Beziehungen und zur Natur schlechthin. Das soziale und ökologische System ergänzt sich dabei. Die Kulturen spiegeln die Horizonte und  Grenzen der Naturressourcen mit ihrer komplementären Funktion wider. Kultur bedeutet, mit und nicht gegen die Natur zu arbeiten, Kultur heißt, die natürlichen Ressourcen und ihre Begrenztheit zu respektieren. Ebenso gilt es die Naturgesetze und den Naturrhythmus zu beachten. Die Kraft der Natur muss adäquat genutzt und darf nicht blind im Rennen nach dem unbegrenzten "Fortschritt" geopfert werden.

3. HAST DU DAS GEFÜHL, DASS DIE MENSCHEN IN LATEINAMERIKA MYTHOLOGISCHER SIND ALS IM WESTEN?

Sicherlich verharren die Menschen hier (in Lateinamerika) immer noch in weiten Teilen in einem mythischen Verhältnis zur Natur. "Seit der Conquista erleben wir den sich ausgrenzenden Gegensatz des spirituellen und des rationalen Menschen", so der Interkulturwissenschaftler und buddhistische Mönch Raimundo Panikkar.

Wir Nordeuropäer leben oft im Verhältnis 90% Kopf zu 10% Körper, wie es zuweilen karikiert wird; der Logos, also die empirischen und okzidentalen Wissenschaften geben den Ton an. Aber Platos Höhlenbilder mit ihrem Ideal passen in Lateinamerika einfach nicht. Deswegen haben die Europäer nie wirklich die Lateinamerikaner mit ihrem mythologischen Weltbild verstanden, und die Lateinamerikaner haben so gut wie niemals den rationalen Europäer verstanden. Und es scheint nicht besser zu werden mit dem gegenseitigen Verständnis - trotz vieler Studien.

Ein Dichter aus dem Amazonas berichtigte die offizielle Feststellung während der 500-jähringen Endeckungsfeiern Brasiliens, dass es ein 500-jähriges desencontro (Sich- nicht- Begegnen) gewesen wäre und bis heute sei.

Die Europäer fühlen sich mit ihrer Ratio, ihrer Informatik und ihren Hightechwaffen vollkommen erhaben über die Natur und den Mythos der hiesigen Völker. Doch wir sind nur Opfer des Logozentrismus, des Eurozentrismus. Wir meinen, mit unserem Denken könnten wir alle Probleme der Welt lösen. Doch das können wir eben nicht, und viele wollen es nicht wahrhaben.

Der Ökologe James Bruges hat schon vor langem vorgerechnet, dass wir fünf Erdbälle bräuchten, wenn alle Menschen so leben wollten wie in der industriellen Welt oder wie die Eliten der industriell unterentwickelten Völker. Das heißt, wir müssen weg von dieser herrschenden ozidentalen Kultur, wenn wir unsere Erde retten wollen. Wir müssen hin zu einer Synthese mit den Mythen bzw. den Sichtweisen der Ethnien, die im Wesentlichen schon immer bestrebt waren, Leben zu erhalten und nicht zu zerstören.

Das impliziert die Demystifizierung (im Sinne Panikkars) des christlichen Bildes des Menschen als Krönung der Schöpfung. Stattdessen müssen wir im Sinne der Gaia-Theorie (nach Lovelock) mit und in der Natur unsere Bestimmung finden.

4. IN DEINER WISSENSCHAFTLICHEN ARBEIT BENUTZT DU DEN BEGRIFF DES "KULTURELLEN METABOLISMUS". WAS BEDEUTET DAS?

Der Kulturelle Metabolismus basiert auf Lehren, die auf das Konzept der Madre Tierra zurückgehen: die Erde als geschlossenes System, in dem das, was wir ausatmen oder sonst wie abgeben von der Natur in neue Lebensstoffe zurück verwandelt wird. Alles hat seinen Sinn und seine komplementäre Funktion, das Denken, die Spiritualität genauso wie die Wissenschaft - alle sind Teile des Ganzen und müssen im System ihre Funktion erfüllen. Sonst haben sie als Teil des Ganzen keine Berechtigung.

5. UND DAS GESCHIEHT IM WESTLICHEN SYSTEM NICHT?

Nein, es geschieht nicht. Wir trennen die Dinge, spezialisieren uns, treiben die Lebensfunktionen auseinander. Wir zersetzen die Einheiten, sowohl die unseres Körpers wie auch die der Gesellschaft als Körper in den diversen Einheiten. Die Dualität von Denken und Praxis, die Teilung von Spiritualität und Ratio ist fatal für unsere Welt. Im Buddhismus ist Religion, Philosophie, Psychologie und die Tat eine hollistische Einheit, die man nicht trennt, weil man sie so zerstört. Das ist ein sehr interessanter Ansatz, den wir weiterverfolgen sollten.

In der westlichen Welt sprengt man die Einheiten auseinander, und dem müssen wir im Sinne einer holistischen Denk- und Verhaltensweise entgegentreten.

Reinhard Senkowski


6. GIBT ES HOFFNUNG, DASS DIE HEUTIGE WELT ETWAS VON DEN ALTEN KULTUREN LERNEN WIRD?

Genau das beleuchte ich in meiner Doktorarbeit: wer die Geschichte nicht pflegt, hat keine Zukunft. Unsere Wurzeln geben uns Halt und Sicherheit. Doch frei nach Berthold Brecht kann man sagen: alle Krisen haben in sich die Chance, etwas Besseres hervorzubringen. Oder aber auch die, zu sterben. Und beides macht übrigens Sinn.

Infos: Reinhard Bernd Senkowski wurde 1943 in Königsberg, dem heutigen russischen Kaliningrad, geboren. Er war lange Jahre als Lehrer und politischer Aktivist in Hannover tätig bevor es ihn 1980 nach Peru verschlug. Von 1986 bis 1999 arbeitete er in Minas Gerais und Pernambuco (beides Brasilien) als Entwicklungshelfer. Seit 1999 lebt er in Mexiko Stadt, wo er an seiner Doktorarbeit schreibt.

Kontakt:  senkorei@yahoo.com

Interview + Fotos: Thomas Milz






[kol_4] Lauschrausch: Chano Domínguez vs. Quadro Nuevo

Chano Domínguez
Acércate más
Nuba 7791

"Acércate más", der Titel der neuen CD des spanischen Pianisten Chano Domínguez, ist eine Aufforderung sich zu nähern. Und bei seiner Musik folge ich dieser Aufforderung gerne, sogar "mucho más", wie es im Originaltext des gleichnamigen Boleros des Kubaners Osvaldo Farrés heißt. Denn Chano Domínguez beweist einmal mehr sein Können am Klavier, wenn auch in anderer Form als bei den spektakulären Tastenläufen seiner Flamenco-Jazz-Fusion. Auf diesem Album überwiegen die ruhigeren Töne, ob in "Ana Maria", das Wayne Shorter für seine Frau geschrieben hat, im Mercer-Carmichael-Stück "Skylark" oder eben im schon erwähnten Bolero.

Cuban salsa
Lebhafter geht es zu bei "John’s Abbey" von Bud Powell oder beim Titel "Afroblues" von Mongo Santamaria. Hier harmoniert Chanos Tastenkunst wunderbar mit der Percussion von Miguel "Angá" Díaz, dem im August 2006 im Alter von nur 45 Jahren viel zu früh verstorbenen kubanischen Ausnahme-Conguero.

Außer ihm begleiten Chano noch sein langjähriger Freund Guillermo Mc Gill am Schlagzeug und der Bassist George Mraz. Die beiden Highlights des Albums sind für mich jedoch das im Bossa-Stil dahin wabbernde "Cuando vuelva a tu lado", eine geniale Coverversion des Hits "What a difference a day makes" sowie Chanos einzige Eigenkomposition, die mitreißende "Rumba marina", bei der Hörer mit Feuer im Blut sicher nicht still sitzen bleiben können.


Quadro Nuevo
Tango Bitter Sweet
GLM/ FM 123-2

Dieses Album besteht aus exzellent und originell interpretierten Ohrwürmern. Die deutsche Gruppe Quadro Nuevo hat einen Weg gefunden, dem meist schwermütigen Tango durch die Anreicherung mit Elementen aus der Musette, dem Flamenco und aus der Musik vom Balkan eine mediterrane Leichtigkeit zu geben. Und nun diese Reise durch die populäre Musikkultur Europas: Schon das erste Stück kennt jeder, auch wenn die meisten nicht wissen, dass es "L’été indien" heißt und durch den französischen Sänger Joe Dassin berühmt wurde. Nach einem erfrischenden Zigeunerjazz a la Django Reinhardt horcht man bei "Petit fleur" erneut auf. Auch diese Melodie von Sidney Bechet gehört zum europäischen Kulturgut, ebenso wie Dalidas "Paroles, paroles" oder das unsterbliche "The windmills of your mind" von Michel Legrand, das hier in schneller Gypsy-Manier interpretiert wird.

Calle Real Con Fuerza

"Malafemmena" versetzt uns an die sonnige Adria während der polnische Tango "Müde Sonne" die Schwermut des Ostens repräsentiert; noch übertroffen von der Suizidmelodie "Szomoru vasarnap" (Gloomy sunday) aus Ungarn, aus der uns ein swingender "Säbeltanz" befreit.


Die Eigenkompositionen lösen natürlich noch keinen Wiedererkennungseffekt aus, brauchen sich aber musikalisch nicht hinter den Klassikern zu verstecken: Das Titelstück "Milonga Tati", zu Ehren des französischen Komikers, besteht aus einer Tangomelodie mit humorvollen Untertönen, die einem Spaghettiwestern entstammen könnten; fröhlich brasilianisch angehauchter Titel mit Musette-Einsprängseln. Kaufen und/oder verschenken!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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