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[art_4] Brasilien: Internationalität und Künstlertum
Auf der Suche nach den Wurzeln der Familie Mann in Brasilien

Auszüge aus der Eröffnungsrede zur Ausstellung Paratii - Segredos Coloridos, Buddenbrookhaus Lübeck: 10.12.2006 bis 25.02.2007

Wenn ab heute (10. Dezember) bis zum 25. Februar die brasilianische Hafenstadt Paraty - und damit die Geburtsstadt von Julia Mann, der Mutter von Thomas und Heinrich, - in den Fotos von Britta Morisse Pimentel (Interview) zu Gast in unseren Räumen sein wird, so ist das in gewisser Weise ein Blick zurück auf die internationalen Wurzeln der Familie Mann.

Indem Südamerika zu Gast in Lübeck ist, ist es aber auch ein Blick auf die künstlerischen Wurzeln im sonst so asketischen und auf Leistungsethos ausgerichteten Haushalt des Senators Mann. Denn, so stellt Thomas Mann 1936 fest:

"Frage ich mich nach der erblichen Herkunft meiner Anlagen, so muß ich an Goethe's berühmtes Verschen denken und feststellen, daß auch ich `des Lebens ernstes Führen´ vom Vater, die `Frohnatur´ aber, das ist die künstlerisch-sinnliche Richtung und - im weitesten Sinne des Wortes - die `Lust zu fabulieren´, von der Mutter habe", schreibt er in seinem 1936 verfaßten "Lebenslauf".

Die Ausstellung ist eine künstlerische Annäherung, nicht an das Leben Julia Manns, sondern an einen Ort, der für das Leben der Familie Mann eine zentrale Bedeutung erhält. Insofern versucht die Ausstellung vielleicht auch so etwas wie eine fotografische Annäherung an die unsichtbaren Wurzeln eines internationalen Künstlertums.

Fünf Meter über dem Meer und auf der Karte nach Augenmaß genau zwischen São Paulo und Rio de Janeiro an der Küste des Atlantischen Ozeans liegt Paraty.

Der aktuelle Baedeker1 "Brasilien" zählt die 1667 gegründete und aktuell 27.000 Einwohner zählende Hafenstadt zu den "Top-Reisezielen" des Landes, die man auf keinen Fall versäumen darf und schreibt: "Das im 17. Jahrhundert gegründete Hafenstädtchen Paratii erlebte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wahre Blütezeit dank des in Minas Gerais geschürften Goldes, das von hier in das 261 Kilometer entfernte Rio de Janeiro verschifft wurde. (…) Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung zählte die Stadt 1700 Häuser sowie 150 Zuckerrohrplantagen und Brennereien: neun auf dem Festland und den vorgelagerten Inseln angelegte Festungen schützten den Gold- und Zuckerausfuhrhafen vor Angriffen."

Dieser Höhepunkt - zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts - fällt zusammen mit dem Kaffeeboom und dem um 1855 systematisch betriebenen Ausbau des Hafens und der Eisenbahn.
Zu dieser Zeit, im Jahre 1851 wird Julia da Silva Bruhns, die spätere Frau von Senator Thomas Johann Heinrich und Mutter von Heinrich und Thomas Mann, geboren.

In ihren knapp 100 Jahre später erstmals veröffentlichten Memoiren "Erinnerungen aus Dodos Kindheit" entführt uns Dodo (Julia) tief in den brasilianischen Dschungel und die Atmosphäre kolonialer Herrschaft:

"Im Urwalde, nahe dem Atlantischen Ozean, südlich des Äquators, war es, wo DODO das Licht der Welt erblickte. Unter Affen und Papageien, wie ihr der Pai (Vater) später erzählte. Sie erschien, als Pai und Mai im Begriffe waren von einer kleinen Küstenstadt in die andere überzusiedeln. Eine Negerschar nahm sich der drei älteren Kinder und des Gepäckes an und marschierte voraus, während Pai und Mai, welche zu Pferde waren, unter Zurückbehaltung einer Anzahl von Negern zu ihrer Bedienung, eine ausgedehnte Pause in der Reise machten. Danach ging es in das neue Domizil, wo Dodo zwischen Meer und Urwald aufwuchs."

Dodo beschreibt ihre abenteuerliche Kindheit, das Leben im brasilianischen Urwald, zwischen exotischen Tieren, süßen Früchten und schillernden Pflanzen, als abwechslungsreich.


Jedoch sollte schon bald ein einschneidendes Ereignis einen tief greifenden Wandel ihres Lebens herbeiführen: War ihr Vater Johann Ludwig Hermann Bruhns 1840 als 19-jähriger nach Brasilien gegangen, um Zuckerrohr und Kaffee anzubauen, so musste Julia bereits als 7-jähriges Kind den Tod ihrer Mutter hinnehmen, ein Verlust, der Julia "das ganze Leben über begleitet."

Noch im gleichen Jahr, also 1858, ging der Vater mit seinen Kindern zurück in die Hansestadt Lübeck, wo sich seine Großmutter um das Kind kümmern wollte.

Heinrich Mann hat seiner Mutter in dem 1907 erschienenen Roman "Zwischen den Rassen" ein literarisches Denkmal gesetzt. In seinen Worten wird die Ankunft zu einem Wechselbad der Gefühle, zu einer Erfahrung der äußersten Gegensätze. Bei ihm heißt es und man sieht - ohne dass er die Stadt beim Namen nennt - die lokalen Gegebenheiten durchschimmern:

"Eines Morgens dann eine Fahrt mit der Bahn: und da waren sie in einem seltsamen Städtchen mit höckrigen Häusern und mit Gassen, die über Berge kletterten und rutschten - (…)."

Es waren einschneidende Kontraste, oder wie es Dieter Strauss der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts São Paulo zusammenfasste:

"Im Gegensatz zu dem sonnigen und fröhlichen Ambiente des katholischen und tropischen Paraty, fand sich Dodo in Lübeck in einer Stadt mit überwiegend kaltem Klima, düsteren mittelalterlich aussehenden Häusern und einer allgegenwärtigen, typisch lutherischen Strenge. Dieser Zwiespalt prägt ihr Leben."

1869 folgt auf die Verlobung auch die Heirat Julias mit dem Kaufmann Thomas Johann Heinrich Mann. Zwei Jahre später wird Heinrich und 1875 schließlich Thomas geboren, diesen folgen bis 1890 Viktor, Carla und Julia. Im Jahr 1891 stirbt ihr Thomas Johann Heinrich.

In seinem Roman "Doktor Faustus" hat Thomas Mann eine kleine Momentaufnahme seiner Mutter verewigt: "Ihre Bewandtnisse waren leicht zu durchschauen. Dunkeläugig, das braune, zierlich gekräuselte Haar nur wenig ergraut, von damenhafter Haltung, elfenbeinfarbener Teint und angenehmen, noch ziemlich wohlerhaltenen Gesichtszügen, hatte sie ein Leben lang als gefeiertes Mitglied einer patrizischen Gesellschaft repräsentiert, einem dienstbotenreichen und verpflichtungsvollen Haushalt vorgestanden. Nach dem Tod ihres Gatten (…), bei stark herabgesetzten Verhältnissen und nicht ganz zu bewahrender Stellung in dem gewohnten Milieu, waren Wünsche einer unerschöpften und wahrscheinlich nie recht befriedigten Lebenslust in ihr freigeworden, die auf ein interessanteres Nachspiel ihres Lebens in menschlich wärmerer Atmosphäre abgezielt hatten."

Julia Mann, die 1923 stirbt, verbrachte ihre letzten Tage in München, sie war nie wieder nach Brasilien in die kleine Hafenstadt Paraty zurückgekehrt.

Blicken wir zum Sprung über den Ozean und in die Gegenwart noch einmal in den aktuellen Baedecker. Verlassen hatten wir dort die Stadt zu Zeiten des Gold-, Kaffee- und Zuckerrohrbooms. Es heißt weiter über das heute denkmalgeschützte Städtchen:

"Nach der Öffnung des Camino de Garcia Pais, eines direkten Verbindungsweges zwischen Minas Gerais und Rio de Janeiro, geriet Paratii jedoch schnell in Vergessenheit; vielleicht", so die Vermutung der Autoren weiter, "konnte es aber gerade aus diesem Grund einen Großteil seiner kolonialen Bausubstanz erhalten, die der Stadt zusammen mit ihrer wundervollen Lage vor den mit Atlantischem Regenwald überzogenen Bergen, einen außergewöhnlichen Reiz verleiht." So weit der Sprung in die Gegenwart.


Paratii - Segredos Coloridos
(Ausstellung Buddenbrookhaus Lübeck 10.12.2006 bis 25.02.2007)


Die Fotografin Britta Morisse Pimentel hat lange Zeit in Brasilien gewohnt, kennt also Mentalität und Sprache des viertgrößten Flächenstaates der Erde. An Paraty interessiert sie nach eigener Aussage das "genügsame, ländliche Leben außerhalb der Metropolen". Es sei, in ihren Augen, das "eigentliche Brasilien". Die Bilder der Ausstellung entstanden in den Jahren 2003-2005. Fotografiert hat die Hamburgerin vor allem in den frühen Morgen- und späteren Abendstunden jenseits des geschäftigen Alltags.

Und so laden die Fotos ein zur Entdeckung der Gegenwart einer künstlerischen Vorgeschichte, aber auch zur Entdeckung einer fremden Kultur. Der dokumentarisch-beobachtende Blick ihrer Fotografien ist empathisch, aufgeschlossen, aber angesiedelt fernab jedes folklorischen Anbiederns.

Auch die Tradition eines durch die zeitgenössischen Medien immer wieder forcierten Exotismus zwischen Sensation und Schaulust ist der Fotografin fremd. Den Aufnahmen geht es im besten Sinne um die Kommunikation der Eigen- und damit auch Fremdartigkeit der brasilianischen Hafenstadt. Die Fotografien nehmen damit eine Vermittlerrolle ein - werden zu Instrumenten der Kommunikation im Prozess der Aneignung, des Verstehens des Fremden.

Ein wichtiges strukturierendes Element ist dabei die Farbe und deren direktes, nicht durch Rahmen und Spiegelungen gebrochenes Erlebnis: kräftiges Rot, intensives Kobaltblau, erdiges Braun und naturverwandtes Flaschengrün zeigen sich als Teil einer von der Natur bestimmten Kultur.

Diese werden von Britta Morisse-Pimentel in für jede Räumlichkeiten neu zu denkende Abfolgen gehängt. Sie sollen aber nicht die serielle Wiederholung, sondern das korrespondierende und kommunikative Element der Farben im gesamten Alltag hervorheben. Gleichzeitig richtet sie unseren Blick durch die Wahl des fotografischen Ausschnitts auf die Besonderheiten des Details. Auf Türgriffe und Schlösser, die Natur oder einfach nur die Topographie des Ortes. Sie bietet uns die Möglichkeiten der Entdeckung: vielleicht könnte man dabei von einer Entdeckung des Besonderen im Normalen sprechen. Dabei überträgt sich der Prozess des Fotografierens von der Künstlerin auf den Betrachter, denn die Künstlerin betont in einem Interview: "Die Fotografie (….)", "sagt sie, "Die Fotografie lehrt mich genauer hinzusehen, besser wahrzunehmen, mehr zu verstehen und tiefere Zusammenhänge zu erblicken. Durch die Fotografie nehme ich sehend am Leben teil, ich erfahre mit den Augen, was geschieht und Menschen bewegt." Gleichwohl bleibt jedoch ein unausdeutbarer Rest, ein Stück unerklärbare Faszination.

Ich möchte Sie nun einladen diese faszinierende Fremdheit, oder um mit dem Untertitel zu sprechen, diese farbigen Geheimnisse zu entdecken, ich möchte sie einladen, für Momente innezuhalten und in einem sinnlichen Erlebnis die eigene Welt mit der Brasiliens zu vergleichen. Vielleicht ist diese Ausstellung ein weiterer Schritt zur Internationalisierung der Familie Mann.

Text: Dr. Michael Grisko
Fotos: Britta Morisse Pimentel


Interview mit der Fotografin Britta Morisse Pimentel
Was fasziniert Sie an der Hafenstadt Paraty?
Die kleine Stadt Paraty (moderne Schreibweise, früher Paratii) finde ich besonders interessant, weil in ihr das brasilianische genügsame, ländliche Leben ausserhalb der Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo zu finden ist. Es orientiert sich an traditionellen Werten, ist einfach und geruhsam und im Ausland wenig bekannt, obwohl es das eigentliche Brasilien ist.

Paraty hat zudem etwas Besonderes zu bieten, weil die Stadt zum Weltkulturerbe gehört. Der alte Stadtkern ist gut erhalten und sehr reizvoll. Die landschaftliche Lage der Stadt, umgeben von Meer und Bergen, ist ungewöhnlich schön.

Was hat das Paraty von heute mit der Geburtsstadt von Julia Mann zu tun?
Daran, dass Paraty der Ort ist, in dem Julia da Silva Bruhns, die spätere Julia Mann geboren wurde, erinnert heute nichts mehr. Die Fazenda Boa Vista liegt ausserhalb der Stadt. Das Wohnhaus, das verfallen ist und zur Erhaltung dringend saniert werden müsste, ist durch Absperrungen eines nahe gelegenen Yachtclubs für Besucher schwer zu erreichen. Die Idee von Frido Mann (Enkel Thomas Manns), dort ein Kulturzentrum zu errichten, ist großartig. Zur Verwirklichung wären jedoch erhebliche finanzielle Mittel aus privater Hand erforderlich, denn der brasilianische Staat leistet bei derartigen Projekten keine Unterstützung.

Was interessiert Sie beim Fotografieren?
In meinem Gedicht "photography, my way of contemplating", geschrieben für die Ausstellung „the bicycles of lucca im Museum Brevard in Florida im Jahre 2003, reflektiere ich, was Fotografieren für mich bedeutet. Die Fotografie ist für mich Ausdrucksmittel zur persönlichen, visuellen Stellungnahme. Sie lehrt mich genauer hinzusehen, besser wahrzunehmen, mehr zu verstehen und tiefere Zusammenhänge zu erblicken. Durch die Arbeit mit der Fotografie nehme ich sehend am Leben teil, ich erfahre mit den Augen, was geschieht und was Menschen bewegt. Durch das Erlebnis des Fotografierens steigere ich meine Aufmerksamkeit, stelle mich technischen Herausforderungen und erlange persönliche Erfüllung, die ich mit anderen Menschen teilen kann. Das kommunikative Element der Fotografie fasziniert mich seit frühster Jugend.

Wie kommt Ihre Motivauswahl zustande? Warum denken Sie, ist die Fotografie das geeignete Medium für Ihre Arbeit?
Die Bearbeitung eines fotografischen Projekts vollzieht sich in drei Schritten, deren Sequenz variieren kann. Außerhalb einer Projektbearbeitung nehme ich den Fotoapparat selten zur Hand. Meist ist Schritt 1 die gedankliche Auseinandersetzung mit einem Thema, Schritt 2 die praktische Umsetzung in die visuelle Darstellung und Schritt 3 die Auswertung und Auswahl der Fotoarbeit für die Ausstellung. Das gesamte Projekt soll möglichst einen kulturell-sozial-künstlerischen Charakter haben und die Form eines Essays annehmen, häufig in Kombination mit kulturellen Ereignissen, historischen oder aktuellen Texten und ausgewählten Beiträgen.


Was ist das besondere an der  Hafenstadt Paraty? Warum ausgerechnet Paraty? Wie kam Ihnen die Idee zu diesem Projekt?
Das Projekt "Paratii - Segredos Coloridos" hat sich spontan beim ersten Besuch der Stadt ergeben. Es folgten zwei weitere Besuche, Kontakte zu den Einwohnern, Gespräche und Lektüre über die Bedeutung vergangenen und gegenwärtigen Lebens in Paraty. Für die erste Ausstellung in der brasilianischen Botschaft Berlin im November 2005 wurde der Kontakt zu Frido Mann hergestellt. Durch die zweite Ausstellung im Goethe Institut Hamburg ergab sich der Kontakt zu Dieter Strauss, ehemals Leiter des Goethe Instituts in São Paulo, heute Institutsleiter in Rabat, Marokko und Autor des Buches "Julia Mann, Brasilien Lübeck, München".

photography, my way of contemplating
the bicycles of lucca

betrachtung
examination and inspection
observation and reflection
andacht
devotion, dedication
nachdenken, nachsinnen
to consider bicycles

meditation
verweilen, vertiefen, verwischen
dasheit
viewing and looking,
dwelling, exploring
resting my eyes
to echo bikes

kontemplation
versunkenheit, hingabe
unter ausschaltung allen wollens
internalizing shadows
nach vorsichtiger erwägung
pursuing colors and images
to contemplate bicycles

wiederholung
repeating, replaying
reiterating
again and again
ergründen, erkennen
to go further, invading
to conquer my bike.

written for exhibit
Museum of Art and Science Brevard
april /may 2003
britta morisse pimentel