caiman.de 12/2015

[art_2] Uruguay: Homestory – Hausbesuch in der uruguayischen Mittelschicht
 
Kurz die richtige Klingel suchen, einmal drücken und schon geht die Tür auf. “Hola, cómo estás? Bienvenido, entrá!“, begrüßt mich Victoria. Sie ist die Frau von Marcos, der mich spontan eingeladen hat. Er hatte von einem gemeinsamen Freund erfahren, dass ich einige Zeit sein Land bereisen würde. Ich freue mich über die herzliche Begrüßung und folge der Aufforderung einzutreten nur allzu gerne. Victoria und Marcos leben in Mercedes in einer kleinen Straße zwischen der Plaza Independencia und dem Río Negro. Hier stehen vor allem Ein- und Zweifamilienhäuser. Die meisten verfügen über zwei Stockwerke. Es ist die typische Wohngegend der uruguayischen Mittelschicht in dieser Stadt. Aber was heißt das genau – Mittelschicht?

Als “Schweiz Südamerikas” wurde das Land schon vor knapp 100 Jahren bezeichnet, wegen seines Wohlstandes und seiner breiten Mittelschicht, die es bis heute trotz mehrerer fundamentaler Krisen immer noch besitzt – nicht nur für lateinamerikanische Verhältnisse: Gut 60 Prozent der Bevölkerung zählen dazu. Die Oberschicht umfasst knapp sechs Prozent der Gesellschaft, als arm gelten gut acht Prozent. Etwas mehr als 26 Prozent der Bevölkerung sind zwar oberhalb der Armutsgrenze anzusiedeln, haben aber bei Weitem noch nicht die finanzielle Stabilität, um zur Mittelschicht gerechnet werden zu können.

Nun kommt auch Marcos und begrüßt mich. Die beiden führen mich in ihr Esszimmer. Auf dem Tisch steht neben einer Schüssel Salat eine große Platte mit frisch gegrilltem Fleisch und Würsten. Eine Essenseinladung ohne den obligatorischen Asado ist wahrscheinlich undenkbar in Uruguay, zumal Fleisch und Gemüse zu den Produkten gehören, die im Vergleich zu deutschen Preisen immer noch sehr günstig sind. Das Fleisch haben sie gerade noch auf dem Grill zubereitet, der in einer Ecke ihrer Terrasse in Stein eingefasst ist. Auch das ist Standard eines uruguayischen (Mittelschicht-)Zuhauses: keine Terrasse bzw. kein Garten ohne parrilla.

Bevor wir uns an den Tisch setzen, zeigt mir Marcos die Wohnung, zuerst das Kinderzimmer. Die zwei Söhne der beiden leben nicht mehr hier, einer studiert in Montevideo, der andere arbeitet wie sein Vater bei einer Bank und zwar in Melo, einer Stadt im Nordosten des Landes. Deswegen benutzen Victoria und Marcos das Zimmer mit dem Doppelstockbett als Büro und Gästezimmer. „Zu zwei eigenen Zimmern für die beiden hat es nie gereicht. Aber sie haben es überlebt“, sagt Marcos mit einem fast entschuldigenden Grinsen.

„Wir hatten immer alles, was wir brauchten“, entgegnet ihm Victoria. „Wir hatten zwar auch nie mehr als das, aber uns hat nie wirklich etwas gefehlt.“ Den Eindruck habe ich nach dem Rundgang durch die Wohnung auch: Neben dem Zimmer ihrer Kinder und ihrem eigenen Schlafzimmer gibt es in der Wohnung Ess- und Wohnzimmer (kein Flachbildfernseher, aber ein Fernseher und ein großes Bücher- und Plattenregal, das fast eine ganze Wand bedeckt), eine geräumige Küche mit modernen Elektrogeräten, eine Vorratskammer und ein Bad – natürlich mit Bidet. Das gehört im ganzen Land zur Grundausstattung eines Badezimmers, genauso wie der schon angesprochene Grill auf der Terrasse. Der Stil der Einrichtung erinnert mich sehr an Wohnungen, die ich aus Spanien kenne: Fliesenböden, Möbel, die man irgendwo zwischen konservativ und klassisch einordnen kann und viele folkloristische Dekoobjekte, z. B. Miniaturpferde in Edelmetalloptik.

Victoria öffnet zum Essen eine Flasche uruguayischen Rotwein, einen Tannat, das ist die am meisten angebaute Rebsorte im Land. Wir reden viel über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer Länder. „Unsere Mittelschicht war früher noch viel breiter. Erst als Mitte der 1950er Jahre die Weltmarktpreise für unsere Hauptexportprodukte Fleisch und Wolle in den Keller fielen, begann hier der Abstieg“, erklärt Marcos. „Dazu kamen die vielen Streiks und Demonstrationen in den Sechzigern, dann der Militärputsch Anfang der Siebziger und die Diktatur bis 1985“, fügt Victoria hinzu. „Das alles hat unsere Wirtschaft extrem geschwächt. Und dann folgte noch die große Krise unseres Bankensektors vor gut zwölf Jahren – das war der zweite große Kollaps.“ Während all dieser Zeit seien die meisten jungen Leute ins Ausland abgewandert. Erst in den letzten zehn Jahren sei es mit der Wirtschaft stetig bergauf gegangen und viele von ihnen seien wieder zurückgekommen.

„Es ist wirklich komisch. Wenn ich als kleines Kind mein Essen nicht aufessen wollte, hat meine Mutter immer gesagt, ich solle an die armen Kinder in Spanien denken, die während der Franco-Zeit oft hungern mussten“, erinnert sich Victoria, während sie sich das zweite Mal Fleisch auf den Teller füllt. „Und dann kamen Jahrzehnte, in denen es hier Menschen gab, die gehungert haben.“ Sicherlich sei es nie so schlimm gewesen wie in anderen lateinamerikanischen Ländern. Aber so gut wie es den Europäern insgesamt gegangen sei, hätten es die Menschen in Uruguay nicht gehabt.

Auch jetzt sind Lebensstandard und Kaufkraft der Menschen im Land niedriger als in den meisten europäischen Ländern. Aber das Land befindet sich auf einem steten Wachstumspfad. Nimmt man die gut acht Prozent der Menschen, die das bittere Los haben, unter der Armutsgrenze zu leben, sind das immerhin schon wieder rund drei Prozent weniger als noch vor vier Jahren, ganz zu schweigen von den 36 Prozent, die es bis 2006 waren. Das Durchschnittseinkommen im Land steigt ständig, allein zwischen 2011 und 2013 nahm er von 11.860 US-Dollar auf 16.435 US-Dollar pro Jahr zu. Zugleich hat Uruguay den geringsten Einkommensunterschied in Lateinamerika: Die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung verdienen achtmal so viel wie die ärmsten 20 Prozent. In den USA verdienen die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung sechzehn Mal so viel wie die ärmsten 20 Prozent.

„Wir können uns zum ersten Mal ein Auto leisten“, sagt Marcos zufrieden, während seine Frau sofort mit den Augen rollt. „Ja, das liebe Auto“, stöhnt sie. „Wofür brauchen wir das? Eine Europareise wäre mir viel lieber gewesen. Jetzt zahlen wir fleißig unseren Kredit dafür ab und der kleine Asiate steht die meiste Zeit vor der Tür.“ Damit spricht sie zwei Dinge an, die fast symptomatisch für die Uruguayos sind: die Sehnsucht, Europa (und damit die Heimat ihrer Vorfahren) kennenzulernen, und die „cuotas“, also Kreditraten. Mit dem neuen Wohlstand erfüllen sich viele Menschen lang gehegte Konsumwünsche – aber in der Regel müssen sie einen Kredit aufnehmen, damit die Träume auch in Erfüllung gehen. Zu den Objekten der Begierde gehört alles vom Smartphone über Wohnungseinrichtungen bis hin zu einem neuen Auto. Aus diesem Grund fahren heute auch sehr viel weniger der aufwendig und liebevoll gepflegten Oldtimer durch die Straßen als noch vor zehn Jahren.

Zum Nachtisch serviert Victoria Vanilleeis mit Dulce de Leche, eine Milch-Karamellcreme, die in fast keiner uruguayischen Süßspeise fehlt und Marcos gießt drei große Gläser Whiskey ein (den man hier„Whisky“ schreibt). Als ich ihm dabei zuschaue, wie er die Gläser füllt, tritt mir Schweiß auf die Stirn. „Gut, dass ich zum Hostel nicht weit gehen muss“, denke ich, während mir mein Gastgeber lachend zuprostet. „Chin Chin, amigo“, sagt er. „Wir haben hier vielleicht nicht das höchste Durchschnittseinkommen der Welt, aber dafür den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Whisky.“ Im Durchschnitt trinken die Uruguayos Studien zufolge tatsächlich 2,4 Liter pro Person und Jahr. Diesen Spitzenplatz teilen sie sich im Wechsel mit den Franzosen. Aber das Land kennt auch sehr strenge Alkoholgrenzen bzw. -kontrollen: Nur 0,3 Promille sind am Steuer erlaubt. Bei Verstößen drohen (ebenso wie bei Geschwindigkeitsüberschreitungen) hohe Geldstrafen, die je nach Einkommenshöhe mehrere Monatsgehälter betragen können.

Als ich mich gegen Mitternacht mit weichen Knien und einem seligen Lächeln verabschiede und zu meinem Hostel gehe, sind die Straßen menschenleer. In meiner Hosentasche steckt ein Zettel, auf den mir Victoria und Marcos die Adressen einiger Freunde aufgeschrieben haben, um auch sie zu besuchen. Sie leben quer über das ganze Land verteilt. Außerdem haben sie mich eingeladen, jederzeit wieder vorbeizuschauen. Und sie haben mir mehrmals versichert, dass ich keine Angst haben muss, nachts überfallen zu werden. „Vielleicht in einigen Stadtteilen Montevideos“, sagen sie. „Aber im Rest des Landes nicht – selbst während der schlimmsten Krisen ist hier so etwas nur ganz selten passiert.“ Ist schon beruhigend.

Text: Lars Borchert

Reiseführer Uruguay: Dieser Text ist dem Reiseführer Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken erschienen im Reise Know-how Verlag entnommen. Wer nicht bis zum nächsten Caiman warten, sondern möglichst schnell mehr über Uruguay erfahren möchte, kann sich diesen Reiseführer für 16,95 Euro unter info@larsborchert.com persönlich beim Autor bestellen oder im gut sortierten Buchhandel kaufen.

Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

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