ed 12/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Dreizehnte Etappe: Ein steinerner Sternentraum
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Rot, weiß oder gold?
Jerez sucht seine Zukunft
LARS BORCHERT
[art. 2]
bolivien: Die Mennoniten - Leben wie vor 300 Jahren
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
peru: Lateinamerikanische Autoren in Deutschland
Interview mit César Rosales-Miranda (Asociación de los autores latinoamericanos en la emigración europea)
TORSTEN EßER
[art. 4]
erlesen: Stuart Archer Cohen - Der Siebzehnte Engel
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
macht laune: Beinfreiheit in Asunción
THOMAS MILZ
[kol. 2]
traubiges: Finesse, Frucht und Mineralität
Finca Moncloa: Stattlicher Tinto aus der Heimat des Sherrys
LARS BORCHERT
[kol. 3]
lauschrausch: Klingende Weihnachten
Klazz Brothers - Luis Frank Arias - Guillermo Rubalcaba - Inti Illimani Histórico
TORSTEN EßER
[kol. 4]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Dreizehnte Etappe: Steinerner Sternentraum – die schönste Kathedrale der Welt
 
Mittwoch, 30. August 2012. Beim Abstieg von Matagrande nach Burgos begleitet uns der kalte Wind, der von den Montes de Oca herunter weht. Auf dem Weg zur zweitgrößten Stadt am Jakobsweg verstehen wir, warum man Burgos "die Kalte" (la Fría) nennt. Denn obwohl es noch Hochsommer ist, waren wir nahe dran, unsere einzige lange Hose auszupacken.



Der Einzug in Burgos verlangt dem Pilger einiges an Geduld ab, der Weg durch das hässliche Industriegebiet im Osten scheint kein Ende zu nehmen. "Hier ist aber echt Schluss mit Romantik!", konstatiert Cayetana und beschleunigt ungeduldig ihre Schritte. Moralische Tiefpunkte unseres Marsches durch Ost-Burgos sind eine lange Etappe entlang der Einzäunung des Flughafengeländes und die Überquerung einer Autobahn unter beträchtlicher Lebensgefahr. Dabei stürzt Cayetana mutig voran und vertraut auf ihren Slogan "Für Pilger muss man bremsen!" Die Irrwege durch graue Industrievororte sind ein endloser Alptraum. Doch am Ende werden wir uns zur Belohnung wiederfinden in einer grünen Ufer-Oase inmitten der Altstadt und in einem steinernen Sternentraum, denn Burgos schenkt seinen Besuchern nicht weniger als die schönste Kathedrale der Welt.



"Naja, geschenkt ist das nicht", beklagt sich Cayetana, nachdem sie das stolze Eintrittsgeld von 7 Euro bezahlt hat. Aber was sind schon 7 Euro, wenn einem dafür das Siebte Weltwunder geboten wird! Cayetana und ich haben schon viele schöne Kathedralen bestaunt – in Spanien vor allem die von Sevilla und Toledo, im Rest der Welt haben uns besonders die von Siena und Straßburg beeindruckt. Aber in der Kathedrale Santa María von Burgos verbringen wir fast einen halben Tag und fallen aus der Zeit, verlieren uns in einem Schwindel erregenden Strudel heiliger Kunstwerke, die von allen Seiten auf unsere überforderten Augen einströmen.



Begonnen wurde mit dem Bau der drittgrößten Kathedrale Spaniens 1221 vom wohl aus Frankreich stammenden Juan de Enrique, aber vollendet wurde sie im 15. Jahrhundert von einer Kölner Architektenfamilie (Johann: gest. 1480, seinem Sohn Simon: gest. 1515 und seinem Enkel Franz von Köln: 1470 - 1542) sowie von ihrem Schüler Juan Vallejo. Schon von weitem beeindrucken die beiden kunstvoll durchbrochenen Turmpyramiden, die nicht zufällig an den Kölner Dom erinnern und weniger an französische Kathedralen. Entworfen und gebaut wurden sie von Johann von Köln (Juan de Colonia) und als sie um 1450 vollendet wurden, waren sie mit 85 Metern die höchsten Türme in Kastilien, wurden allerdings später von den Kathedralen Toledos (98 Meter) und Salamancas (110 Meter) übertroffen. Wunderbar die zentrale Fensterrose der Frontfassade mit achteckigem Stern. Darüber grüßt in luftiger Höhe die Galerie der Könige mit acht Statuen kastilischer Herrscher.



Wir steigen die Treppe zum Südportal empor und schreiten unter den Symbolfiguren der vier Evangelisten hinein. Sofort werden wir in dieses wunderbare Bauwerk hinein gesogen und wandeln wie im Traum durch den heiligen Kunsttempel. Burgos ist barocke Gotik, effektvoll und prächtig, voll wuchernder architektonischer Phantasie, eine sakrale Bühne für das ganz große Kino: den Blick in die Ewigkeit.



Unsere Schritte werden mit magischer Anziehungskraft ins Zentrum gelenkt, bis der Blick nach oben dirigiert wird, um sich an einem der größten Geniestreiche der Weltarchitektur zu ergötzen. Das transparente (!), 59 Meter hohe Kuppelgewölbe in Form eines gigantischen Sterns, durch den man in den Himmel blickt, wurde von Johann und Simon von Köln entworfen und zwischen 1440 und 1470 vollendet.



Allerdings stürzte die filigrane Kuppel sieben Jahrzehnte später ein und wurde von Juan de Vallejo, einem Schüler der Architektendynastie aus Köln, um 1567 mit noch größerer Pracht rekonstruiert. Es war eine innovative Meisterleistung, vor 500 Jahren mit einfachstem Werkzeug eine solch turmhohe Kuppel erstmals mit transparentem Gewölbe und gläsernem Dach zu errichten und damit die Illusion eines schwebenden Sterns aus Licht zu erzeugen, der als Mittelpunkt diesen riesigen Tempel beherrscht. Diese Sternenkuppel macht die Kathedrale von Burgos einzigartig und unvergleichlich.



Als Gotteshaus im Zentrum des Jakobsweges ist sie ein gesamteuropäisches Gesamtkunstwerk, an dem Franzosen, Deutsche, Spanier, Flamen und wahrscheinlich sogar ein paar maurische Baumeister drei Jahrhunderte lang gebaut haben. Der achtstrahlige Stern der Zentralkuppel ist ein klassisch islamisches Motiv: ein aus zwei Quadraten geformter achteckiger Stern, er wird auch "Siegel Salomos" (arabisch "Khatem Slimani") genannt und symbolisiert die Vollkommenheit. Nicht nur die Grundform, auch die fein ziselierte Ausgestaltung des Kuppelsterns ist ohne arabischen Einfluss nicht denkbar, denn diese Fülle von ineinander verschlungenen geometrischen Mustern ist typisch für die islamische Kunst und erinnert an die Gewölbe der Sala de los Abencerrages in der Alhambra.



Wie hypnotisiert starrt Cayetana minutenlang in diesen flirrenden, an vielen Stellen vergoldeten Himmelsstern und kommentiert endlich, dass er aussehe wie "christliches Mandala", ein Sternen-Traumbild, einladend zur Meditation. Ich bin erstaunt, wie es ihr gelingt, in wenigen Worten den Charakter dieses Architekturwunders so passend zu definieren.



Dann stehen wir staunend vor dem ca. 20 Meter hohen Hauptaltar, einem Meisterwerk der Renaissance von Rodrigo und Martin de la Haya, begonnen um 1562. Viele andere Kathedralen träumen davon, nur einen der spektakulären Hochaltäre von Burgos in ihren Mauern präsentieren zu können. Die Kathedrale von Burgos hat mindestens ein Dutzend Hochaltäre von 15 – 20 Metern Höhe und edelster künstlerischer Gestaltung – von (spät)gotisch über Renaissance bis zum Barock.



Zu den älteren gehört der riesige "Wurzel Jesse" Hochaltar des genialen Gil de Siloe (gest. 1501): die heilige Anna und der heilige Joachim umarmen sich inmitten eines turmhohen gotischen Wurzelgeflechts, das dem Himmel entgegen strebt. In der von Simon von Köln erbauten Capilla del Condestable, ebenfalls überwölbt von einer achteckigen, im Zentrum transparenten Kuppel, befindet sich der Renaissance-Altar seines Sohnes Diego de Siloe (1495 – 1563), entstanden unter Mitwirkung des genialen Franzosen Felipe Bigarny (1498 – 1543), der wie so viele als jugendlicher Jakobspilger nach Kastilien gekommen war und einfach in Burgos blieb.



Ein Altar als Theaterbühne, die im Zentrum Maria präsentiert, wie sie in einer ungeheuer dynamischen Szene mit flatternden Gewändern und dramatischer Gestik das Jesuskind an Josef zur Präsentation im Tempel überreicht. Die drei Altäre der Capilla del Condestable gehören zum Besten, was Bildhauerkunst in Spanien je geschaffen hat.



Cayetana hat es nicht so lange vor dem Hauptaltar ausgehalten. Ich finde sie auf dem Boden hockend, Auge in Auge mit einem kleinen Engel, der am Fuß einer Säule mit melancholischem Blick einen Totenkopf in Händen hält. Ich knie mich neben sie und lege den Arm um meine erstaunlich geduldige Begleiterin. Sie blickt mich an, glücklich, aber auch müde von all der Großartigkeit ringsumher und sagt dann leise: "Ich kann nicht mehr. Wenn wir jetzt nicht sofort raus gehen und was essen, fall ich hier neben dem Engel ins Koma." Zögernd willige ich ein. Allerdings liegen vor dem Ausgang noch die Sakristei, der Kapitelsaal und der Kreuzgang der Kathedrale.



Als wir noch benommen vom sakralen Kunstrausch wieder in die Welt hinaus treten, ist es mit kurz nach 19.00 Uhr immer noch zu früh für ein Abendessen. Daher retten wir uns vorerst mit einem Mandelriegel und steigen hinauf zur Aussichtsplattform der Burg. Über den Dächern von Burgos haben sich hier im Abendlicht zahlreiche Pilger versammelt, um Türme und Kuppeln der Kathedrale von oben zu bewundern und zu fotografieren. Neben uns steht eng umschlungen ein junges Paar, das sich offenbar auf dem Camino gefunden hat. Sie bitten uns, ein Foto von ihnen zu machen. "Mein Gott, sind die glücklich", flüstert Cayetana neidisch. Vielleicht denkt sie in diesem Moment an Alejandro, den Radfahrer, an den Baigorri-Barmann oder an Javier den Gärtner. Es ist meine Pflicht, sie in diesem Moment ganz fest zu umarmen. "Beim nächsten Mal findest Du bestimmt auch jemanden", tröste ich sie. "Und – wirst Du nächsten Sommer wieder nach Ibiza fahren oder hier mit mir weiter den Weg gehen?" Sie wirft einen langen Blick auf die von der Abendsonne vergoldete Kathedrale und sagt dann: "Ich komme wieder mit. Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende führen – das hast Du doch immer gesagt, Don Carmelo".



Lächelnd schaut sie nach Westen. In dieser Nacht hat Cayetana einen merkwürdigen Traum. Vor einer dunklen Brücke findet sie einen kleinen Stern aus Licht, sie hebt ihn auf, damit er ihr zur Überquerung der Brücke den Weg ausleuchtet. Auf der anderen Seite angekommen, blickt sie zurück und sieht, dass hunderte von Lichtsternen eine strahlende Spur über die Brücke ziehen.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Agés nach Burgos: ca. 24 Km

Unterkunft in Burgos:
Städtische Pilgerherberge, Calle Fernán González 28 - 32, direkt am Camino, kurz vor San Nicolás und Kathedrale, Tel. 947-460922: modern, groß und zentral, Waschmaschine, Trockner, Küche, Internet. Übernachtung 5 Euro.

Wer in der schönen Stadt Burgos länger als 1 Tag bleiben und / oder komfortabler übernachten will, dem sei folgendes Hotel empfohlen:
Hotel "Abadía – Camino Santiago", C. Villadiego 10, Tel. 947-040404, email: reservas@hotelabadiacaminosantiago.com website: www.hotelabadiaburgos.com
Modernes 3-Sterne Hotel, ideal für einen "Pausentag", direkt am Camino de Santiago am Ortsausgang von Burgos gelegen (das hat den Vorteil, dass man beim Start früh morgens schon nach ein paar Minuten die Stadt hinter sich lassen kann und dabei einen "Vorsprung" vor den Pilgermassen hat, die zur gleichen Zeit im Ortszentrum aufbrechen). Freier Internetzugang, kleine Bar im Eingangsbereich. Übernachtung (ohne Frühstück, verschiedene Zimmertypen): zwischen 40 und 65 Euro.

Verpflegung in Burgos:
Restaurant "GAONA", C. Paloma 41 (rechts hinter dem Kathedralenplatz), Tel. 947 279612. Authentisch, immer voll, tüchtige Bedienung. Sehr gutes Menü für 12 – 15 Euro (3 Gänge plus 1 Flasche Wein, sehr zu empfehlen: zarte Lammhaxe, hausgemachter Flan-Pudding, Rotwein der Region Ribera del Duero)

"Abadengo", C. Alfonso VIII Nr. 39, Tel 947-206326, direkt am Kloster Las Huelgas Reales, Tagesmenü 11 Euro, Grillspezialitäten.

"Confitería Alonso", an der Plaza Mayor, mit Seiteneingang an der Uferpromenade Paseo de Espolón, einer der traditionsreichsten "Törtchentempel" von Burgos

Souvenirs:
"EL PEREGRINO"
Pza. del Rey San Fernando, 1
09003 BURGOS – Burgos
Schmuck aus Keramik mit Motiven der Kathedrale von Burgos, z.B. Fensterrosen als Amulett und Ohrringe: www.kimuceramica.com

Kirchen:
Kathedrale Santa María in Burgos: www.catedraldeburgos.es/
Geöffnet: Di. – So. 9.30 – 19.00 (schließt im Winter eine Stunde früher!, die Capilla del Cristo de Burgos und die Capilla de Santa Tecla sind oft für Besichtigung geschlossen) Eintritt: 7 Euro, für Pilger die Hälfte.



Cartuja de Miraflores (Kartäuserkloster): www.cartuja.org
Großartige spätgotische Klosterkirche (15. Jh.) ca. 4 Kilometer außerhalb südöstlich von Burgos, ebenso wie der größte Teil der Kathedrale erbaut von Johann von Köln und Simon von Köln, mit zahlreichen Kunstschätzen: wunderbarer spätgotischer Hochaltar von Gil de Siloe mit Schwindel erregendem Detailreichtum, ebenfalls vom genialen Gil de Siloe sind die königlichen Grabmäler aus Alabaster, mit Löwen, die dem Betrachter die Zungen herausstrecken: Zudem filigranes Chorgestühl, beeindruckende Statue des Heiligen Bruno vom Barockbildhauer Manuel Pereira und im Museum zahlreiche Gemälde und Skulpturen. Eintritt frei, Spenden willkommen. Geöffnet: Mo. – Sa. 10.30 – 15.00 und 16.00 – 18.00, sonntags 11.00 – 15.00 und 16.00 – 18.00. Sonntagsmessen um 10 und 15 Uhr

Kloster Las Huelgas Reales
Monumentale frühgotische Klosterkirche des Zisterzienser-Ordens im Westen von Burgos mit zahlreichen Königsgräbern und romanischem Kreuzgang, leider nur mit Führung zu besichtigen und strenges Foto-Verbot. Eintritt: 5 Euro. Geöffnet: Di. – Sa. 10.00 – 13.00 und 16.00 – 17.30, sonntags 10.30 – 14.00, Mo. geschlossen

Kirche San Nicolás
Spätgotische Kirche schräg gegenüber der Kathedrale, schöner spätgotischer Hochaltar aus Alabaster. Geöffnet: Di. – Sa. 12.00 – 13.30 und 17.00 – 19.00 (davor und danach Messen), sonntags nur zu den Messen



Kirche San Gil
Die vielleicht schönste Pfarrkirche von Burgos, spätgotisch mit schönen Hochaltären, meist nur zu den Messen geöffnet

[druckversion ed 12/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Spanien: Rot, weiß oder gold?
Jerez sucht seine Zukunft
 
Als die sagenumwobenen Piraten Hawkins und Drake im Auftrag der englischen Königin Elizabeth I. vor Cádiz beinahe dreihundert Fässer andalusischen Weines von den Spaniern erbeuteten und sie nach London schifften, wurde das flüssige Gold dort zu Höchstpreisen gehandelt. William Shakespeare war so angetan von diesem Wein, der schon damals Kultstatus hatte, dass er ihn in seinem "König Heinrich der Vierte" (2. Teil, 4. Aufzug, 3. Szene) verewigte und seinen lebensfrohen Falstaff ausrufen ließ: "Wenn ich tausend Söhne hätte, der erste menschliche Grundsatz, den ich sie lehren wollte, sollte sein, fader Getränke abzuschwören und sich dem Sherry zu ergeben."

Schon viele Jahrhunderte zuvor und auch danach hat der aromatische Wein aus dem südspanischen Städtedreieck Jerez de la Frontera, Sanlucar de Barrameda und Puerto de Santa Maria noch Millionen andere Menschen ähnlich verzückt. Dabei ist Jerez – die bekannteste der drei Städte – zu so etwas wie einem Synonym für Sherry geworden.

Vor mehr als 3.000 Jahren gegründet von den Phöniziern, hieß sie noch Cera, was so viel wie ‚heiß’ bedeutet und auf das Klima anspielt. Später gaben ihr die jeweiligen Eroberer noch andere, ähnliche Namen: Die Griechen nannten sie Xera, die Römer Seritium bzw. Ceret und die Mauren dann Sherish – woraus die Engländer später das Wort Sherry machten. Erst nach der Rückeroberung durch die Spanier erhielt die Stadt um 1380 ihren heutigen Namen.

Die speziellen klimatischen Bedingungen in dem 20.000 Hektar großen Städtedreieck tragen besonders in Verbindung mit den kalk- und kreidereichen Böden an Berghängen zur Ausprägung des typischen intensiven Aromas bei.

In den "barros", den lehmreicheren Böden der Täler und den eher sandigen "arenas" rund um Jerez, gedeihen Rebstöcke ebenfalls außerordentlich gut und liefern stattliche Erträge. Nicht nur die Spanier, auch die Engländer, verfielen dem aromatischen Wein – und zwar so sehr, dass sie nach erwähnter illegaler Konfiszierung durch ihre Piraten vor 400 Jahren dazu übergingen, sich in der Region niederzulassen und selbst Sherry für ihre Insel zu produzieren. Sie exportierten ihn auch in all ihre Kolonien. Dieser Boom setzte sich über Jahrhunderte fort bis in die 1980er / 1990er Jahre.

Die Legende lüften
Aber: Es wurde nicht immer Sherry in dieser Region hergestellt. In der Zeit der Phönizier, Griechen und Römer wurden zahlreiche Rebsorten – rote und weiße – eingeführt und angebaut. Ihre erst große Blüte erlebten diese Weine ab dem 4. Jahrhundert unter den Westgoten. Sie züchteten neue Rebsorten und verfeinerten die Weinherstellung. Das Ergebnis war überaus bekömmlich – und die Weine nun weit über die Grenzen Spaniens hinaus berühmt. Doch das war kein Sherry.

Erst die Mauren – denen eigentlich per Koran der Genuss von Alkohol verboten war – lehrten die Menschen nach ihrer Herrschaftsübernahme die verfeinerte Kunst der Sherryherstellung. Jetzt florierte das Weingeschäft richtig.

Rund eintausend Jahre später, im Jahr 1835, machte auch Manuel María González eine Bodega in Jerez auf. Das Weingut war bald so erfolgreich, dass er zwanzig Jahre später seinen britischen Handelsvertreter Robert Blake Byass zu seinem Geschäftspartner machte: der heute weltweit größte Sherry-Produzent González Byass war geboren. Mit "Tío Pepe" brachte das Unternehmen einen der bekanntesten Sherrys der Welt in den Handel. Außerdem kreierten die Weinmacher von González Byass eine weitere Spezialität: Jahrgangssherrys. Sie werden aus den Weinen eines bestimmten Jahrgangs bereitet, was in der gesamten Sherry-Region noch immer eine Seltenheit ist.

Zurück zu den Wurzeln
González Byass hat aber auch früh genug erkannt, dass die weit mehr als ein Jahrtausend anhaltende Erfolgskurve des Sherrys in den letzten Jahrzehnten einen ziemlichen Knick erfahren hat. Die Sherry trinkenden Generationen sterben langsam aus und nur sehr viel weniger junge Menschen finden Zugang zum aromatischen Wein. So hat das Unternehmen bereits vor einigen Jahrzehnten begonnen, Weingüter im Penedès und der Rioja zu erwerben, um sich für die Zukunft breiter aufzustellen und ist in der Sherry-Stammregion zum Pionier für die Produktion von Rotweinen geworden: Im Jahr 2000 kaufte González Byass die Bodega Finca Moncloa, malerisch gelegen inmitten eines 42 Hektar großen Weinbergs am Rande von Arcos de la Frontera, eine knappe halbe Stunde außerhalb von Jerez de la Frontera.

"Der kalkhaltige Boden dieser Gegend ist nicht nur für Sherry geeignet ", erzählt der González Byass-Weinmacher José Manuel Pinedo bei einem Spaziergang durch den Weinberg.

"Genauso wie vor dem Einzug der Mauren gedeihen hier auch heute lebendige Rot- und Weißweine prächtig."

Arcos de la Frontera habe er wegen seiner vielfältigen Bodenformationen und der erhöhten Lage ausgewählt, erklärt er weiter. "Außerdem bieten die starken Unterschiede von Tag- und Nachttemperaturen beste Voraussetzungen für die kontrollierte Reife unserer Trauben." In diesem Zusammenspiel von Höhe, Hanglage und ganzjährigem Sonnenschein erbringen die Reben aromatisch konzentriertes Lesegut mit wunderschön gereiftem Tannin. Und mit 900 Millimetern jährlich fällt auch genügend Niederschlag. "Das erspart uns die künstliche Bewässerung – absolut beachtenswert in diesem Teil Spaniens."

Pinedo baut verschiedene Rebsorten an, darunter Syrah, Cabernet Sauvignon, Tempranillo, Tintilla de Rota, Merlot und Petit Verdot. Schon mit den ersten Jahrgängen lieferte er eine solch beeindruckende Qualität, dass zahlreiche seiner Finca Moncloa-Cuveés bei nationalen und internationalen Wettbewerben ausgezeichnet wurden. "

Alle Trauben für unsere Cuvées lesen wir von Hand, bringen sie unverzüglich in die Kellerei, wo wir sie sanft pressen und dann nach Rebsorten getrennt vinifizieren", hebt Pinedo die hochwertige Machart hervor. Nach der Maischegärung im Edelstahltank werden die Weine dann in neuen und gebrauchten Fässern aus französischer und amerikanischer Eiche ausgebaut. "Hier durchlaufen sie ihren biologischen Säureabbau, bevor ich sie dann erst kurz vor der Flaschenabfüllung im Juli zu den Cuveés komponiere, die wir den Menschen anbieten möchten."

Einer von Pinedos am meisten beachteten Weinen ist der Finca Moncloa Cabernet Sauvignon & Syrah 2006. Diese Cuvée aus 51% Cabernet Sauvignon, 38% Syrah, 12% Merlot und 1% Tempranillo ist auch einer seiner meist prämierten Weine. (Zur Verkostung siehe Traubiges: Finca Moncloa Cabernet Sauvignon & Syrah 2006)

Die außergewöhnliche Qualität dieses Tintos und sein vielschichtiges Genusserlebnis verbinden ihn mit seinen goldenen Brüdern. Doch während Sherrys heutzutage unter ihrem Image des "old ladies’ drink" leiden, ist er ein Referenzwein für den neuen Stil des spanischen Südens.

Text: Lars Borchert
Fotos: Lars Borchert + González Byass

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.

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[art_3] Bolivien: Die Mennoniten - Leben wie vor 300 Jahren
 
Im Südosten Boliviens leben rund 25 000 strenggläubige Mennoniten nach deutschen Bräuchen aus dem 17. Jahrhundert. Ein "Gott gefälliges Leben" soll sie vor den Verlockungen der Moderne schützen.

Ungewöhnlich groß sind die Schaufelräder des Traktors, mit dem Bernhard Dyck sein Feld bestellt. Sie sollen den 40-jährigen Bauern vor der Fahrt in die Hölle bewahren. "Wir haben diese Räder, um der Versuchung zu widerstehen, spazieren zu fahren", erklärt Bernhard in langsamem, hölzern klingendem Althochdeutsch, und tatsächlich machen die eisernen Schaufeln die Räder für jede Straße unbrauchbar. Bequem spazieren zu fahren - das wäre nicht gottgefällig.

Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein im Südosten Boliviens, in der Mennoniten-Kolonie "Nueva Esperanza" (Neue Hoffnung).

Hier hat die Familie Dyck gefunden, was ihre Vorfahren so lange gesucht haben: guten, günstigen Boden und einen Staat, der sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischt. Denn die Mennoniten, als kalvinistische Widertäufergruppe im 16. Jahrhundert nach der Reformationsbewegung in Friesland entstanden, waren von jeher Außenseiter.

Weil sie den Wehrdienst und die Kindstaufe ablehnen, wurden sie vom preußischen Staat und der Kirche verfolgt. Also wanderten sie Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst in die Ukraine und später auch nach Kanada aus.

Als ihnen dort nach dem Ersten Weltkrieg die Privilegien aberkannt wurden, wie die deutsche Sprache, eigene Schulen und die Freistellung von der Wehrpflicht, zogen die besonders strenggläubigen Mennoniten nach Südamerika weiter. Rund 25 000 von ihnen leben heute in Bolivien.

Zwölf Stunden dauert die Fahrt von der Kolonie bis Santa Cruz, der nächstgrößeren Stadt. Das ist weit genug, um die Moderne auf Abstand zu halten. "Wir kämpfen jeden Tag aufs Neue, auf das wir das Wort Gottes richtig verstehen", meint Bernhard und streicht fast ein wenig verlegen über seine grobe Latzhose. Das bedeutet, auch "nur von dem zu leben, was wir durch unserer eigener Hände Arbeit und der Gnade Gottes erhalten". Jeden Morgen um fünf stehen er und seine Frau Anna gemeinsam mit ihren acht Kindern auf und machen sich ans Tagwerk: Kühe melken, Hühner füttern, den Gemüsegarten pflegen und die Felder bestellen. Das seit einigen Jahren Traktoren für die Feldarbeit zugelassen sind, war keine Selbstverständlichkeit. Doch am Ende entschied der Vorstand der Kolonie, dass "es Gott gefällig ist, wenn die Ernte reich wird".

Bernhards Frau Anna hat ihre langen blonden Haare unter einem Kopftuch versteckt. Emsig tritt sie das Pedal ihrer alten Singer-Nähmaschine. Ihre von der Feldarbeit rauhen Hände bleiben immer wieder an dem Stoffrest hängen, aus dem sie für ihre vierjährige Tochter Katharina ein Kleid näht.

In ihren 38 Lebensjahren scheint sie nur selten gelächelt zu haben, und das ist konsequent, denn weltlichen Freuden halten sich die Mennoniten fern. Tanz und Musik sind verpönt, nur Kirchenlieder sind gestattet.

Doch das Vorwort des 1996 in Kanada in alter Druckschrift erschienenen Gesangbuchs mahnt: "Du wollest, christlicher Leser, dieses Gesangbuch nicht aus bloßer Gewohnheit gebrauchen, noch Deine Sinne nur an den Melodien ergötzen, sondern zum Lobe Gottes und zur Erbauung Deiner Seele anwenden."

Auch Besitz ist nicht gottgefällig, und so hat Familie Dyck ihr Herz wahrlich nicht an weltliche Güter gehängt: Die Einrichtung des aus unverputzten Ziegelsteinen erbauten und mit Wellblech gedeckten Hauses besteht aus ein paar Betten, einem Holztisch mit Bänken und einer Kommode, auf der eine Emailleschüssel zum Waschen steht. Keine Bilder, kein Spiegel, kein Kinderspielzeug. Das einzige Zugeständnis an den Fortschritt ist eine Packung Maggie-Brühwürfel.

Die dreizehnjährige Elisabeth arbeitet auf dem Hof ihrer Eltern mit wie eine Erwachsene. Die Kinder besuchen hier nur bis zu ihrem zwölften Lebensjahr die Schule, in der die Bibel, das Gesangbuch, Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt wird. Zur Ernte- oder Saatzeit und wenn geschlachtet wird, fällt die Schule aus, also ziemlich oft. Nur so können sich die Familien, die Geburtenkontrolle ablehnen, mit bis zu 16 Kindern ernähren. "Einer jeglicher tuet das, was er kann", sagt Elisabeth achselzuckend. Die Arbeiten werden streng nach Geschlechtern getrennt: Mit ihren zwei älteren Schwestern arbeitet Elisabeth im Haus und auf dem Hof, während die Brüder mit dem Vater die Feldarbeit erledigen und Handel treiben - die Mennoniten gelten in Bolivien als ausgezeichnete Viehzüchter und sind für ihren Käse bekannt. Nur die Männer sprechen ein wenig Spanisch und müssen für ihre Frauen übersetzen, wenn diese einmal die Kolonie verlassen, was ziemlich selten vorkommt; denn Kleiderstoffe, Salz und Kaffee werden im Krämerladen der Kolonie gekauft, alles andere stellen die Familien selbst her.

Untereinander sprechen die Mennoniten bis heute ausschließlich Altplattdeutsch, das sich über die Jahrhunderte hinweg nur in dieser von der Außenwelt abgekapselten Gesellschaft erhalten hat. Im Gottesdienst wird das Althochdeutsch aus der Bibel und dem Gesangbuch verwendet.

Wie abgesondert die Mennoniten leben, zeigt sich auch beim Blick in die Gesichter: Auffällig viele zeugen von einer geistigen Behinderung. Seit 300 Jahren kam kaum frisches Blut in die Gemeinschaft.

Abgeschieden von der modernen Welt lebend, wissen viele der Mennoniten in Bolivien fast nichts über ihre alte Heimat. So sind die Fragen an den Besucher, der "durch die Welt spazieren fährt" zahllos. Wie heißt der König von Deutschland und wie groß ist sein Volk? Dass dort Kühe im Stall gehalten werden und Medikamente bekommen, findet Bernhard unbegreiflich. Das Fleisch kann doch nicht gut sein, meint er.

Manchmal, so sagt er, möchte er doch etwas wissen über die Welt. Sein größter Wunsch ist ein Atlas, "denn es ist schön, wenn einer sich fremde Länder besehen kann". Aber selbst einmal "spazieren zu fahren", um "die Welt zu besehen", das wäre nicht gottgefällig.

Text: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-362-1
Verlag: Reise Know-How
3. Auflage 2012

[druckversion ed 12/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Peru: Lateinamerikanische Autoren in Deutschland
Interview mit César Rosales-Miranda (Asociación de los autores latinoamericanos en la emigración europea)
 
Auf der Frankfurter Buchmesse ist seit 15 Jahren ein Verein vertreten, der sich um die Belange lateinamerikanischer Autoren in Deutschland / der EU kümmert. Ziel des Vereins "Asociación de los autores latinoamericanos en la emigración europea" ist die Verbindung zwischen Autoren, Literaturagenten und Verlegern herzustellen, um Werke veröffentlichen zu können.

Mit dem "Vereinsvorsitzenden", dem Peruaner César Rosales-Miranda aus Hannover, hat sich Torsten Eßer in Frankfurt unterhalten.

Wie viele Mitglieder hat euer Verein?
Aktuell sind es zwischen 40 und 50, aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Die Fluktuation ist hoch, da viele Schriftsteller häufiger umziehen und sich bei mir nicht ummelden (lacht!). Aber ich würde uns auch eher als Autorengemeinschaft bezeichnen, denn als Verein.

Wie ging es los?
Im Jahr 1999 wurden einige von uns von der litprom (Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika), die die Gastprogramme für die Buchmesse in Halle 5.0 organisiert, zur Buchmesse eingeladen. Sie hatten einen kleinen Bereich – vier Quadratmeter - für lateinamerikanische Autoren reserviert und suchten Autoren, die in der Emigration leben. Und so kamen dort u.a. aus Berlin Esther Andradi (Argentinien), eine kolumbianische Autorin, Walter Lingan (Peru) aus Köln und ich zusammen. Wir stellten dort unsere Bücher aus und vor. Das ging vier Jahre so weiter, aber dann zerfiel die Gruppe, auch weil einige Mitglieder Deutschland wieder verließen. Ich habe dann - ehrenamtlich - das Ruder übernommen.

Handelt es sich um bekannte Autoren?
Es sind schon professionelle Autoren, aber leben können sie davon nicht, also haben die meisten noch einen anderen Job. Natürlich gibt es auch Anfänger, aber die Mehrheit von uns hat auch schon vorher, in unseren Heimatländern, publiziert.

Warum leben sie in Europa?
Die meisten kamen aus politischen Gründen in die BRD und in die DDR, zu Zeiten der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Einige kamen auch während der Wirtschaftskrise in Argentinien. Heute leben rund 100.000 Lateinamerikaner in Deutschland, davon sind etwa 30.000 hier geboren.

Was für Erfolge kann der Verein vorweisen?
Zum Beispiel die Wiederauflage eines Buches von Esther Andradi, ein Erzählband, in dem sie 14 lateinamerikanische Autoren und Autorinnen versammelt und das zuvor schon in Argentinien erschienen, aber nicht mehr erhältlich war. Und mit unserer Hilfe konnte es in Spanien erneut veröffentlicht werden. Und für viele andere Autoren haben wir es über fundraising geschafft, zweisprachige Titel ihrer Werke herauszugeben oder Übersetzungen zu finanzieren. Viele dieser Werke sind außerdem insofern "besonders", als dass sie in der Migration entstanden sind und deshalb eine spezielle Sicht vorweisen, von Lateinamerikanern in Europa auf Dinge in Europa oder in der fernen Heimat.

Und was bringt euch der Stand auf der Buchmesse?
Hier knüpfen die Autoren Kontakte. Und sie können auch einige Bücher verkaufen, samstags und sonntags. Aber die Kontakte zu Institutionen und Veranstaltern sind sehr interessant. Denn wir organisieren ja z.B. selbst keine Lesungen, arbeiten aber eng mit solchen Vereinen zusammen, wie der Tertulia "La Ambulante" in Köln. Probleme gibts natürlich auch: Ein Problem ist bzw. wird die Standmiete auf der Messe. Sie wurde viele Jahre von der Messe gesponsert. Das war dieses Jahr vorbei: Aus Platzgründen mussten wir zudem noch auf eine andere Halle ausweichen. Hier in Halle 5.1., wo die etablierten Verlage und ganze Länder sich präsentieren, sind die Mieten viel höher als in Halle 5.0. So musste ich alternative Geldquellen erschließen, doch aufgrund von Spenden hat es dann geklappt. So sind wir neben dem Stand von Peru gelandet, für den ich während der Messe ohnehin schon immer Sachen organisiert habe.

Text + Foto: Torsten Eßer

Buchtipps:
César Rosales-Miranda
Migrafiti Alemania. Cuentos sobre inmigrantes hispanohablantes
Schmetterling Verlag, Frankfurt 2013

Esther Andradi (Comp.)
Vivir en otra lengua: Literatura latinoamericana escrita en Europa
Ediciones del Instituto Movilizador de Fondos Cooperativos, Buenos Aires 2007

Carlos Müller
Die Kanarischen Inseln. Reise durch die Zeit
Dagmar Drewes Verlag, Celle 2005
http://www.carlos-mueller.de/index.html

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[kol_1] Erlesen: Stuart Archer Cohen – Der siebzehnte Engel
 
Mit einem Kopfnicken deutete er auf einen Mann um die sechzig, dessen kahlrasierter Schädel und die pechschwarzen Augenbraun die bedrohliche Wirkung noch verstärkten, die von seinen Zahnlücken und der funkelnden goldenen Halskette ausgingen. Fortunado beugte sich noch etwas näher an Athena Fowler. "Der Mann da drüben, Oswaldo. Der hat sein ganzes Leben Frauen für sich anschaffen lassen. Außerdem ist er ein berühmter Messerstecher. Jetzt wird er langsam alt, so wie wir alle. Der andere, der bei ihm sitzt ist ein puntero aus dem Barrio. Ein Kokaindealer. Und das alles steckt in der Musik. Es gibt Tangos über Zuhälter, Kokain. Es gibt Tangos über Männer wie diese." Er deutete auf einen anderen Tisch. "Die nur traurig dasitzen, rauchen und trinken. Es gibt Tangos über Lokale wie die Los 17 Angeles de Piedra."

Der siebzehnte Engel
Autor: Stuart Archer Cohen
417 Seiten




Miguel Fortunado ist Liebhaber des klassischen Tangos, Tänzer und Comisario der Provinzpolizei in Buenos Aires. Der Tod seiner Frau liegt nur wenige Monate zurück. Sie war ihm Tanzpartnerin der Liebe und des Lebens und moralisches Korrektiv im Sumpf der exekutiven Korruption, die vom Straßenpolizisten bis in die höchsten Etagen reicht. Letztere nicht selten mit folternden und tötenden Schergen der Militärjunta besetzt, unvorstellbar skrupellosen Subjekten vergangener Systeme.

Der Roman-Auftakt ist brillant: Fortunado erschießt den semi-erfolgreichen US-Autor Waterbury, der seine Recherche in Buenos Aires als letzte Chance sieht, seinen einstigen schriftstellerischen Ruhm wieder zu erlangen. Als die US-Amerikanerin Athena Fowler zur Aufklärung des Mordes an Waterbury nach Argentinien entsandt wird, muss ihr Fortunado zur Seite stehen. Schließlich hat er den Tod des Schriftstellers zu verantworten und trägt nun dafür Sorge, dass sein Kommissariat unbefleckt bleibt – sein Vorgesetzter, er selbst und seine korrupten Kollegen weiterhin ungestört Reichtümer erzwingen, erpressen und rauben können. Zur Aufklärung seines eigenhändig verübten Mordes präsentiert er Doctora Fowler immer fadenscheinigere Theorien, Verdächtige und Geständige. Der Tango Fortunados und Fowlers kann beginnen…

Luis und Yolanda tanzen, das Gesicht abgewandt, den Rücken durchgedrückt, Vorwärtsschritt, Drehung, Rückwärtsschritt. Luis führte souverän, ohne einen falschen Schritt schwenkte er seine Partnerin hin und her. Sie waren ein leichtfüßiges Paar, die Bewegungen fließend, eine perfekte Einheit. "Sehen Sie? Die Schritte der Frau und die des Mannes sind völlig anders, aber sie passen perfekt zusammen. Er geht vor, sie geht zurück. Sie will ausbrechen, er schneidet ihr den Weg ab. Beim Tango herrscht der Mann. Er führt, aber er lässt die Frau ganz Frau sein."

Athena Fowler bricht aus. Sie verlässt sich nicht allein auf die Hilfe des Kommissars, sondern kontaktiert die edlen und weniger edlen Bekämpfer des korrupten Systems. Allen voran den von der Polizei verhassten, weil alle Drohungen ignorierenden, Journalisten Ricardo Berenski. Dessen Nachforschungen bringen die Verwicklungen Waterburys mit zwei auf höchster politischer und wirtschaftlicher Ebene agierenden Gegenspielern ans Licht: Carlo Pelegrini und die Grupo Capital AmiBank. Die Todesursache Waterburys laut Polizeibericht - umgekommen bei einem Drogendeal - wird immer unhaltbarer. Doch das persönliche Schicksal Waterburys verliert vorübergehend an Interesse in Anbetracht der auf höchstem kriminellen Niveau ausgefochtenen Duelle um den vom Liberalismus vorangetriebenen Ausverkauf öffentlicher Eigentümer wie der argentinischen Post.

Fortunado bringt Fowler wieder auf den von ihm beherrschten Kurs. In tänzerischer Gewandtheit geleitet er sie durch die, die offizielle Version des Ablebens des Schriftsteller stützenden, Konstrukte. Die beiden verschmelzen zu einer ermittelnden Einheit. Dann, als die Musik zu verstummen droht und der Tanz zu Ende scheint, stören unerwartete Eindringlinge die Harmonie und allmählich dreht sich das Kräfteverhältnis. Sie geht vor, er er geht zurück. Aus dem schwarzen Tango, der von den finstersten argentinischen Mächten erzählt, wird allmählich ein weißer puristischer Paartanz. Das Böse zeigt sich vergänglich, verlorene Seelen werden zurückgeführt auf den Pfad der Tugend.

Fazit: Die Geschichte ist Tango. Sie ist richtig gut, bisweilen spannend. Die Rahmenhandlung – Polizist jagt sich selbst – ist ein Knaller. Aber der Autor hat das Pech, nicht aus dem Land des Tangos zu stammen, und so fehlt dem Roman zur Vollkommenheit die Poesie.

Die Sprache ist kein Tango. Und Geschichte und Sprache stellen kein harmonisches Tanzpaar, dessen Betrachtung zu tiefmelancholischen Freudentränen zu rühren vermag. Sehr schade. Lesenswert: ja. Ein Muss: nein.

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon

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[kol_2] Macht Laune: Beinfreiheit in Asunción
 
Früher war alles besser, jeder weiß das. Schauen Sie sich alte Postkarten von Linienflügen über den Atlantik an – großzügige Sitze wie in Opas Wohnzimmer, rauchen durfte man auch. Und natürlich diese unglaubliche Beinfreiheit.

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Beinfreiheit! In Zeiten des konstanten Reisens, wie wir es heutzutage erleben, gibt es kaum ein bedeutenderes Schlagwort als Beinfreiheit. Wer sich ständig in die engen Sitze moderner Düsenflieger quälen muss, der weiß um die Bedeutung einiger Extra-Zentimeter.

Der Fortschritt hat uns viele Segnungen gebracht, Beinfreiheit und Reisekomfort zählen jedoch nicht dazu. Noch in den 80er Jahren konnte man Zugreisen durch Europa am offenen Fenster genießen; heute gibt es in den Schnellzügen leider keine zu öffnenden Fenster mehr.

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Und die Toiletten in Zügen und Flugzeugen scheinen auch eher für Zwerge gemacht als für normale Menschen. Der heutige Bordservice serviert Coca Cola Zero und Erdnüsse statt zünftiger Alkoholika. Experten meinen, dass dies halt so sein müsse. Der Reisende langweilt sich dabei jedoch gehörig ob solcher Spießigkeiten.

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Umso erstaunlicher erscheint dem an Qualen gewöhnten Touristen da eine Entdeckung in Paraguays Haupstadt Asunción. Wer die Estación Central de Ferrocarril besucht, den ersten Bahnhof Südamerikas überhaupt, dem eröffnen sich neue Welten. Das dortige Eisenbahnmuseum zeigt die ersten Züge, die ab 1861 durch die Dschungel und über die Savannen jenes Landes tuckerten.

Großzügige Ledersessel, Doppelbetten für müde Reisende, Toiletten größer als daheim! Und dazu eine mit feinem Whiskey ausgestattete Bar – ein Paradies für Reisende. Welch Luxus, Paraguays unerträgliche Temperaturen von über 40 Grad mit einem kühlen Drink runter zu spülen.

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Aber wie alles im Leben währte auch Paraguays hölzerner Luxuszug nicht ewig. Seit 1999 stehen die Räder still, fristet der Dampf-Dinosaurier seine Tage als zahnloser Museumstiger. Was bleibt ist immerhin die Erinnerung an Zeiten, in denen das Reisen purer Luxus war. Und an Beinfreiheit noch keine Gedanken verschendet werden mussten.

Text + Fotos: Thomas Milz

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[kol_3] Traubiges: Finesse, Frucht und Mineralität
Finca Moncloa: Stattlicher Tinto aus der Heimat des Sherrys
 
Seit 3.000 Jahren wird in dem andalusischen Städtedreieck Jerez de la Frontera, Sanlucar de Barrameda und Puerto de Santa Maria Sherry vinifiziert. Heißt es. Das ist aber ein Irrtum. Denn es waren die Mauren, die den spanischen Weinbauern das Sherrymachen beibrachten. Und das war zu Beginn des 9. Jahrhunderts – nachdem sie den südlichen Teil der iberischen Halbinsel erobert hatten.

Inzwischen, 1.200 Jahre später, wachsen in den Weinbergen der Region auch wieder Rebsorten für klassische Rot- und Weißweine. Die Finca Moncloa, die zu dem Sherry-Imperium González Byass gehört, ist der Pionier auf dem Weg zurück zu den (Wein-)Wurzeln.

Einer ihrer am meisten beachteten Weine ist der Finca Moncloa Cabernet Sauvignon & Syrah 2006.

Diese Cuvée besteht aus 51% Cabernet Sauvignon, 38% Syrah, 12% Merlot und 1% Tempranillo. Sie ist auch einer ihrer meist prämierten Weine – unter anderem mit der Silbermedaille des renommierten britischen Weinmagazins Decanter. Zu Recht, sie ist einer der finessenreichsten Rotweine des gesamten spanischen Südens und kommt neben ihrer faszinierenden Frische und beispielhaften Mineralität ungemein dicht und gehaltvoll daher. Tief kirschrot mit purpur-rubinroten Glanzlichtern fließt sie ins Glas und entfaltet dort einen opaken Kern. Ein vielschichtiges Bukett aus roten Beeren, Vanille, Edelhölzern, Gewürzen und dunkler Schokolade steigt in die Nase.

Am Gaumen ist dieser stattliche rote Botschafter aus dem Sherry-Dreieck weich und fruchtig, zugleich aber auch kraftvoll und vielschichtig. Sein Tannin legt sich reif und seidig über Zunge und Zähne. Keine Spur von marmeladiger Überreife, von Rumtopfnoten oder einer Alkoholdominanz: allesamt unerwünschte Parameter, die Gaumen und Nase unschön attackieren. Stattdessen brillieren Präzision, Frische und Fruchttiefe. Absolut beeindruckend auch der Spannungsbogen von der Zungenspitze bis in den warmwürzigen Nachhall, der Vanille, Kaffee und Kakao aufleben lässt.

Mit dieser Cuvée ist der Finca Moncloa ein Wein gelungen, der beweist, dass der spanische Süden noch eine lange weinreiche Zukunft vor sich hat – mit oder ohne Sherry. Und das ist sicherlich kein Irrtum.

Text: Lars Borchert
Foto: González Byass

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.

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[kol_4] Lauschrausch: Klingende Weihnachten
Klazz Brothers - Luis Frank Arias - Guillermo Rubalcaba - Inti Illimani Histórico
 
Als vor elf Jahren drei deutsche, klassisch geschulte Musiker (Klazz Brothers) nach Kuba reisten, um dort Konzerte zu geben, spielten sie auch einige Jamsessions mit Kubanern und stellten fest, wie gut sie miteinander harmonierten. Aus der Zusammenarbeit mit Alexis Herrera Estevez und Elio Rodriguez Luis entstand 2003 das Album "Classic meets Cuba", das einen "Echo" erhielt und für den Grammy nominiert wurde.

Klazz Brothers & Cuba Percussion
Classic meets Cuba II
Sony Music

Nun haben die Kla(ssik) und (Ja)zz Brothers nachgelegt und Teil 2 eingespielt. "Aus der einzigartigen Verbindung von klassischer europäischer Musiktradition mit Elementen des Swing und Latin Jazz und der nahezu unendlichen Vielfalt kubanischer Rhythmen hat das Quintett ein völlig neues Klangbild kreiert", heißt es im Begleitzettel und das stimmt. Allerdings funktioniert es mal mehr mal weniger gut. Während die kubanischen Rhythmen mit Vivaldis "Sommer" oder Bachs "Menuett" sehr gut harmonieren, wird das bei der 9. Symphonie, die zum Mambo mutiert, schon schwieriger, und geht z.B. bei der "Overtüre 1812" von Tschaikowsky gar nicht auf, wo der Gesang und das Klatschen simpel, blöd und kitschig klingen. Schade ist auch, dass aus kommerziellen Gründen nur populäre Kompositionen ihren Weg auf dieses Album gefunden haben. Aber zum Fest passt dieses Album gut, da es Abwechslung ins Repertoire bringt.


Ganz auf Weihnachten zugeschnitten (inkl. einer spanischen Vokalversion von "Stille Nacht, heilige Nacht") ist das Album von Luis Frank Arias (siehe Interview caiman 08/ 2013) und dem Pianisten Guillermo Rubalcaba. Sie gestalteten es im Stil eines Liederabends und wählten dazu einige kubanische Klassiker aus ("Veinte años", "El manisero"…), aber auch Hits wie "As time goes by" und die spanische Version von "Autumn leaves" (instrumental).

Luis Frank Arias / Guillermo Rubalcaba
Noches cubanas en el Café del Mar
Connector Rec./ Termidor

Ich bin kein Fan von Liederabend-Musik, aber die musikalische Qualität dieser beiden Solisten ist unzweifelhaft groß und die Interpretationen müssen sich nicht hinter den Originalen verstecken. Auch hier gilt, dass mit diesem Album Abwechslung ins heimische Weihnachtsrepertoire kommt.


Das Label Putumayo kümmert sich schon früh um seine Kundschaft und hat deshalb die wunderbaren Reihen "Playground" und "Dreamland” für Kinder aufgelegt. "Latin Dreamland" enthält 10 Lieder, darunter Wiegenlieder aus Mexiko und Brasilien, instrumentale und vokale Schlaflieder aus Argentinien, Peru oder Kolumbien (allerdings mit dem mexikanische Lied "Cielito lindo").

Diverse
Latin Dreamland
Putumayo

Dabei schlafen alle Kinder ein... und hoffentlich nicht zu früh, damit sie alle schönen Lieder hören können.


Im September 2013 jährte sich zum 40. Mal der Militärputsch in Chile, der einschneidende Folgen für das Land und seine Menschen hatte. Das wird einem auch bewusst, wenn man die Begleittexte in dem CD-Buch "Vivir en libertad" liest, in denen es um die Geschichte der Gruppe Inti Illimani geht, aber auch um chilenische Exilanten und ihre Kinder in der BRD und der DDR, begleitet von einigen Fotos. Inti Illimani nennen ihr 16jähriges Exil in Italien – sie befanden sich während des Putsches 1973 gerade auf Europatournee – die "längste Tournee aller Zeiten". Das Exil schweißte die Gruppe zusammen und ließ sie zu einer der wichtigsten Stimmen des politisch fortschrittlichen Lateinamerikas werden, gerichtet gegen Militärdiktaturen, soziales Elend und andere gesellschaftliche Mißstände, die in ihren Texten angesprochen werden.

Auch musikalisch gehörte die Gruppe zu den "Revolutionären", verband sie doch chilenische / lateinamerikanische Folkloremusik und ihre Instrumente mit modernen Stilen wie Jazz oder Rock. 1989 kehrte sie nach Chile zurück.

Inti Illimani Histórico
Vivir en libertad
Heupferd Musik Verlag

Auf den beiden CDs finden sich wunderbare Lieder aus allen Epochen der Gruppe, eines auch mit italienischem Text, was ihrer Exilheimat geschuldet ist. Eingespielt wurden die Titel im Jahr 2006 (CD I) und 2008 (CD II, live) von Inti Illimani Histórico, seit dem Jahr 2004 bestehend aus drei alten Mitgliedern und drei neuen, jungen Musikern, die sich nach einem Urheberrechtsstreit um den Gruppennamen und einem Vergleich von anderen alten Mitgliedern (mit neuen Mitmusikern) abgrenzen mussten, die sich weiterhin Inti Illimani nennen. Die Musik aber bleibt unverändert (schön), darunter auch Kompositionen von Victor Jara und Patricio Manns, und die meisten Themen sind heute so aktuell wie damals (Armut, Ungerechtigkeit etc.). Standesgemäß beendet "El pueblo unido" das Konzert! Nicht nur für historisch Interessierte ein schönes Geschenk!

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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