ed 12/2009 : caiman.de

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brasilien: Kino mit Lula
Premiere des Films "Lula, o Filho do Brasil"
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug I)
Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
THOMAS BAUER
[art. 2]
bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
Teil II: Mit Jesus auf dem Berg und Larven im Fuß
LENNART PYRITZ
[art. 3]
peru: Kakao statt Kokain
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 4]
helden brasiliens: Abgesagtes Gigantentreffen
Kaiser und Phänomen trafen sich nun doch nicht
THOMAS MILZ
[kol. 1]
pancho: Tropische Weihnachtssuppe
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 2]
erlesen: Erneuerbare Energien in Lateinamerika
am Beispiel Costa Ricas - Buchauszug
CLAUS-BERNHARDT JOST
[kol. 3]
lauschrausch: Macht ist immer korrupt!
Im Interview mit Desorden Público
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Brasilien: Kino mit Lula
Premiere des Films "Lula, o Filho do Brasil"
 
Großes Gedränge auf dem Gelände der Vera Cruz Filmstudios in São Bernardo do Campo, der Stadt in der alles begann. Hier stieg der Metaller Luiz Inacio Lula da Silva in den 70er Jahren zum Gewerkschafts- und Streikführer auf. Und hier trotzten die Metaller unter Lulas Führung den Schlagstöcken der Diktatur.


Viele, die damals dabei waren, drängelten sich an den Eingängen zu den Filmstudios. Geladen musste man sein, wollte man der Premiere des Films "Lula, o Filho do Brasil" (Lula, der Sohn Brasiliens) beiwohnen. Alte Gewerkschaftskempen, Angehörige der katholischen Kirche, Gründungsmitglieder von Lulas Arbeiterpartei PT, Angehörige der Präsidentenfamilie und die unvermeidlichen Promis der Welt von TV Globo waren anwesend. Während für die VIPs Schnittchen und wohltemperiertes Mineralwasser aufgefahren wurde, frönten die Normalsterblichen Popcorn und Colarausch.

Bereitwillig ließ sich im VIP-Bereich Brasiliens TV-Mama Gloria Pires mit den Fans ablichten. Sie spielt die eigentliche Heldin des Films, Lulas Mutter Dona Lindu.


Foto: Gloria Pires + Thomas Milz

Der Film beginnt mit Lulas Geburt 1945 im ärmlichen Nordosten des Landes, als siebtes von acht Kindern. Vom Vater verlassen schlägt sich die Familie mehr schlecht als recht durchs Leben. Jahre später zieht sie nach Santos, wo es ein Wiedersehen mit dem gewalttätigen Vater gibt.

Zum Wohle ihrer Kinder beschließt Dona Lindu schließlich dem Vater endgültig den Laufpass zu geben und mit ihren Kindern nach São Paulo zu ziehen. Dort wird aus dem Orangenverkäufer und Schuhputzer Lula auf Drängen von Dona Lindu ein Metallarbeiter. Eine bis dahin typische und millionenfach gehörte Geschichte eines "Sohnes Brasiliens". Wobei Brasilien seine Söhne und Töchter in der Regel nicht gerade gut behandelt.

Nach dem Tod seiner ersten Frau, die bei der Geburt des gemeinsamen Kindes stirbt, verändert sich Lulas Leben grundlegend. Er heiratet ein zweites Mal und beginnt sich in der Metallgewerkschaft von São Bernardo do Campo zu engagieren, zu deren Präsident er später gewählt werden wird.


Bei den Ende der 70er Jahren einsetzenden Metallerstreiks steigt Lula zur nationalen Symbolfigur auf, von den einen als Kommunist beschimpft, von anderen als Held der Arbeiterklasse gefeiert und von den Militärs ins Gefängnis geworfen.

Das Gefängnis verlassen darf er lediglich für ein paar Stunden um an Dona Lindus Beerdigung teilzunehmen. Hier endet der Film nach zwei ermüdenden Stunden. Wie die Geschichte weitergeht, wissen ja sowieso alle.

In der ersten Reihe sitzend rührte der Film Lula derart zu Tränen, dass er anschließend nicht wie angekündigt vor die wartende Presse trat. Gerührt zeigte sich auch ein Großteil der mehr als 2.000 Premierenzuschauer. Besonders jüngere Lula-Fans bekundeten ihr Erstaunen über die ihnen bis dahin unbekannte Lebensgeschichte ihres Präsidenten.


Doch auch kritische Töne waren zu hören. So sei Lulas eigentliche Lebensgeschichte um einiges schöner als der für 16 Millionen Reais von Luiz Carlos Barreto produzierte Film.

Ein riesiger Erfolg wird der ab dem 1. Januar 2010 landesweit in die Kinos kommende Film aber wohl trotzdem werden. Immerhin liegt Lulas Beliebtheitswert derzeit bei runden 80% der Bevölkerung. Niemals zuvor hat es in der Geschichte Brasiliens einen beliebteren Präsidenten gegeben. Und so werden wohl Millionen Zuschauer in die Kinos strömen um die ersten 35 Lebensjahre ihres Präsidenten kennen zu lernen. Ob der Film dabei auch künstlerisch ein großer Wurf ist oder nicht, spielt hierbei keine Rolle.

Lula wird derweil wohl von einer noch größeren Sympathiewelle als der aktuellen in den Ruhestand getragen werden. Ende 2010 reicht er das Präsidentenamt an seinen Nachfolger weiter. Oder wohl eher an seine Nachfolgerin. Denn zu seiner Rechten saß bei der Filmpremiere Dilma Rousseff, Lulas Kandidatin für seine Nachfolge. Weder in Sachen Persönlichkeit noch in der Rubrik "Volksnähe" reiche sie an Lula heran, meinen viele.


Foto: Offizielles Filmplakat

Foto: Filmproduzent Luiz Carlos Barreto

Aber das könnte egal sein. "Egal, wen Lula als seinen Nachfolger ins Rennen schickt, wir werden ihn wählen", hörte man die Menschen auf dem Nachhauseweg sagen.

Text + Fotos: Thomas Milz

Filmtrailer:


Offizielle Webpage des Films:
http://www.lulaofilhodobrasil.com.br/

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug I)
Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
 
Eines Morgens im späten Dezember zog ich die Schlaufen meines Rucksacks zu, band mir eine Reisetasche um den Bauch und stieg in eine S-Bahn, deren Leuchtschrift "Flughafen München" leise zitterte. Unablässig seilten sich an jenem Tag Schneeflocken vom dunkelgrauen Himmel ab und drückten sich ans Zugfenster, als seien wir Fahrgäste eine Attraktion. Auf den eisbedeckten Bürgersteigen bewegten sich Spaziergänger wie auf einem Hochseil, und die knapp fünfzigjährige Frau in bayerischer Tracht, die mir gegenübersaß, fragte, ob ich "mit so fuui Gpäck" zum Skilaufen ginge. Weit gefehlt! Vielmehr war ich aufgebrochen, eine Region zu bereisen, die endlich die Abenteuer für mich bereithalten würde, nach denen ich schon so lange suchte.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Kurz nach Mitternacht flog unsere Boeing eine scharfe Linkskurve und entlockte den Passagieren eine Reihe unverhältnismäßig lauter "Aahs" und "Oohs". Durch das vereiste Doppelglas des Flugzeugfensters sahen wir auf die argentinische Hauptstadt hinab: Ein Lichtermeer, akkurat zu Quadraten geordnet, erhellte die Nacht und zog sich wie ein gigantisches Willkommensspalier schachbrettförmig bis zum Horizont. Auf über einhundert Kilometern Länge schmiegt sich die Stadt an den Río de la Plata. Stellenweise ist sie bis zu vierzig Kilometer breit. Würde man sie nach Deutschland verlegen, nähme sie mehr Platz in Anspruch als das Saarland.

Buenos Aires. Allein der Name verspricht Exotik, entfacht Hunger auf Unbekanntes. Man muss ihn sich auf der Zunge zergehen lassen: B-u-e-n-o-s  A-i-r-e-s. Das klingt einfach gut. Bedeutsamer als beispielsweise "Düsseldorf" oder "Bielefeld".

Mit einem dezenten Quietschen öffnete sich die Schiebetür des Flughafens und entließ mich in eine Wartehalle, in der eine Armada braun gebrannter und leger gekleideter Argentinier mir zurief, ob mein Name Peter, Kurt oder Daniel sei. Zum Glück sah ich in diesem Moment über die Köpfe der Wartenden hinweg Ramón, der lässig an ein Werbeplakat lehnte, auf dem eine Badenixe vorgab, sich für Telefonkarten zu interessieren. Mit breitem Grinsen hob Ramón ein Pappschild in die Höhe, auf dem in krakeliger Schrift Señor Tomás stand. An seiner Seite hielt Josefina nach Blondschöpfen mit blauen Augen Ausschau.

Vor zwei Monaten hatte ich Josefina und Ramón im Internet kennengelernt. Zu dieser Zeit waren die beiden auf die Idee gekommen, ihre Wohnung im Zentrum von Buenos Aires zu einer kleinen Herberge umzugestalten.

Bienvenido en Argentina, lachte Josefina mir zu, während Ramón mir seine riesige Pranke entgegenstreckte, "unser Auto steht gleich um die Ecke".

Als sich die Tür des Flughafengebäudes öffnete, war es, als prallte ich gegen eine unsichtbare Wand. Die Luft stand so dicht über dem davorliegenden Parkplatzgelände, als hätte sie jemand zusammengepresst, alle zehn Meter erhellt vom honigfarbenen Licht einer Straßenlaterne, in dem sich Moskitos und Glühwürmchen um die besten Plätze stritten.

"Heute hatten wir hier fast vierzig Grad", ließ Josefina verlauten, als müsse sie sich für dieses Wetterphänomen entschuldigen, "die Sonneneinstrahlung ist in Buenos Aires ähnlich intensiv wie in der Sahara."

Während der einstündigen Autofahrt – "wir wohnen ganz in der Nähe des Flughafens" – konnte ich meine Gastgeber von der Rückbank aus genauer in Augenschein nehmen. Angesichts ihrer erst fünfundzwanzig Jahre verfügte Josefina über ein erstaunliches Ausmaß innerer Ruhe. Die Fahrmanöver ihres Freundes, dem es insbesondere gefiel, abrupt von der linken Spur auf die ganz rechte zu wechseln, dort zu überholen und sich anschließend haarscharf vor seinem Opfer auf die Mittelspur einzufädeln, quittierte sie mit einem gütigen Lächeln, als dächte sie, so sind die jungen Männer nun mal, in ein paar Jahren geht auch das vorbei.

Auch Ramón wirkte selbstsicher, war jedoch gleichzeitig mehr als Josefina darauf bedacht, Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn mich Josefina ansah, erkannte ich in ihrem Blick eine freundliche Neugier. In Ramóns Augen loderte dagegen eine unbändige Kraft, eine Lust, Grenzen zu überschreiten, die von Zeit zu Zeit hell entflammte. Die Leidenschaft stand ihm gut, sie korrespondierte perfekt mit seinem scharf geschnittenen, braun gebrannten Gesicht und seinem ausgeprägten Oberkörper, der von der schmalen Hüfte aufwärts zu zwei ausladenden, kunstvoll tätowierten Schultern führte. Ramón spielte Rugby in der Profiliga. Er trug einen kleinen gezwirbelten Zopf und hatte jeden Tag von neuem einen Bartansatz. Vermutlich verfügte er über einen Rasierer, der absichtlich immer einen Rest von Bart stehen ließ, weil das einfach besser aussah. Vor allem aber hatte es Ramón auf subtile Art geschafft, dass man ihm besonders gut zuhörte: Während Josefina auf der Fahrt den Hauptteil der Unterhaltung bestritt, warf er nur hie und da leise einen Satz ein, der dann allerdings unter Garantie verbindlich war, und den er grundsätzlich mit zwei hochgezogenen Augenbrauen ankündigte.

Josefina und Ramón ergänzten sich perfekt. Sie waren eines jener Paare, die so selbstverständlich zusammengehören, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass es jemals anders gewesen sein könnte.

"Calle Serrano im Stadtteil Palermo, hier befindet sich unsere kleine Herberge", verkündete mir Ramón kurz nach zwei Uhr nachts, was für ihn ein erstaunlich langer Satz war. Kurz darauf betrat ich ein geräumiges Zimmer, warf meinen Rucksack und meine Reisetasche in die Ecke und erkundete das Wandthermometer, das unerbittlich zweiunddreißig Grad Celsius anzeigte. Im Nachbarhaus probten Nachwuchsrocker, die verzweifelt versuchten, genau wie die Ramones zu klingen, Lieder in erstaunlicher Lautstärke ein. Erstaunlich vor allem, weil der Zeiger meiner Armbanduhr gerade lautlos auf halb drei vorgerückt war. Eine halbe Stunde später erkannte ich Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" und um kurz nach vier wechselte die Band zu psychedelischen Pink-Floyd-Epen.

So sollte es von nun an jeden Abend sein. Was nicht weiter ins Gewicht fiel, da auf der Straße, die direkt unter meinem Fenster verlief, ohnehin das pralle Leben im Gang war: Rhythmische Sprechchöre wechselten sich mit den Böllern eines verfrühten Feuerwerks ab und alle paar Minuten ratterte ein uralter Bus die Straße Richtung Zentrum entlang.

München erschien mir auf einmal als ein beschauliches Dorf. Jetzt war ich hingegen in eine echte Großstadt gekommen. So dachte ich, als ich gegen halb fünf Uhr in der Früh einschlief.




Land der Schmerzen und der Lebensfreude
Als ich wenige Stunden später aufstand, blieben die Umrisse meines Körpers, aus Schweiß gezeichnet, im Bett liegen. Die Temperatur war auf achtunddreißig Grad gestiegen. Buenos Aires hielt ein Gewitter aus Eindrücken für mich bereit, sobald ich zur Tür meiner Pension hinausging. Genau das hatte ich von dieser Stadt erwartet.

Seit meinem zweimonatigen Ecuador-Aufenthalt vor drei Jahren war mir klar gewesen, dass ich nach Südamerika zurückkehren würde. Vielleicht lag es an der besonderen Mischung aus Weltschmerz und Lebensfreude, die auf diesem Subkontinent zu Hause ist.

"Saudate" nennen Brasilianer diese Mischung, die zum Beispiel zum Ausdruck kommt, wenn Männer in heiterer Runde nach einigen Gläsern todtraurige Lieder über sich niemals erfüllende Liebessehnsüchte anstimmen. Der weit gereiste spanisch-französische Sänger Manu Chao bezeichnet diese Art des Galgenhumors, die er in den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas antraf, als malegria – ein Wortspiel, gebildet aus dem spanischen "alegria" (Freude), das durch das vorangestellte "m" das französische Wort "mal" (Unglück) umfasst. malegria ist das Unglück in der Freude, die Freude im Unglück. malegria ist nach Manu Chao "eine unerklärliche Trauer, die mit einem Lächeln bekämpft wird." malegria setzt Temperament und Leidenschaft voraus, ein bisschen Unvernunft auch, zumindest aber die Fähigkeit zu großen Gefühlen. In vielen südamerikanischen Werken – sei es in den Büchern des chilenischen Bestsellerautors Antonio Skármeta oder im Erfolgsfilm "Amores Perros" des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Iñáritu – kommt das Zusammentreffen von Triumph und Trauer, von Überschwang und Überdruss zum Ausdruck. Schon immer zog mich diese Lebenseinstellung in ihren Bann.

Doch mehr noch: Südamerika ist noch immer zu entdecken. Was ich abseits ausgetretener Touristenpfade vorfinden sollte, sprengte die Dimensionen dessen, was ich bisher kannte. Endlose ockerfarbene Halbwüsten, über die der Wind Staubkörner jagt. Extreme Höhenunterschiede mit radikalen Klimawechseln innerhalb weniger Stunden. Megastädte, wie sie in Europa nicht existieren. Für mich kam das alles einer Verheißung gleich. Zum Leidwesen meiner Eltern hatte ich bereits in jungen Jahren eine starke Neigung entwickelt, Unbekanntes zu erforschen, Gegebenes zu hinterfragen und Lebensentwürfe zu vergleichen, indem ich durch immer neue Länder reiste. Auf diesem vom Massentourismus links liegen gelassenen und darum weitgehend unverfälschten Subkontinent, so ahnte ich, konnte sich meine Abenteuerlust zum ersten Mal satt essen.

Noch etwas Anderes zog mich in diese Region, die sich so sanft an die westliche Flanke des Atlantiks schmiegt und die so abrupt zur östlichen Seite des Pazifiks hin abfällt. So angenehm es für mich war, in stabilen Verhältnissen zu leben, so reizvoll war es, durch Länder zu reisen, in denen es grundsätzliche politische Alternativen gab. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass alle richtungsweisenden politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen in Europa vor langer Zeit getroffen worden sind. Während ein beliebiges Land in Europa in fünf Jahren vermutlich noch immer demokratisch organisiert, wirtschaftlich erfolgreich und gesellschaftlich solide sein wird, weiß niemand, ob sich in einem beliebigen südamerikanischen Land nicht im selben Zeitraum irgendeine Militärjunta an die Macht putscht, ob nicht irgendwo nahezu unermessliche Bodenschätze gefunden werden, oder ob die indígenas, die Ureinwohner, nicht irgendwo einen Aufstand gegen die weiße Oberschicht planen.

Eine Mischung aus diesen Gründen hatte dafür gesorgt, dass ich mich nun durch die Straßen der argentinischen Hauptstadt treiben ließ, ohne Stadtplan, da es nirgendwo einen gab, um Ecken biegend, die mir aus unerfindlichen Gründen interessanter erschienen als andere, umgeben von einer afrikanisch anmutenden Glut, die manchmal von Windstößen aufgewirbelt wurde und in die Gesichter der Passanten fuhr, als bestünde die Luft aus unzähligen Funken. Wer einen solchen Funkenstoß abbekam, floh alsbald in die nächstgelegene klimatisierte Bar, bestellte ein kühlendes Getränk und begann, lautstark mit den anderen Gästen zu diskutieren.

Man kann sich Buenos Aires als riesiges Jugendzentrum vorstellen: lärmend, chaotisch, heißblütig und voller Kultur. Fast alles in dieser Stadt ist darauf ausgerichtet, laut zu sein. Die Untergrundbahn subte klingt beim Einfahren in eine Station wie ein Düsenjet. Fünfzehntausend schrottreife Stadtbusse scheppern täglich durch die Straßen und ziehen schwarze Abgaswolken hinter sich her. Gestenreich schreien sich Passanten über die Straße hinweg Satzfetzen zu und aus den Läden und Cafés dröhnt bis zum Anschlag aufgedrehte Musik.



Bruna Montserrat erklärt mir ihre Stadt
Das waren die Bedingungen, als ich mich auf den Weg zum größten Einkaufszentrum der Stadt machte. In der dortigen Touristeninformation arbeitete Bruna Montserrat, eine Freundin meiner Gastgeber. Bisher hatte ich grundsätzlich einen Bogen um solche Informationseinrichtungen gemacht, weil ich dort in aller Regel an Orte geschickt wurde, an denen der Charakter eines Landes, einer Stadt, gerade nicht zum Ausdruck kam. Bruna war jedoch bei meinem Anruf ein Satz entfahren, der in meinen Gedanken widerhallte.

Voy a ayudarte a leer la ciudad, "ich werde Dir helfen, die Stadt zu lesen". Ein Satz, so leichtfüßig, so beiläufig poetisch und voll schroffer Eleganz, wie er nur im Spanischen sein kann.

"Bist Du etwa zu Fuß hierher gekommen?", begrüßte sie mich  und entblößte eine Zahnspange, die sie seltsam verjüngte. Vor kurzem war sie neunundzwanzig geworden.

"Ja, aber das war kein Problem", schmunzelte ich, "ich musste nur eine halbe Stunde lang die Calle Serrano entlanggehen bis zum Botanischen Garten und dann der Avenida del Libertador knapp anderthalb Stunden abwärts folgen, von der Hausnummer siebentausend bis zur Nummer sechshundert, um das Einkaufszentrum zu erreichen."

"Dabei hast Du nur einen winzigen Ausschnitt unserer Stadt gesehen. Buenos Aires hat viele solcher sechsspuriger Alleen, die kilometerlang an einer Armada hochgeschossener Häuser und langgezogener Parkanlagen vorbeiführen. Manche davon – wie die 9 de Julio – sind bis zu einhundertvierzig Meter breit."

Bruna verzog das Gesicht, als sei schon die Vorstellung, eine derartige Straße überqueren zu müssen, unzumutbar, geschweige denn, tatsächlich an einer solchen entlangzulaufen.
"Eure Hauptstadt ist schwer zu fassen", gab ich zu. "Sie hat kein klar definiertes Zentrum. Doch was ich bisher gesehen habe, hat mir gefallen. Manche Städte drängen einem ihre Reize auf. Mit ihren Sehenswürdigkeiten, ihren touristischen Wegweisern und ihrer Flut an Infozetteln wirken sie so künstlich emporgehoben – als hätten sie zu viel Schminke aufgelegt. Aber Buenos Aires verbiegt sich nicht, es preist sich nicht an. Es ist einfach nur da und überlässt uns die Entscheidung, wie wir es entdecken wollen."
"So habe ich das noch nicht gesehen", erwiderte Bruna, "eigentlich schimpfe ich ziemlich viel über diese Stadt."

Ich konnte förmlich hören, wie sie in Gedanken hinzufügte: "Diese Europäer! Das sind dort wohl alles Hobbyphilosophen." Daher beschloss ich, genau auf diese Weise fortzufahren.
"Ich hoffe, dass ich die Unübersichtlichkeit von Buenos Aires in den Griff bekomme, wenn ich die Stadt erst erforscht habe. Denn ich glaube, dass Buenos Aires, wie andere Weltstädte auch, in Wahrheit ein Scheinriese ist, der kleiner und harmloser wird, je besser man ihn kennt."

"Ja, Buenos Aires ist groß", seufzte Bruna daraufhin und es klang, als spräche sie von einer Krankheit. "Seit Jahren wächst unsere Stadt unkontrolliert nach allen Seiten wie ein Luftballon, den ein grausamer Clown aufbläst. Buenos Aires saugt ganz Argentinien leer: Von überall strömen Menschen hierher, als sei ein Stöpsel gezogen worden. Die meisten bleiben in den Außenbezirken hängen. An den Rändern des Molochs sammeln sich alle, für die in der Stadt kein Platz ist. Die Verlierer und die Gestrandeten. Gestolpert über eine verlorene Liebe vielleicht, von einem Ladendiebstahl zu Fall gebracht oder von den Eltern zum Arbeiten auf die Straßen geschickt."
Zwei Falten waren auf Brunas Stirn erschienen. Überhaupt verhielt sich meine Gastgeberin erstaunlich für jemanden, der einem gerade die eigene Stadt schmackhaft machen will. In diesem Augenblick beschloss ich, Bruna gern zu haben.

"Weiß Du, der Sohn meines Onkels ist so ein Fall", fuhr sie fort, "er heißt Juán und wollte seit seiner Kindheit in einer Autofirma arbeiten. Stattdessen reist er jeden Morgen mit zigtausend Anderen in die Stadt, um vor wartenden Autos an Ampeln zu jonglieren und Menschen in Anzügen die Schuhe zu putzen. Diese Stadt hat seltsame Berufe geschaffen. Den paseador de perros zum Beispiel, den "Hundespaziergänger", der manchmal ein Dutzend Hunde gleichzeitig Gassi führt. Oder den Altpapiersammler, der seinen schweren, flachen Wagen vor sich herschiebt. Im Laufe der Zeit hat sich ein schmutziger Ring aus Wellblechhütten und Adobehäusern um Buenos Aires gelegt. Wie gesagt, ich schimpfe viel über diese Stadt." Wieder zeigte mir Bruna ihre verjüngende Zahnspange. "Doch eigentlich lebe ich gerne hier. Was ist Dir auf dem Weg hierher noch aufgefallen?"
Bruna schob ihre Augenbrauen ein Stockwerk höher. Vielleicht gefiel ihr ja, was der junge Hobbyphilosoph da von sich gab.


"Ich war schon gestern, gleich nach meiner Ankunft, erstaunt, wie jung hier alles ist. Weißt Du, viele Städte in Europa sind geprägt von einer erfahrungssatten Schwere. Sie tragen so viel Geschichte mit sich, dass sie sich kaum noch bewegen können. Buenos Aires aber zuckt und windet sich im Hier und Jetzt. Es bebt, flimmert und vibriert rund um die Uhr. Die Jugend gibt ganz selbstverständlich den Ton an: Die küssenden Pärchen auf den Straßen, die heißen Blicke der Männer, die Diskos, die um drei Uhr nachts erst öffnen – das alles ist viel ausgeprägter als bei uns. Vielleicht verhält es sich mit den Charakteren ja wie mit den Polizeisirenen. Während sich die Einsatzwägen in Europa mit einem verlässlichen "tatü tata" nähern, rasen die Polizeibusse hier mit dieser typisch amerikanischen Sirene durch die Stadt, die immer gleich nach einem Großbrand klingt. Der Ton schwingt sich dabei immer höher, bis sich alle Umstehenden die Ohren zuhalten und dann zerfällt er in tausend Einzeltöne, die die Sirene stakkatoartig um sich spritzt."
Ich hielt mir die Ohren zu und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Bruna kicherte hell auf und schüttelte gleichzeitig ungläubig den Kopf, wodurch ihr die schwarzen Locken abwechselnd von links und rechts ins Gesicht fielen.

"Verstehe, dann ist unsere Stadt also etwas, das Dir die Ohren vollheult, bis Du es kaum noch erträgst und Dich anschließend mit schrillen Tönen bekleckert. Klingt nach einer ziemlichen Schreckschraube, wenn Du mich fragst! Aber ich kann schon verstehen, dass Buenos Aires beim ersten Blick auf Euch Europäer wie das pure Chaos wirkt. Du wirst zwar nirgendwo in Südamerika so viel Europäisches finden wie hier – viele unserer Nachbarn behaupten sogar, Buenos Aires habe sich mit dem Rücken zum Subkontinent gestellt und habe nur noch Augen für Europa. Aber es ist eben trotzdem eine durch und durch südamerikanische Metropole: Zweckmäßig angelegt, ohne viel touristischen Firlefanz, laut, stickig – und unglaublich aufregend."
Plötzlich war Bruna leidenschaftlich geworden. Ihr Zeigefinger fuchtelte vor meinem Gesicht durch die Luft und auf einmal wurde mir klar, wie eng sie mit dieser Stadt verbunden war. Wie sie hier geliebt und gehasst, gekämpft und sich irgendwie durchgeschlagen haben musste.

"Wahrscheinlich kann man Buenos Aires als Ganzes ohnehin nicht beschreiben", gab ich zu, "das liegt schon daran, dass es sich bei Sonnenuntergang schlafen legt und eine zweite, völlig andere Stadt erwacht. Nirgendwo sonst habe ich einen derart intensiven täglichen Stimmungswechsel miterlebt. Die Arbeiter fahren zurück in die Vororte, die Jugend strömt aus den Häusern wie anderswo auch, doch all das geschieht hier mit einer Radikalität, als hätte jemand kurzerhand die Bevölkerung ausgetauscht."
"Richtig, und dann beginnen die Kinoreklamen zu funkeln und die Animierlokale zu leuchten und irgendwo auf Deinem Heimweg wirst Du in jedem Fall angesprochen", bestätigte Bruna und auch ihr Gesicht begann zu leuchten. "Buenos Aires es diversión, hombre!, "Buenos Aires ist Vergnügen!", lachte sie. 
"Así es, carajo!, "so ist es, verdammt noch mal!", gab ich zum Besten.

Wie die Spanier pflegen auch die Argentinier Dinge, die ihnen am Herzen liegen, durch solche Anhängsel zu betonen – besonders wenn sie gerade sehr glücklich oder sehr zornig sind. Schon immer hat mir diese gefühlsbetonte Art der Konversation gefallen, weil die Sätze auf diese Weise zusammen mit dem Inhalt immer auch gleich die Stimmungslage des Gegenübers transportieren. In der Regel finde ich das außerordentlich praktisch. Zudem machte mein Spanisch hier wirklich große Fortschritte. Estoy perdido ("Ich habe mich verirrt"), und ¿dónde estamos? ("Wo sind wir hier?") gingen mir schon nach wenigen Stunden akzentfrei von den Lippen.

"Buenos Aires ist darüber hinaus die ungekrönte Tattoo-Hauptstadt.", fuhr Bruna fort und deutete mit dem Finger auf meinen Nacken. "Du hast ja bereits die richtigen Maßnahmen ergriffen, um Dich anzupassen. Überall in der Stadt wirst Du auf Delfine, Schmetterlinge und spanische Schriftzüge auf Schultern und Armen stoßen. Die Frauen tragen außerdem gerne karibische Muster im Kreuz, die Männer haben gotische Zeichen und argentinische Parolen im Nacken. Wenn Dir diese nach Abenteuern riechende Stimmung gefällt, empfehle ich Dir außerdem, nach Mendoza zu fahren."

Damit hatte Bruna zum ersten Mal ausgesprochen, was ich in den kommenden Tagen immer wieder zu hören bekommen sollte. "Dann fahr’ nach Mendoza", von Argentiniern mit verheißungsvollem Unterton ausgesprochen, von Rucksackreisenden mit einem wissenden Lächeln weitergegeben, sollte auf meiner weiteren Reise zu einer Art Mantra werden, zu einem Glaubensbekenntnis, das ständig wiederholt wurde.

Bruna war jetzt endgültig in ihrem Element. Sie fütterte mich ununterbrochen mit Informationen und fügte nach jedem dritten Satz ihr hombre! ein. Ihr Minenspiel war fantastisch: Ihre Augenbrauen hüpften vor meinem Gesicht auf und ab wie zwei Trampolinspringer, ihre Stirn kräuselte sich von Zeit zu Zeit wie die Oberfläche eines Sees, ihre Augen blitzten immer häufiger durch den Vorhang aus Locken hindurch und manchmal war ihr Gesicht ein einziges Ausrufezeichen. Gerne hätte ich die Ausdrucksstärke dieses Energiebündels länger genossen, doch Bruna musste zum Zug; sie fuhr heute für zwei Wochen in Urlaub. Als ich mich zum Abschied bei ihr bedanken wollte, legte sie ihren Finger auf die Lippen und schüttelte energisch den Kopf.

"Weißt Du, für uns liegt es auf der Hand, dass wir unseren Gästen helfen, sich bei uns zurechtzufinden", betonte sie, während sie sich eine angsteinflößend große Reisetasche über die Schulter warf. "Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir nicht an den Massentourismus gewöhnt sind wie ihr in Europa. Noch nicht!"

Zum letzten Mal schenkte mir Bruna ihre hochgezogenen Augenbrauen. Im nächsten Moment war sie hinter der nächsten Ecke verschwunden.
Ihr "noch nicht!" hallte eine Weile in meinen Ohren nach. Noch war Buenos Aires ein Geheimtipp, doch bereits jetzt wurden die Flüge hierher immer günstiger, lockten Tango, Lebenskunst und die kulturelle Vielfalt immer mehr Gäste in die Stadt.Wie wird die Avenida del Libertador wohl in zwanzig Jahren aussehen? Werden amerikanische Imbissketten und italienische Pizzalieferanten das Stadtbild übernommen haben und Touristen zehnmal höhere Preise für ein Eis bezahlen als heute – immer auf der Suche nach einer Authentizität, die sich dann ängstlich zurückgezogen haben wird? 


Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de


Teil II: Vom Fluss verschluckt

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_3] Bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
 
Im Rahmen eines Auslandssemesters innerhalb des Biologiestudiums arbeitete Lennart Pyritz für vier Monate auf der biologischen Station "Los Volcanes" in den bolivianischen Ostanden an einem ornithologischen Projekt. Währenddessen unternahm er mit bolivianischen Freunden auch einige kurze Fahrten durch die Anden.

Teil II: Mit Jesus auf dem Berg und Larven im Fuß
Nach ungefähr einer Woche des Reisens ein kleiner Rückblick: Ich schreibe gerade aus Cochabamba, der viertgrößten Stadt Boliviens, wunderschön gelegen in einem breiten Andental auf 2600 Meter Höhe, doch dazu später mehr.

In Santa Cruz habe ich in der vergangenen Woche zunächst ein paar Spanischstunden genommen, auf einen Aushang an einem Blumenladen im Zentrum hin. Marlén, die Tochter des Blumenhändlers, war auf der Deutschen Schule in Santa Cruz und später zweimal für einige Monate in Deutschland; in Münster und Krefeld. Jetzt studiert sie Kommunikationswissenschaften in Santa Cruz und gibt nebenher Sprachunterricht.

Das Ganze findet im Innenhof des Wohnhauses statt und verläuft gemütlich und familiär: Oft gibt es zum Einstieg irgendwelche exotischen Früchte zum Probieren, und ein sehr niedlicher Hund namens "Shakira" wedelt im Haus umher.

Nach der ersten Spanischstunde will ich ein paar Unterlagen kopieren. Beim Kopierladen meiner Wahl - einer von Hunderten hier, Bolivianer lieben Kopierläden - ist allerdings die Markise kaputt und hängt tief über der Straße. Ich helfe, das Ding wieder hochzukurbeln, wofür mir die runde Kopierladenmama die ganzen Zettel kostenlos kopiert. Ein guter Anfang.

Mittlerweile wohne ich mit Sebastian und einigen anderen deutschen und bolivianischen Biologen in einer Haus-WG in einem Außenbezirk von Santa Cruz. Weitere Untermieter sind drei große Schildkröten. Am Dienstagabend waren ein paar Gäste zu Besuch und es gab selbstgemachten Pisco Sour, Salat mit Avocado und bolivianisches Bier. Später am Abend wurde im geräumigen Wohnzimmer auch Salsa getanzt. Ansonsten habe ich in den vergangenen Tagen Caroli beim Präparieren der in Los Volcanes gefangenen Insekten geholfen. Allerdings sind wir immer noch bei der ersten taxonomischen Gruppe, den Käfern, von denen wir bereits über 1000 Stück präpariert und in den Trockenschrank verfrachtet haben.

Beim Thema Insekten fällt mir ein: Ich habe seit dem letzten Feldaufenthalt "boro", d.h. eine Fliegenlarve, die in meinem Fuß frisst und lebt. Der Übertragungsweg ist einigermaßen kompliziert. Eine Dasselfliege fängt sich eine Mücke und befestigt ein Ei an ihr.

Sticht die Mücke dann ein Opfer, bleibt das Ei an dessen Haut haften, und die Larve schlüpft - ausgelöst durch die Hautwärme - und bohrt sich in den Wirt.

Ich habe so einen Stich im rechten Fuß, neben dem Knöchel. Anfangs dachte ich, es sei ein aufgekratzter Mückenstich, aber in der Nacht von Donnerstag auf Freitag bin ich von den Schmerzen zweimal aufgewacht: Wenn die Larve frisst, fühlt es sich an, als stecke eine Nadel innen im Fuß. Caroli hat mich verarztet, d.h. die Larve mit Nikotin abgetötet und dann versucht, sie durch Drücken und mit Hilfe einer Pinzette heraus zu holen. Leider hat das nicht geklappt, und so vertraue ich nun darauf, dass mein Körper das Insekt selbstständig abbaut.

Am Freitagabend bin ich schließlich mit Victor per Nachtbus nach Cochabamba gefahren, wo er wohnt und studiert hat: Elf Stunden Gegondel in einem "Coche Semi Cama" oder besser "Semi Coma"  durch die Nacht in einem überfüllten Bus mit einem Coca-kauenden Fahrer. Am ersten Tag in Cochabamba hatte ich etwas Probleme mit der Höhe, Schwindel und Übelkeit, obwohl die Stadt auf noch nicht einmal 3000 Meter Höhe liegt. Vielleicht war auch die kurvige Busfahrt schuld, während der wir fast nichts getrunken und gegessen haben.

Cochabamba ist wesentlich kleiner als Santa Cruz, ruhiger, im Zentrum auch etwas dreckiger.

Insgesamt aber eine hübsche Stadt. Am zweiten Tag bin ich mit Victor bei strahlend blauem Himmel auf einen kleinen Berg neben der Stadt gewandert, auf dem eine über 33 Meter hohe Christusfigur aus weißem Stein steht: der "Cristo de la Concordia".

Er ist sogar ein paar Meter höher als der in Rio de Janeiro, wie mir Victor - nicht ohne stolzen Unterton - unterbreitet. Von hier hat man einen wunderbaren Blick auf die Stadt im Tal, die Laguna Alalay, einen kleinen See im Süden Cochabambas und den Cerro Tunari, mit gut 5000 Meter der höchste Berg in der Umgebung.

Bald geht es wieder zurück ins Tiefland nach Santa Cruz für die nächste Feldzeit. Bis dahin alles Gute, L.

Text + Fotos: Lennart Pyritz

Teil I: Auf in die Anden

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Peru: Kakao statt Kokain
 
Für Bauern im tropischen Tiefland Perus ist es das einfachste und lukrativste, Coca zu pflanzen. Doch der Anbau der Coca, aus der Kokain gewonnen wird, ist gefährlich. Der Faire Handel gibt den Bauern eine Alternative: Kakao, der fair bezahlt wird, so dass die Bauern davon gut leben können.

Das Feld von Benancia Nasario Murga liegt direkt am Fuße eines felsigen Berges, der von tropischen Pflanzen überwuchert wird. Das hier ist ideales Cocaanbaugebiet. Doch das Benancia Nasario Murga hier Coca angepflanzt hat, das ist schon einige Jahre her. "Immer wieder kam die Armee und riss sämtliche Cocapflanzen aus. Sie ließen uns einfach mit den zerstörten Feldern zurück. Früher kamen sie sogar mit Helikoptern und sprühten Gift. Davon gingen dann auch alle anderen Pflanzen ein, unser Kaffee, unser Kakao, unsere Bananen und Papayas. Einfach alles." Die 59-jährige schaudert heute noch, wenn sie daran denkt, wie ihre Familie damals Hunger litt. "Coca anzubauen ist einfach. Die Blätter können alle zwei Monate geerntet werden und die Pflanze braucht kaum Pflege. Und Coca wird gut bezahlt. Mit einem Hektar Coca kann man soviel verdienen, wie mit drei Hektar Kakao. Die Arbeit war einfacher, aber auch gefährlicher – wir hatten ja mit der Drogenmafia zu tun. Und dann immer diese Angst vor der Polizei."

Die grünen Blätter des Cocastrauches liefern den Grundstoff, der zur Herstellung von Kokain benötigt wird. Mit Hilfe von Diesel und einer Reihe Chemikalien wird der Wirkstoff herausgelöst und zu Kokain verarbeitet. In Peru kostet ein Kilo reines Kokain 800 US-Dollar – in Europa ist es auf dem Schwarzmarkt mindestens 80.000 Euro wert. Von dem riesigen Gewinn bleibt bei den Bauern nur sehr wenig hängen. Aber der Anbau lohnt sich trotzdem – für Cocablätter bekommen sie wesentlich mehr als sie mit jeder anderen tropischen Feldfrucht verdienen könnten.

Doch vor vier Jahren hatte Benancia genug davon, in ständiger Angst zu leben. Sie gab die Coca auf und schloss sich der Kakaokooperative Naranjillo an, die ihren Kakao an die Gepa verkauft. Magno Cántaro Diego ist der Präsident der Kooperative. Er ist selber Kakaobauer und hat erlebt, wie innerhalb von 40 Jahren aus einer kleinen Bauerngemeinschaft die größte und erfolgreichste Kooperative des ganzen Landes wurde. "Das Geld aus dem Fairen Handel investieren wir, indem wir Agraringenieure beschäftigen, die unseren Mitgliedern zeigen, wie ihr Kakao noch besser wird. So macht uns der Handel mit der Gepa zu einem starken Unternehmen, das auf dem Markt bestehen kann." Die Kooperative umfasst um die 5000 Mitglieder, hinter denen jeweils eine fünf- bis sechsköpfige Familie steht. All diese Menschen profitieren direkt vom Fairen Handel. Die Kooperative kann beispielsweise Dank der Zusammenarbeit mit der Gepa einen Arzt bezahlen, der sich um ihre Mitglieder kümmert, wenn sie krank sind, und die Kosten für Medikamente übernehmen. Andere Bauern wissen im Notfall nicht, woher sie das Geld für solche unvorhergesehenen Ausgaben nehmen sollten.

Die Stimmung in der Stadt Tingo Maria ist angespannt. Schon zum vierten Mal in diesem Jahr haben Cocabauern aus der Umgebung die strategisch wichtige Brücke und alle Zufahrtstraßen in die Stadt blockiert. Wütend rufen sie Parolen in Richtung des Militärs, das mit 500 mit Schnellfeuergewehren bewaffneten Soldaten eingeflogen ist, um den Aufruhr unter Kontrolle zu halten. Die Bauern protestieren mal wieder gegen die Zerstörung ihrer Felder. Regelmäßig werden die Cocapflanzungen von Polizei und Militär vernichtet. Die USA, der wichtigste Geldgeber des Landes, verlangen diesen Kampf gegen das Kokain als Gegenleistung für die Entwicklungshilfe. Kürzlich gab es in der Gegend um Tingo dabei sogar einen Toten – ein Bauer, der versucht hatte, seine Felder zu schützen. Obwohl der Cocaanbau gefährlich ist, wollen ihn die meisten Bauern nicht aufgeben, denn mit Orangen, Kaffee oder Kakao verdienen sie einfach nicht das, was sie zum Leben brauchen – zumindest dann nicht, wenn sie diese Produkte an den konventionellen Handel verkaufen.

Benancia hingegen verdient dank des Fairen Handels auch mit dem Anbau von Kakao genug. "Über die Kooperative bekomme ich 25 Prozent mehr für meine Ernte als ich dafür von den kommerziellen Zwischenhändlern bekäme", hat sie ausgerechnet. "Außerdem habe ich die Sicherheit, dass mir meine Ernte zu einem festen Preis abgenommen wird. Dadurch kann ich voraus planen." Von dem, was sie verdient, kann sie ihre fünfköpfige Familie ernähren und die Kinder zur Schule schicken. Trotzdem ist das Leben der Familie hart. Ihr Schwiegersohn muss drei Mal täglich zum Fluss laufen um Wasser zu holen, und die 80 Liter-Kanister jedes Mal eine halbe Stunde lang den Berg hinauf schleppen. Ihre Küche ist eine wackelige Bretterbude, in der Benancia am offenen Herdfeuer kocht. Und die Hängematten, in denen die Familie während der heißen Mittagsstunde ihre Siesta hält, sind verschlissen. Außerdem machen ihre drei Hektar Kakao viel Arbeit, zumal Benancia Biokakao anbaut und auf jeglichen Dünger oder Pestizide verzichtet. "Wenn wir nicht gerade ernten oder die Pflanzen beschneiden, müssen wir Unkraut jäten oder Kompost ansetzen und den dann auf dem Feld verteilen."

Sicher, mit der schnell wachsenden, anspruchslosen Coca, die überdies immer noch mehr einbringt als fairer Kakao wäre ihr Leben einfacher. Trotzdem ist Benancia heilfroh, dass sie mit dem Aufstand der Cocabauern und allem, was damit zusammen hängt, nichts mehr zu tun hat. Sie muss nicht fürchten, dass das Militär bei ihr aufkreuzt und alles kurz und klein schlägt. Und sie muss keine Angst vor der nächsten Begegnung mit der Drogenmafia haben. Stattdessen lebt sie in Sicherheit und kann sich und ihrer Familie eine bessere Zukunft aufbauen. "Letztes Jahr habe ich etwas Land dazu gekauft. Dieses Jahr werde ich mit der Prämie ein zweites Stockwerk auf unser Häuschen setzen, damit nicht mehr die ganze Familie in einem Raum schlafen muss. Und im nächsten Jahr will ich eine Trockenanlage für die Kakaobohnen bauen, damit die Ernte nicht verdirbt, wenn es zu feucht ist", zählt Benancia auf. Und trotz all dieser großen Anschaffungen bleibt immer auch ein wenig Geld für einen ganz persönlichen kleinen Luxus übrige: Paneton, der Weihnachtskuchen, den die Kinder so besonders gerne essen.

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den Ihr voraussichtlich ab dem 01.12.2009 im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
288 Farbseiten
4. überarbeitete und komplett aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-89662-336-2
Verlag: Reise Know-How

Text: Katharina Nickoleit

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[kol_1] Helden Brasilien: Abgesagtes Gigantentreffen
Kaiser und Phänomen trafen sich nun doch nicht
 
Bis zuletzt hatten die Fans gehofft. Aber der sonntäglichen Fußballparty zwischen Corinthians São Paulo und Flamengo Rio de Janeiro blieb "Kaiser" Adriano dann doch fern. Kumpel Ronaldo, "das Phänomen", bemühte sich zumindest 25 Minuten lang bevor er humpelnd den Rasen verlassen musste.

Die Rückkehr der beiden nach Brasilien hatte den Fans ein tolles 2009 beschert. Und kaum einer hatte nach Ronaldos schwerer Knieverletzung Anfang 2008 damit gerechnet. Vom AC Mailand war er damals ins heimische Rio de Janeiro geflohen, wo er sich beim erklärten Herzensklubs Flamengo behandeln ließ. Dabei hielt ihn das lädierte Knie weder von wilden Partynächten noch von nächtlichen Motelbesuchen in Begleitung dreier Transvestiten ab.



Auch Partybruder Adriano ging es nach dem WM-Desaster 2006 und dem Tod des Vaters nicht besser. Gebeutelt von Alkoholexzessen und Depressionen kündigte er im April 2009 seinen Rücktritt vom Fußball an. Drei Wochen später lief der Imperador jedoch für Flamengo wieder auf. 

Zu diesem Zeitpunkt zauberte Ronaldo bereits wieder. Überraschend hatte er zuvor Flamengo verlassen und beim Erzrivalen Corinthians São Paulo unterschrieben. Während man in Rio Verrat schrie, flossen bei Corinthians dank Ronaldo die Werbemillionen. 

Auch sportlich entwickelte sich Ronaldos Rückkehr im März zu einem Erfolg. Zwar trabte der übergewichtige Stürmer meist gemächlich über den Platz, bekam er den Ball jedoch erst einmal vor die Füße, hämmerte er ihn regelmäßig in die Maschen. Dank Ronaldo konnte Corinthians sowohl die Landesmeisterschaft São Paulos als auch den brasilianischen Pokal für sich entscheiden. 

Doch danach ging Ronaldo die Puste aus. Selbst ein ärztlicher Eingriff zur Entfernung des Bauchspecks half nicht. Immer seltener traf er, während Corinthians im Tabellenmittelmaß versank. Dafür leuchtete Adrianos Stern umso heller. Immer besser kamen er und Flamengo in Tritt und Adrianos 19 Tore bislang können ihm neben der bereits erfolgten Rückkehr in die Nationalelf auch zu Brasiliens Torschützenkrone verhelfen. Und so fieberten alle dem Gipfeltreffen mit Ronaldo entgegen. 



Doch daraus wurde nichts. Ende letzter Woche erschien Adriano mit einer Brandverletzung am linken Fuß beim Training. Gerüchte sprachen von einem Motorradausflug in Badelatschen, bei dem er sich am Auspuff verbrannt haben soll. Andere munkelten über einen Grillunfall. Offiziell hat er sich die Wunde an einer Gartenlampe zugezogen, so sein Verein. 

Doch auch ohne Adriano siegte Flamengo locker 2:0 gegen Corinthians und kann am Sonntag zum sechsten Mal Meister werden. Ronaldo, der gegen Flamengo mehr über seine eigenen Beine stolperte als über den Gegner und daraufhin verletzt vom Platz musste, dürfte sich derweil mit den reichlich fließenden Millionen über die verkorkste Saison hinweg trösten.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Pancho: Tropische Weihnachtssuppe
 
Wir sind auf der Suche nach einer Vorspeise fürs Weihnachtsmenü, die zum einen im kalten deutschen Winter erwärmen soll und gehaltvoll, aber nicht zu schwer sein darf, vitaminreich und außergewöhnlich? Alle diese Eigenschaften erfüllt unser cremiges Süppchen und ist zudem noch von heiterer, lebensbejahender Farbe: mit optimistisch leuchtendem Orangerot erhellt sie so manch trüben Wintertag und jedem, der diese überraschende Köstlichkeit in sich hinein löffelt, wird es warm ums Herz und im Magen. Außerdem ist es eine willkommene Alternative zur obligatorischen Kürbissuppe - dabei sieht sie ihr farblich sehr ähnlich!

Holen wir uns also die Tropen in unsere deutsche Weihnachtsküche und fabrizieren zur Überraschung unserer Gäste eine Papaya- (Fisch-) suppe.



Zutaten:
Ein paar Eßlöffel Olivenöl (oder Sonnenblumenöl), 1 mittelgroße Zwiebel, 1 oder 2 Knoblauchzehen, evtl. 1 rote Paprika, 1 Riesenpapaya oder 3  - 4 normale Papayas (reif!), 1 Glas fruchtiger Weißwein, 1 Becher Sahne, Gewürze: Salz, Pfeffer, Paprikagewürz, Chili (als Pulver oder noch besser richtige rote Chilischoten winzig klein geschnibbelt), Kardamonpulver oder Ingwer (letzteres mag ich persönlich nicht), Basilikum, evtl. noch Majoran oder Dill. Zusätzlich bei Bedarf für die Luxusvariante einer Papayafischsuppe noch Filetstücke von weißem Fisch (z.B. Kabeljau)

So wird sie gemacht:
Zuallererst ist wichtig, dass die Papayas reif sind, die Schale sollte also nicht mehr grün sein und sie sollten sich weich anfühlen; mit steinharten Exemplaren ist diese Suppe nicht zu machen. Wir beginnen - wie eigentlich immer - damit, Zwiebel und Knoblauch im Olivenöl zu dünsten, geben alsbald einen Schuss Weißwein hinzu, damit sie nicht braun werden. Die Papayas schälen, entkernen und würfeln wir und schneiden die Paprika ebenfalls in kleine Stücke.

Bei mittlerer Hitze braten wir sie unter Umrühren an, geben einen Schuss Wasser und den Wein (1 Glas, es dürfen auch 2 sein) dazu und lassen das Ganze dann bei niedriger Hitze (es darf auf keinen Fall etwas anbrennen!) langsam weiter köcheln (je nach Gesamtmenge dauert es ca. 20 - 35 Minuten).

Nach und nach fügen wir alle Gewürze und Kräuter hinzu. Zum Schluß, wenn die Papayastücke sich schon halbwegs in Brei aufgelöst haben, am besten alles gründlich mit dem Pürierstab bearbeiten, damit die Suppe schön cremig und gleichmäßig wird. Anschließend noch die Sahne unterrühren.

Für die Luxusvariante die Fischfilets mit den üblichen Gewürzen (Salz, Pfeffer, Knoblauch, Dill usw.) langsam braten, dann etwas abkühlen lassen. Wenn sie gar sind und auseinander fallen, gründlich auf mögliche Gräten untersuchen (am besten in einem groben Sieb). Sobald garantiert grätenfrei, die Fischstücke ohne schlechtes Gewissen richtig zermatschen und in die Suppe rühren und pürieren. Auch bei dieser Variante kommt die Sahne erst ganz zum Schluss NACH dem Pürieren hinzu. FERTIG!



Übrigens passt Papaya in jeder Form gut zu Fisch, auch als kalter Salat oder warme Beigabe zusammen mit Backofen-Fisch. Frohes Fest!

Text + Fotos: Berthold Volberg





[kol_3] Erlesen: Erneuerbare Energien in Lateinamerika am Beispiel Costa Ricas
Buchauszug

Dem Licht der Sonne folgend, verließen wir die Alte Welt. (Kolumbus, Christoph 1492).

Sicherlich hat der bekannteste aller Seefahrer nicht damit gerechnet, dass mehr als 500 Jahre nach seiner Entdeckung Costa Ricas auf seiner vierten Reise nach Amerika seine Worte den heutigen Zeitgeist auf den Punkt treffen. Die Sonne gilt neben Wasser als der Ursprung allen Lebens und als die wichtigste Energiequelle für die Zukunft.

Erneuerbare Energien in Lateinamerika. Die nachhaltige Internationalisierung von Unternehmen. Das Beispiel Costa Rica
Claus-Bernhardt Johst (Autor)
IGEL Verlag, Hamburg 2009
ISBN: 978-3868152623, 44,90 €

Zu beziehen im Buchhandel, beim
www.igelverlag.com oder amazon.de.

Erneuerbare Energien in Lateinamerika. Die nachhaltige Internationalisierung von Unternehmen. Das Beispiel Costa Rica bietet einen gut strukturierten Überblick über die Investitionsmöglichkeiten im erneuerbaren Energiesektor in Mittelamerika, speziell in Costa Rica.
Durch seine Reisen durch und längere Studien- und Arbeitsaufenthalte in  Mittelamerika, Kolumbien sowie Venezuela hat der Autor sehr gute Einblicke in die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Auslandsinvestitionen im erneuerbaren Energiesektor erhalten. Die notwendigen Kenntnisse vor Ort werden in einer gesunden Mischung aus lokalen und internationalen Interviews ergänzt und interpretiert. Nicht nur für Wirtschaftswissenschaftler interessant, sondern auch für (energie-) politisch Interessierte, die wissen wollen, wie das kleine Land Costa Rica auch mal unkonventionelle Wege geht und dabei zum Vorbild für einen ganzen Kontinent wird.

Die Europäer und allen voran die Deutschen als Technologieführer haben sich im Zuge des Kyoto-Protokolls hehre Ziele für den Klimaschutz gesetzt und nehmen eine wichtige Stellung im weltweiten Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) ein, wie z.B. beim Bau von Windparks, Biomasse und Solarkraftwerken. Neben der Reduzierung von wirtschaftlichen sowie politischen Abhängigkeiten gegenüber rohstoffreichen Ländern und der Garantie einer sicheren und sauberen Energieversorgung sind insbesondere ökonomische Ziele auch für die Unternehmen der EE von Bedeutung.

Der globale Wettbewerb und die rasch steigende Wichtigkeit der EE für den Energiesektor bringen die Unternehmen dazu, über den Tellerrand zu schauen und weitere Märkte in den Fokus ihrer unternehmerischen Aktivitäten zu rücken. Die EU, die "alte Welt", ist für viele EE-Unternehmen die wichtigste Region für den Absatz ihrer Produkte. Es entstehen jedoch neue Märkte wie z.B. in China, Indien und den USA.

Aber welchen Stellenwert haben bei all den europäischen Bestrebungen im Ausland die Länder Lateinamerikas? Dieser Subkontinent ist reich an natürlichen Ressourcen, hoher Sonneneinstrahlung und birgt in vielerlei Hinsicht Geschäftspotentiale für EE-Unternehmen. Doch viele belächeln die Versuche einzelner Länder, ökologische Ziele zu erreichen und den Ausbau der EE voranzutreiben. Dabei gelten insbesondere die Bemühungen in Costa Rica als richtungweisend in der Region.


Foto: Windkraftpark in Costa Rica

Das Wort Nachhaltigkeit ist omnipräsent und es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht im Fernsehen, in den Zeitungen oder auf Hauptversammlungen der Unternehmen über nachhaltiges Wirtschaften, nachhaltigen Tourismus, nachhaltige Viehzucht etc. berichtet wird. Der Begriff Nachhaltigkeit hat nicht nur in den Firmenzentralen auf Vorstandsebene, sondern auch in den heimischen Wohnzimmern Einzug gehalten. Jeder kennt sie und findet sie gut, aber kaum jemand weiß exakt, was sie bedeutet.

Der Ursprung der Nachhaltigkeit kommt aus der Forstwirtschaft und geht auf den deutschen Adligen Hannß Carl von Carlowitz zurück, der einem ökologischen Ansatz folgte und schon im 17. Jahrhundert die nachhaltige Forstwirtschaft betrieb sowie den Erhalt des Grund und Bodens für die nachfolgenden Generation. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts greift der amerikanische Wissenschaftler Dennis L. Meadows das Thema auf und schreibt an den Think Tank Club of Rome seinen Bericht "Die Grenzen des Wachstums". In ihrer Studie beschreiben Meadows et al. die aufkommenden Umweltprobleme und die Endlichkeit der Rohstoffe. Sie verbinden den ökologischen mit einem sozialen Ansatz und analysieren die nicht nachhaltige Nutzung von Naturkapital sowie die sozialen Folgen für die Menschen (vgl. Meadows et al. 1987).

Den Durchbruch im populären Sprachgebrauch schafft der Begriff Nachhaltigkeit durch den Report "Our Common Futur" der Brundtland Kommission Ende der 80er Jahre. Der norwegische Ministerpräsident Gro Harlem Brundlandt prägt die Begriffe Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung, die besagt, "development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs." (vgl. Boyle et al. 2003, 6).

Spätestens seit dem UN-Weltklimagipfel 1992 in Rio de Janeiro ist der Ansatz fest im Klima- und Artenschutz verankert und erhält weltweite Aufmerksamkeit, wobei die Menschen bzw. der soziale Aspekt in der Definition sehr stark ins Zentrum gerückt werden (vgl. Boyle et al. 2003, 6f.). 

"Wo wären wir heute, wenn man Kolumbus gesagt hätte: Christoph, bleiben Sie hier. Warten Sie mit Ihrer Entdeckungsreise bis unsere wichtigsten Probleme gelöst sind: Krieg und Hungersnot, Armut und Kriminalität, Umweltverschmutzung und Krankheiten, Analphabetismus und Rassenhass… (Gates, Bill (o.J.)).

Es ist eine Kann-Entscheidung, in Costa Rica ein Auslandsengagement zu betreiben. Aber Lateinamerika gewinnt sicherlich durch seinen Ressourcenreichtum in den nächsten Jahren immer mehr an Bedeutung. Die Deutschen, Exportweltmeister und Technologieführer, sowie andere ausländische Unternehmen der EE sind gefordert, die ökonomischen Chancen zu nutzen.



Foto: Solarthermie in Costa Rica

Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem politischen Umschwung in den USA, der einerseits auf weitere Marktchancen in der Region hoffen lässt, andererseits neue Konkurrenten mobilisiert. Wie schon oft in der Vergangenheit geschehen, laufen speziell die Deutschen Gefahr, ihren Technologie- und Know-how-Vorsprung zu verlieren.

Wie Bill Gates treffend formulierte, ist Pioniergeist gefragt und unbedingter Wille erforderlich, wenn ein Unternehmen der EE in Costa Rica unternehmerisch aktiv wird. Die Marktattraktivität und die unternehmensindividuell eingeschätzten Risiken und Barrieren beeinflussen die Entscheidung in hohem Maße und können für Unternehmen derselben Branche interessant oder uninteressant sein.

Das Land eignet sich hervorragend, um als Präsenzmarkt in der Region Fuß zu fassen und speziell für kleine und mittlere Unternehmen der EE erste Gehversuche im lateinamerikanischen Raum zu wagen. Das "Labor" Costa Rica bietet die Möglichkeiten unter Berücksichtigung der sechs Nachhaltigkeitsaspekte, einen Versuch zu starten und in Zusammenarbeit mit den lokalen Einrichtungen den Ausbau EE voranzutreiben. – Die drei Nachhaltigkeitsaspekte (ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit) werden um weitere drei (politische, technologische und rechtliche) ergänzt, da gerade im EE-Bereich der politische Entscheidungswille auf die Gesetzgebung und einen angestrebten Technologietransfer von Industrie- in Entwicklungs- und Schwellenländern maßgebend beeinflussen. – Die persönliche Bearbeitung des Marktes unter Zuhilfenahme von Spezialisten, die sich in der Region auskennen, ist dabei von Bedeutung, um eine korrekte unternehmensindividuelle Portfolioanalyse zu erstellen.

Text + Fotos: Claus-Bernhardt Johst

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_4] Lauschrausch: Macht ist immer korrupt!
Im Interview mit Desorden Público

Die venezolanische Band Desorden Público gehört zum Urgestein der lateinamerikanischen Ska-Bands. Torsten Eßer hat sie anläßlich ihrer letzten Tour im MTC in Köln getroffen und mit ihnen über Musik und Politik in Venezuela gesprochen.

Ihr spielt seit 1985 zusammen. Wie erklärst Du Dir, dass ihr im Gegensatz zu anderen Bands aus jener Zeit wie Sentimiento Muerto oder Zapato3 noch aktiv seid?

Horacio Blanco (Sänger): Wir sind halt gute Freunde und wußten immer, wie wir unsere Egos dosieren mußten, auch gerade in guten Momenten, denn dann ist es manchmal besonders schwer. Wir können uns auch gar nicht vorstellen, die Band aufzulösen. Sie ist Teil unseres Lebens.

Warum habt Ihr Euch für Ska entschieden?
Schon in der ersten Show, am 27. Juli 1985, gab es zwischen den Punkstücken einen Ska-Titel. Ein Jahr später sind wir dann ganz auf Ska umgeschwenkt. Das wollten wir machen und durch den Einfluß des Two-Tone-Labels aus London haben wir dann auch unser Aussehen, die Anzüge etc., an den Ska angepasst.

Welche Bedeutung hat für Euch die traditionelle venezolanische Musik?
Wir benutzen keine traditionelle Musik, aber was wir viel nutzen, ist populäre venezolanische Musik. Wir kommen aus Caracas, der chaotischsten und lautesten Stadt der Karibik und sind somit von urbaner Musik beeinflusst: d.h. Salsa, Boogaloo, Merengue, Cumbia usw. Und weil man mit diesen seit der Kindheit beschallt wird, sind sie auch Teil unserer Musik.

Ihr benutzt nie traditionelle Instrumente?
Nur sehr punktuell, sie sind kein Bestandteil unseres Sounds.

Wird ein Stück wie
"Politicos paralíticos" heute im venezolanischen Rundfunk gespielt?
Ja, das geht schon, aber nur in alternativen Radiostationen. Die staatlichen Sender spielen so etwas nicht in ihrer Rotation.

Ich kam auf die Frage, weil Hugo Chávez gerade 34 Radio- und Fernsehstationen hat schließen lassen und weitere folgen könnten. Und da dachte ich mir, dass Desorden Público für ihn sicher zu kritisch sind...
Ja, das könnte sein. Wir waren immer eine sehr kritische Band, all die Jahre. Ein wichtiger Teil des rebellischen und jugendhaften Wesens, das sich die Band über die Jahre bewahrt hat, ist es, die Macht zu kritisieren. Die Macht mißbraucht immer und sie ist immer korrupt und in Ländern wie Venezuela ist die Korruption ein schwerwiegendes Problem. Und diese Regierung bildet da keine Ausnahme.

Chávez ist also nicht die Zukunft?
Nein!

Hat politische Musik in Venezuela heute noch eine Bedeutung, etwa wie zu Zeiten der Liedermacher um Ali Primera?
Der Kontext ist anders. Zu ihrer Zeit hatten die Liedermacher ihre Berechtigung. Ali Primera und andere glaubten an die kubanische Revolution, an eine sozialistische Revolution in ganz Lateinamerika. Die meisten Künstler und Intellektuellen wohl auch. Dieser sozialistische Traum hat sich nicht erfüllt, aber sich in andere Sachen verwandelt. Heute ist es immer noch wichtig für bestimmte Dinge zu singen. Wir singen nicht mehr für eine Revolution, denn letztendlich zeigt die Geschichte, dass große Macht am Ende immer korrumpiert. Wir singen dafür, dass die Macht alltäglicher wird, sich an die Menschen annähert, dass es mehr Raum für die Kunst und Respekt für Minderheiten gibt. Das sind Gründe für uns Liedtexte zu schreiben.

Und die venezolanische Jugend teilt solche Ideen?
Ein Teil auf jeden Fall. Und momentan existiert ein Phänomen: egal, was man von diesem Präsidenten hält, auf jeden Fall hat sich die ganze Gesellschaft erheblich politisiert und mit ihr auch die Jugend. In den 90ern war die Jugend an Politik total desinteressiert, heute hingegen spricht jeder über Politik, jeder vertritt eine Position. Und egal, ob sie diesem Präsidenten folgen oder jemand anderem, das verdient Respekt.

Kommendes Jahr feiern Venezuela und andere Länder das 200. Jubiläum ihrer Befreiung. Sind die Ideen von Bolívar noch aktuell?
Natürlich, er war ein großer Denker, das ist unbestritten. Seine Ideen bleiben lebendig. Sowohl Regierung als auch Opposition in Venezuela, in Bolivien, in Kolumbien etc. nutzen seine Ideen. Chávez beispielsweise folgt Bolívars Ideen sehr strikt. Doch wie immer bei großen Ideen, adaptiert sie jeder auf seine Art.

Text + Foto: Torsten Eßer
Cover: amazon

Desorden Público
Estrellas de Caos
Leech Reco (Cargo Records)

[druckversion ed 12/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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