suche



 


[kol_2] Helden Brasiliens: Marquinhos Samba-Bahn
Rettungsversuche der anderen Art

Oswaldo Cruz teilt das Schicksal der meisten Stadtviertel der Peripherie der "cidade maravilhosa", der wundervollen Stadt, wie sich Rio de Janeiro gerne selber nennt. Weit weg von den Postkartenmotiven der Zona Sul, des wohlhabenden und mehrheitlich weißen Rio de Janeiros, der Traumstrände von Ipanema, Leblon und Copacabana mit seinen teuren Hotels und den immerwährenden Touristenströmen. In Oswaldo Cruz herrscht hohe Arbeitslosigkeit und tagtägliche Gewalt – halt das Übliche für einen Stadtteil im vergessenen Teil von Rio.

marquinhos de oswaldo cruz

Wenig erinnert heute noch an den prägenden Beitrag, den das Viertel einst zur brasilianischen Kultur beisteuerte. "Einige der größten und wichtigsten Sambakomponisten wurden hier geboren, und das Viertel war einst das Zentrum der Karnevalsschulen der Stadt", erzählt Marcos Sampaio de Alcântara, ein hier aufgewachsener Sambamusiker, den man in Rio nur unter seinem Künstlernamen Marquinhos de Oswaldo Cruz kennt: der kleine Marcos aus Oswaldo Cruz.

Seit Anfang der Neunziger Jahre bemüht sich Marquinhos, seinem Heimatviertel Selbstbewusstsein und Hoffnung zurück zu geben. Damals fuhr er mit einem Kleinbus durch die Straßen und verteilte zu übersteuerten Sambaklängen Flugblätter. "Wach auf, Oswaldo Cruz" forderte er darauf seine lethargischen Mitbewohner auf.

"Hätte man am Bahnhof das Ortsschild abmontiert, wäre Oswaldo Cruz vollkommen vergessen worden." Marquinhos hat Erfahrung im Wachrütteln vergessener Viertel.

Vor einigen Jahren nahm er sich dem heruntergekommenen Stadtteil Lapa an, bekannt durch die hohen weißgetünchten Bögen des Viaduktes, über den sich Rios letzte Straßenbahn Richtung Santa Teresa schleppt. Gemeinsam mit anderen Musikern begann Marquinhos 1996 regelmäßige Musikevents in Lapa zu organisieren. Heute ist die Region das boomende Ausgehviertel der Stadt.

Und mittlerweile hat Marquinhos auch neue Mittel und Wege gefunden, Oswaldo Cruz zurück auf den Stadtplan von Rio zu bringen. Am 2. Dezember, dem "Nationalen Tag des Samba", organisiert er zum zehnten Mal die "Samba-Bahn". Fünf mit Musikern und tausenden Sambabegeisterten voll gestopfte Züge verlassen Rios Zentralbahnhof "Central do Brasil" in Richtung Oswaldo Cruz. 40 Minuten dauert die Fahrt. Viel Zeit, sich singend und tanzend auf das große Sambafestival rund um den Bahnhof einzustimmen, wo 100.000 Besucher das Spektakel verfolgen.

"Die Vorortbahnen stehen in Rios Geschichte für die Verdrängung des afrobrasilianischen Bevölkerungsteils", so Marquinhos.

"Rio sollte eine moderne Stadt nach europäischen Vorbildern werden, und darin war kein Platz mehr für die Nachkommen ehemaliger Sklaven." Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich die schrittweise Verdrängung der "schwarzen" Bevölkerung aus dem Zentrum. Einige besiedelten die unzugänglichen Hügel der Stadt, wo ihre Nachkommen noch heute in den Favelas leben.

Dem Thema hat sich Marquinhos auch auf seiner neuen CD angenommen, die Anfang Dezember erscheint. Sie trägt den Titel "Memórias de Minh`Alma" und wurde mit Rios besten Sambamusikern eingespielt. Es geht um die Vergessenen dieser unvergesslichen Stadt. Über 13 Lieder spannt sich der Bogen - von der Verschleppung der afrikanischen Sklaven aus ihrer Heimat, bis hin zu der andauernden Verdrängung der afrobrasilianischen Bevölkerung an den Rand der Städte und der Gesellschaft.

Heute zwängen sich Putzfrauen, Verkäufer, Friseusen und Babysitterinnen aus der Peripherie jeden Morgen zu Hunderttausenden in die Vorstadtzüge, um an ihre Arbeitsplätze im wohlhabenden Rio zu gelangen.

Die Bahnstation von Oswaldo Cruz scheint der einzige Fluchtweg aus der Hoffnungslosigkeit des Viertels.

364 Tage im Jahr erscheint auf keinem Stadtplan Rios, einmal im Jahr aber fährt die Sambabahn in die entgegengesetzte Richtung. An diesem Tag sind es die Bewohner des Zentrums, die zum Feiern in die Peripherie aufbrechen. Die Bahn bringt an diesem Tag die Samba, die, seit der Karneval Rios zu einem Fest für Touristen verkommen ist, bei den Vorstädtern in Vergessenheit geraten zu sein schien, zurück nach Oswaldo Cruz.

Marquinhos ist zuversichtlich, den Menschen aus Oswaldo Cruz mit der Samba ein wichtiges Element ihrer eigenen Kultur zurückzugeben. Und mit ihr Selbstbewusstsein und ein wenig Hoffnung.

Text + Fotos: Thomas Milz