ed 11/2016 : caiman.de

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spanien: Auf der Vía de la Plata
Eine Höllenwanderung ins Paradies
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Chamäleon im Winterschlaf
Ein Treffen mit dem Musiker Caetano Veloso
THOMAS MILZ
[art. 2]
paraguay: Grüne Wüsten
Soja-Monokulturen in Südamerika zerstören die Umwelt
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 3]
uruguay / paraguay: Unbekanntes Südamerika
Bildband "Reise durch Uruguay und Paraguay"
LARS BORCHERT
[art. 4]
erlesen: "Der Herbst des Goldenen Zeitalters"
von Karin Schüller
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 1]
sehen: Letzter Ausweg Flucht
Höllentrip durch Lateinamerika
Reportage von Peter Sonnenberg
[kol. 2]
sehen: Ab morgen mach' ich Voodoo
Einblicke in eine missverstandene Religion
Film von Silke Meyer
[kol. 3]
lauschrausch: Santiago Lara
Flamenco Tribute to Pat Metheny
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Auf der Vía de la Plata
Eine Höllenwanderung ins Paradies
 
20. Juni 2015: Um 6:30 breche ich in Cañaveral auf, der ersten Ortschaft hinter dem riesigen Stausee von Alcántara in der Extremadura, zu einem 28-Kilometer-Marsch (aus dem dann fast 34 Kilometer werden). Ich befinde mich auf der Vía de la Plata, dem Pilgerweg, der von Sevilla nach Santiago de Compostela führt. Nach der gestrigen Strapaze verzichte ich diesmal auf den steilen Anstieg zum offiziellen Wanderweg, der links parallel zur Landstraße verläuft und ziehe die deutlich flacher ansteigende Straße nach Grimaldo vor. Die Landschaft wird wieder grüner.

Nachdem der gestrige Weg vor allem durch baumlose Steppe nahe des Tajo-Stausees führte, dominieren nun rote Lehmböden und Steineichenwälder, die sich mit Viehweiden abwechseln.

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Die acht Kilometer bis zum 60-Seelen-Dörfchen Grimaldo schaffe ich in weniger als zwei Stunden. Leider ist die Dorfbar noch geschlossen, der erhoffte Kaffee bleibt also ein unerfüllter Wunsch. Aber der Brunnen zum Nachfüllen der Wasserflaschen ist in Betrieb - wie wichtig die drei Liter Wasser noch werden sollten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Frohen Mutes biege ich von der Landstraße nun ab auf den offiziellen Via de la Plata, der ab hier ca. 20 Kilometer durch eine einsame Weidelandschaft verläuft, von Häusern oder gar Ortschaften ist bis zum Horizont nichts zu sehen und auch von dem knappen Dutzend Mitpilger, die man abends in den Herbergen trifft, keine Spur.

Mein Weg führt mich - zunächst erholsam und ereignislos - vorbei an gemütlich grasenden Kühen und Ziegen, die sich zwischen knorrigen Steineichen verlieren. Das Morgenlicht verfängt sich in den Moos bewachsenen Ästen dieser uralten Bäume, deren Anblick das Panorama der Extremadura prägt und die unendliche Ruhe ausstrahlen. In der Tat: von Hektik keine Spur. Ich finde bald meinen Rhythmus und dringe langsam, wie in Trance in diese endlos wirkende Landschaft vor, begleitet nur vom Gesang unbekannter Vögel, der ein oder anderen Eidechse, die vor meinen Schuhen davon huscht. Über mir kreist ein majestätischer Greifvogel, von dem ich nicht sicher sagen kann, ob es sich um einen Adler oder einen Knochenbrecher-Geier (Quebrantahuesos) handelt. Wahrscheinlich ersteres, denn ein Quebrantahuesos wäre wohl größer. Noch sind keine dunklen Schatten zu erkennen, das vertrocknete Gras neben dem Wanderpfad schimmert golden und ich fühle mich ein wenig wie im Paradies.

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Da taucht vor mir mitten auf dem Weg ein Weidetor auf (in der Extremadura führt der Weg zum größten Teil über private Weidegründe, die so weitläufig sind, dass meist nur alle zehn Kilometer ein neuer Zaun mit Gatter auftaucht). Normalerweise sind diese Gatter mit einfachen Drahtschlaufen versehen, die von Pilgern oder Wanderern zum Öffnen des Tores kurz angehoben und nach dem Durchgang wieder geschlossen werden. Diese Drahtschlaufe jedoch war fest mit dem Torbalken verschraubt und konnte nicht angehoben werden. Der gelbe Pfeil des Pilgerwegs zeigt aber ganz klar weiter geradeaus, so dass ich beschließe, einfach über das Gatter zu klettern und auf demselben Pfad weiter zu gehen. Die Sonne steht inzwischen hoch, der Schweiß rinnt und meine Schritte werden langsamer. Schon seit längerer Zeit habe ich auf den Steinen am Wegesrand keinen gelben Pfeil mehr entdecken können. Irritiert bemerke ich nun, dass der Pfad vor meinen Augen abwärts Richtung Osten und in ein paar Hundert Metern in weitem Bogen zurück gen Süden führt. Das kann nicht der richtige Weg sein, denn dieser verläuft immer nur nach Norden.

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Und plötzlich entdecke ich sie: riesige schwarze Schatten unter den Steineichen: Kampfstiere! Zuerst verharre ich eine Minute lang bewegungslos, wie eingefroren vor Schreck. Dann gehe ich ganz vorsichtig, wie in Zeitlupe, die ersten Schritte rückwärts, dabei die Ungetüme nicht aus den Augen lassend. Es ist eine kleine Herde, ein knappes Dutzend pechschwarzer Riesen mit gewaltigen, gefährlich spitz zulaufenden Hörnern. Die meisten grasen erfreulich friedlich, zwei liegen im Schatten einer Steineiche und dösen vor sich hin. Ich versuche, meinen Rückwärtsgang bergauf zu beschleunigen, bete zu Gott, dass die Toros brav weiter grasen und keine Notiz von mir nehmen und beglückwünsche mich dazu, mich heute morgen nicht für das grellrote, sondern das himmelblaue T-Shirt entschieden zu haben (die Farbe blau beruhigt, habe ich mal irgendwo gelesen).

Da hebt eines der Ungetüme den Kopf und schnaubt. Die Entfernung beträgt zwar schon über hundert Meter, aber ich sehe mich schon auf die nächste Steineiche klettern, die immerhin hoch genug scheint und dort stundenlang warten. Trotz der Hitze ist mir plötzlich kalt vor Angst, denn gegen einen galoppierenden Kampfstier habe ich bei einer Flucht bergauf keine Chance. Aber der schwarze Riese wendet sich dem Himmel sei Dank wieder seinem Gras zu und ich drehe mich um, um dann so schnell ich kann den Pfad zurück zum Zaun zu laufen. Atemlos klettere ich über das Gatter und muss mich kurz daran festhalten, um den Schreck zu verarbeiten.

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Dann leere ich eine meiner zwei Wasserflaschen in einem Zug. Mein Blick fällt auf einen gelben Pfeil mit Haken, der nach links zeigt: eine Umleitung! Schlagartig wird mir klar, dass der eigentliche Weg aktuell gesperrt ist (deshalb das fest verschraubte Tor) und es eine provisorische Umleitung gibt, die ins Dörfchen Riolobos führt. Schweißüberströmt vor Anstrengung und erlittener Angst marschiere ich nun entlang von bemoosten Steinquadern wieder leicht bergab, die Stiere jenseits der Mauer zurück lassend. Während ich noch fluche über die Idioten, die neue Pfeile für die Umleitung gemalt haben, ohne die alten, die zu den Kampfstieren führen, zu entfernen und mich aufrege über die vier Kilometer meines Energie verschwendenden Umwegs, brummt plötzlich ein Insekt von beträchtlicher Größe dicht an meinem Ohr vorbei. Eine Sekunde später ein brennender Schmerz in meiner linken Schulter: ein Hornissenstich! Am heutigen Tag scheint sich die ganze Natur der Extremadura gegen mich verschworen zu haben. Wohl selten wurden die ehrwürdigen Steineichen an diesem frommen Weg hier Zeugen von einer ganzen Serie von Flüchen, wie ich sie nun wütend heraus brülle. Immerhin fällt mir in diesem Moment ein Fläschchen Teebaumöl ein, das ich nun fast komplett über dem Hornissenstich entleere. Tatsächlich lässt der Schmerz deutlich nach und ich kann meinen Weg fortsetzen.

Als ich endlich gegen 13 Uhr bei Mittagshitze von 40 Grad die Landstraße erreiche und kaum noch Wasser habe, ein erneuter Schock: der direkte Pilgerpfad nach Galisteo ist hier gesperrt, weil die Latifundie eines offenbar pilgerfeindlichen Großgrundbesitzers genau dazwischen liegt. Der Umweg setzt sich also fort: ich muss über den glühenden Asphalt der Landstraße fast fünf Kilometer zurück gen Süden nach Riolobos. Ich bemühe mich aufrichtig, nicht mehr zu fluchen. Morgens um sechs Uhr mögen fünf Kilometer eine Lappalie sein, mittags kurz vor zwei bei glühender Hitze ohne Proviant und fast ohne Wasser auf einem schattenlosen Asphaltstreifen sind sie die HÖLLE.

Ich schleppe mich Richtung Riolobos. Die ersten Häuser tauchen, wollen aber einfach nicht näher kommen. Schweiß brennt in meinen Augen und lässt mich alles verschwommen sehen. Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet und ich bin kurz vor dem Kollaps, als ich endlich den Ortsrand erreiche. Und hier erwartet mich nach all den Strapazen das Paradies: "Las Catalinas" ist alles in einem - Campingplatz, Pilgerherberge, Restaurant, Dorfbar, Freizeitzentrum mit Ferienwohnungen direkt neben dem Schwimmbad und Park der Gemeinde. Zuallererst bitte ich krächzend um ein eiskaltes Tonic Water, um mich vor dem Verdursten zu retten.

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Nach einem üppigen Mittagsmahl sitze ich mit dem sympathischen Herbergsvater bei einem Kaffee und er berichtet mir, dass sich heute noch zwei andere Pilger mit letzter Kraft und einem Hitzschlag nahe bei ihm über die Schwelle geschleppt hätten. Einmal angekommen, kann man in Riolobos, das ja nur durch die aktuelle "Umleitung" zu einem Ort am Pilgerweg nach Santiago geworden ist, wunderbar entspannen. Allen gestressten Mitteleuropäern sei empfohlen, einmal die neue Palmenallee zum Ortskern entlang zu flanieren und dort die Störche auf der Dorfkirche zu zählen.

Die Kirche von Riolobos dürfte den Storchennester-Rekord der Extremadura halten: zwei Dutzend Storchennester bevölkern Turm und Dach des Kirchleins und es gibt kaum noch Platz für "Neubauten".  Die Beobachtung der lustigen, torkelnden Flugübungen ganzer Schwadronen von Jungstörchen im Abendlicht ist ein schöner und sehr relaxter Ausklang eines turbulenten Wandertages, der am Ende Stiergefahr und Hornissenstich vergessen lässt.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipp und Link:
Unterkunft und Verpflegung in Riolobos:
"Las Catalinas": Hauptstraße, am nördlichen Ortseingang linke Seite, Pilgerherberge, Übernachtung inkl. Frühstück im 2-Bett-Zimmer 15 Euro, Möglichkeit zum Wäsche waschen, Pilgermenü 9 Euro.

Der sympathische Herbergsvater bietet auch geführte Touren in den nahe gelegenen Naturschutzpark Monfragüe zum Beobachten von Geiern und Adlern an.
Tel. 927-451150 oder 605-824086

http://www.campinglascatalinas.es/

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Chamäleon im Winterschlaf
Ein Treffen mit dem Musiker Caetano Veloso

Rio de Janeiro im brasilianischen Winter. Über dem schicken Strandviertel Leblon hängen graue Wolken, es nieselt. Caetano Veloso, Brasiliens Musiklegende, scheint an diesem späten Nachmittag gerade erst wach geworden zu sein. Er wirkt erschöpft, zerfahren. Vielleicht hat ihn seine letzte Tournee durch die USA doch mehr mitgenommen als er zugeben will. Der Mann ist immerhin Mitte Siebzig.

Zu Beginn des Gesprächs wägt er jedes Wort sorgfältig ab. Ist es Müdigkeit oder doch nur Teil der Show? Er kokettiere stets mit seinen Launen, hört man über ihn. Wie eine Diva sieht er aber eigentlich gerade nicht aus. Seine einst unzähmbaren Haare sind mittlerweile schütter und fast vollständig ergraut. Genau wie die von Gilberto Gil. Gemeinsam mit seinem engsten Freund und langjährigen musikalischen Partner zieht Caetano seit rund einem Jahr durch die Welt. "Dois amigos, um século de música" lautet das Programm, mit dem die beiden Mittsiebziger ihre bereits 50 Jahre andauernde Karriere feiern. "Mir war anfangs nicht klar, was wir machen sollten", sagt Caetano. Er habe nicht darüber nachgedacht, dass man schon so lange im Musikgeschäft sei. Ein italienischer Produzent hatte Gilberto Gil von der Idee erzählt, eine Jubiläumstour mit den beiden zu machen. Zu Beginn sei jedoch erst einmal nicht begeistert von dem Projekt gewesen. "Ich tourte da noch mit meinem letzten Album und hatte eigentlich keine Zeit, mich auf etwas Neues zu konzentrieren. Das wird nicht gehen, Gil, habe ich gesagt." Aber Gilberto Gil ließ nicht locker und Caetano willigte schließlich ein. Das Repertoire der Shows, bei denen beide lediglich mit ihren Gitarren und ohne Begleitband auftreten, besteht aus Liedern, die ihre Karrieren prägten. Und die leicht zu behalten und zu spielen seien, fügt Caetano augenzwinkernd hinzu.


Das Publikum reagierte begeistert. Trotzdem: Caetano ist von der vielen Reiserei gezeichnet. Und von dem Durcheinander in seiner Heimat niedergeschlagen, sagt er. Nie habe er Brasilien derart polarisiert erlebt wie derzeit. Seine selbst gewählte Heimatstadt Rio de Janeiro befindet sich ausgerechnet zu den Olympischen Spielen in einer schrecklichen Finanzkrise, während Brasilien politisch führungslos dahin treibt. "Zuletzt haben sich die schlechten Nachrichten ja überschlagen, furchtbare Skandale, die Sorgen bereiten." Die Situation habe ihn zeitweise sehr frustriert, er habe die Hoffnung verloren. "Bei all der Unruhe schaue ich auf mein Brasilien und dann denke ich: Ach, hier klappt einfach nichts. In Momenten wie diesen bin ich stets sehr unsicher. Aber derzeit geht es wohl allen so."

Vor einigen Wochen trat Caetano spontan im besetzten Capanema-Haus im Zentrum von Rio auf. Nach der vorläufigen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff Mitte Mai hatten Gegner von Interimspräsident Michel Temer das einstige Erziehungsministerium besetzt. Temers Entscheidung, das Kulturministerium MinC abzuschaffen, hatte sie zu dieser Protestaktion bewegt. Trotz Caetanos Solidaritätskonzert im Capanema-Haus stellt er klar, dass er die Absetzung Rousseffs nicht als Putsch versteht. "Ich würde es nicht so einfach einen Putsch nennen. Es stimmt nicht, dass wir in Brasilien keine Demokratie mehr haben. Auch wenn Freunde, die ich sehr mag, dies behaupten."

Brasiliens Konservative hätten vielmehr Rousseffs politische Unfähigkeit als Geschenk serviert bekommen. Gleichzeitig brach der riesige Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras aus. Dadurch sei der Machtzyklus der Arbeiterpartei PT zu Ende, glaubt Caetano. "Aber die gesellschaftlichen Kräfte, die die PT an die Macht gebracht haben, sind ja noch da. Und deshalb kann im linken Spektrum etwas Neues entstehen. Was das genau sein wird, weiß ich aber nicht." Caetano, der stets sensibel für gesellschaftliche Entwicklungen war und viele in der Vergangenheit sogar mit andachte, zeigt sich derzeit ratlos.

Das Licht in seinem in schlichtem Weiß gehaltenen Wohnzimmer ist gedimmt. Gedankenverloren spielt der weltweit bekannteste und einflussreichste brasilianische Musiker der letzten 50 Jahre auf seiner Gitarre. Doch ihm wollen einfach die Texte nicht einfallen. "Ich bin eigentlich kein richtiger Musiker, habe keine großartige musikalische Intuition", sagt er mit leiser Stimme. "Ich benutze die Gitarre, um meine Lieder zu komponieren und sie vorzutragen. Aber das alles auf ganz niedrigem Niveau." Bei den derzeitigen Shows sei er froh, mit Gilberto Gil aufzutreten. "Gil spielt toll Gitarre." Er lacht. Caetano im Understatement-Modus. Wohl nur ein Spielchen, das er mit dem Interviewer treibt.


Gemeinsam mit Gilberto Gil trat Caetano Anfang August bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele auf. Viel Lust dazu hatte er nicht. "Aber ich habe denen zugesagt, schlicht und einfach um nicht absagen zu müssen." Aus dem Backstage-Bereich im Maracanã-Stadion postete er dann ein Foto, auf dem er verschmitzt lächelnd ein "Fora Temer" Schild hochhält. Es heißt von Caetano, dass er keiner Polemik aus dem Weg gehe. Und sich selber gerne widerspreche, nur um andere zu verwirren.

Aus Talkshows und Interviews aus den 70er, 80er und 90er Jahren kennt man ihn so. Da antwortete er pampig auf seiner Meinung nach dumme Fragen der Journalisten. Was andere von ihm denken, schien ihm stets unbedeutend. Doch nun zeigt er sich überraschend friedfertig. Vielleicht aber auch das nur eine der vielen Facetten des Chamäleons Caetano Veloso.

Auch musikalisch war Caetano nie auszurechnen. Auf Bossa Nova folgte der Kulturmix Tropicalismo, auf Pop-Platten schwer zu ertragene Klangkollagen. Mal sang er Tangos auf Spanisch, dann Nirwana auf Englisch, dann plötzlich "Um tapinha nao dói". Nichts war zu intellektuell oder zu banal, um nicht in Caetanos Kanon aufgenommen und damit geadelt zu werden. Ob Belanglosigkeit oder eklektische Geniestreiche - über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.

Auftritten mit Orchestern folgte der Garage-Grunge-Sound seiner letzten Band. Dann wieder trat er lediglich in Begleitung seiner Gitarre auf, die er ja angeblich nicht wirklich beherrscht. "Früher hab ich mit Orchestern, mit Celli, manchmal mit Bläsergruppen gespielt. Und dann gab es da diese tolle Perkussiongruppe aus dem Carnaval von Bahia. Da mischte ich Cool Jazz mit Perkussion und heraus kamen starke Kontraste." Seine größten Erfolge feierte Caetano jedoch mit Balladen, die er zu einer schlichter Gitarrenbegleitung vortrug, wie seine Version von Peninhas "Sozinho". "Manchmal nimmst Du nur eine Gitarre und der Song wirkt nackt, ungeschützt und anfällig. Da schaffst Du plötzlich eine richtig intime Atmosphäre."

Ihm ist doch noch ein Lied eingefallen. Er spielt an diesem grauen Wintertag "Luz do Sol". Demnächst folgen noch ein paar Shows mit Gilberto Gil, dann ist ihre Jubiläumstour vorbei. Pläne für die Zeit danach? Eine neue Platte, eine neue Tour? "Derzeit habe ich nichts geplant." Nachdenklich zupft er an den Saiten seiner Akustikgitarre. Dann grinst er plötzlich. "Aber möglich ist ja grundsätzlich stets alles."

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Paraguay: Grüne Wüsten
Soja-Monokulturen in Südamerika zerstören die Umwelt
 
In Deutschland stehen Kühen in der konventionellen Stallhaltung zwei Quadratmeter zu. Schweine bekommen nur einen Quadratmeter. Doch unsere intensive Nutztierhaltung verbraucht trotzdem jede Menge Platz – und zwar in Südamerika. Dort wird auf riesigen Flächen Soja als Futter für unsere Massentierhaltung angebaut. Ganze Landstriche haben sich in Monokulturen verwandelt, die von Umweltschützern auch als "Grüne Wüsten" bezeichnet werden. Es sind Monokulturen, auf denen Unmengen Chemikalien versprüht werden.

Es ist später Nachmittag, die Sonne geht gerade unter. Eigentlich müsste jetzt das in den Tropen übliche laute Vogelkonzert von dem noch lauteren der Zikaden abgelöst werden. Doch es ist fast gespenstisch still, nur die Hühner von Doña Evangelista gackern noch ein wenig, bevor sie ihre Köpfe unten die Flügel stecken.

"Seit zehn Jahren wird rund um mein Land herum Soja angebaut. Das Gift, das die Sojafarmer auf ihren Feldern versprühen, weht zu mir rüber und vernichtet meinen Mais und meine Bohnen. Manchmal sterben sogar meine Hühner"; erzählt Evangelista Postille. Doña Evangelista Postillo, 53 Jahre alt, ist Besitzerin eines der letzten kleinbäuerlichen Höfe im Osten Paraguays. Eine rundliche, bekümmert wirkende Frau, die fünf Kinder großgezogen hat und vor der Zeit gealtert ist. Ein kleiner Hof, das bedeutet in Paraguay zehn Hektar Land, auf denen das Notwendigste für den Eigenbedarf angebaut wird. Früher reichte das zum Überleben, doch heute erntet Doña Evangelista immer weniger. "Sie sprühen gleich da drüben". Doña Evangelista zeigt auf das angrenzende Feld, keine zehn Meter entfernt von ihrem Haus, einer blau gestrichenen Bretterbude. "Es gibt ein Gesetz, das einen Mindestabstand zu den Nachbarn und zu Bächen vorschreibt. Außerdem müssten sie Bäume am Rand ihrer Felder pflanzen, damit sich das Gift nicht so verteilt. Aber die Großgrundbesitzer halten sich einfach nicht daran. Und wir können nichts dagegen tun."

Dass eine einfache paraguayische Bäuerin überhaupt weiß, dass es offiziell Gesetze zu ihrem Schutz gibt, ist schon ein Fortschritt. Nicht, dass der viel nutzen würde. Doch Luis Rojas Villagra verbucht es dennoch als Erfolg, dass sich langsam das Wissen darüber verbreitet, was Soja anrichtet. "Eines der Probleme des Sojaanbaus ist, dass er enorme Mengen an Pestiziden braucht. Am Anfang hieß es, mit den gentechnisch veränderten Pflanzen brauche man weniger Pestizide. Aber die Praxis zeigt, dass man mit der Zeit immer mehr braucht, weil das Unkraut Resistenzen gegen das Gift entwickelt. Innerhalb von vier Jahren hat sich der Verbrauch fast vervierfacht. Die Erde wird geradezu mit Gift bombardiert." Nur der gentechnisch veränderten Sojapflanze können die Pflanzenschutzmittel nichts anhaben. All dieses Gift gelangt in die Umwelt, ins Wasser, in die Luft und in die Erde. Luis Rojas Villagra ist der Direktor von BASE IS mit Sitz in der paraguayischen Hauptstadt Asuncion. Die Umwelt- und Hilfsorganisation wird unter anderem von Misereor unterstützt und dokumentiert seit 1982 die Auswirkungen der Monokulturen auf die Umwelt und die ländliche Bevölkerung. "Das Problem von gentechnisch verändertem Soja ist, dass es sich der Anbau nur lohnt, wenn man über große Flächen verfügt, denn die Kosten für das Saatgut, die Pestizide und dann noch die ganzen Maschinen sind sehr hoch. Es rechnet sich nur, wenn man Monokultur betreibt und ein großes Gebiet beackern kann", erklärt Villagra.

Und so breitet sich die Sojapflanze immer weiter aus. Inzwischen steht sie auf drei Viertel der gesamten Ackerfläche Paraguays. Die letzten Wälder des einstigen Tropenwaldlandes verschwinden, Flüsse und Bäche werden umgeleitet, um die Anbaufläche zu vergrößern. Villagra: "Dort, wo Soja angebaut wird, ist "grüne Wüste". Man sieht keine Bäume, nur selten einen Vogel fliegen und hört keine Insekten. Man sieht auch keine Tiere auf der Erde, weil diese vergiftet ist. Es ist in der Tat eine Wüste, in der es keinerlei Bioversität mehr gibt."

Auch für Menschen sind die Unkraut- und Insektengifte schädlich. Bis vor kurzem handelte man sich mit diesem Aussage schnell eine Abmahnung der transnationalen Herstellerfirmen ein. Doch im März 2015 stufte die Weltgesundheitsorganisation Glyphosat, das weltweit am meisten verwendete Herbizid, als "wahrscheinlich krebserregend bei Menschen" ein. Auch andere Pflanzenschutzmittel landeten auf der schwarzen Liste. Doña Evangelista weiß davon nichts, aber dass die auf den Feldern um sie herum versprühten Mittel gesundheitsschädlich sind, das erfährt sie regelmäßig am eigenen Leib: "Immer kurz, nachdem gesprüht wurde, bekomme ich einen schweren Ausschlag. Viele Kinder hier in der Gegend haben plötzlich Probleme mit den Augen und wir glauben, dass das etwas mit den Pestiziden zu tun hat."

Es gäbe keine Beweise dafür, dass der Sojaanbau negative Auswirkungen habe, heißt es von Seiten der Sojaproduzenten. Die paraguayische Regierung sieht den Sojaanbau als wichtigen Wirtschaftsfaktor. Der Sojaexport ist ein gutes Geschäft, die eiweißreiche Bohne wird vor allem für Schweine, Puten und Kühe in der Massentierhaltung Europas gebraucht und gut bezahlt. Großgrundbesitzer, Politik und Medien sind in Paraguay eng miteinander verflochten, das Thema Soja und Gesundheit versuchen sie totzuschweigen.

"Es gibt eine Ärztin, die dazu geforscht und einen Zusammenhang zwischen Frühgeburten und sich ausbreitendem Sojaanbau hergestellt hat. 40 Prozent der Neugeborenen im Department Itapúa sind unterentwickelt oder haben Fehlbildungen. Aber in den Gesundheitsstationen wird nicht einmal Buch darüber geführt, inwieweit Krankheiten mit Pflanzenschutzmitteln in Verbindung stehen könnten", erzählt Blanca Mendez.

Blanca Mendez leitet die Sozial-Abteilung der katholischen Kirche in dem Städtchen San Pedro. Die Kirche ist die einzige nennenswerte Institution, die sich um die Menschen kümmert, die unter dem Sojaanbau leiden. "Es geht darum, das Leben zu verteidigen, denn das Leben der Menschen hängt von unseren natürlichen Ressourcen ab. Und es ist auch eine Frage der Menschenrechte, denn der Mensch hat ein Recht darauf, in einer gesunden Umwelt zu leben".

Die Kirche klärt die ländliche Bevölkerung über diese und andere Rechte auf, sagt den Menschen, welche Gesetze die Sojaproduzenten einhalten müssten und  versucht, den Widerstand gegen die Großgrundbesitzer zu organisieren. Es sei höchste Zeit, dass etwas geschehe, sagt Blanca Mendez: "In dieser Zone des Landes sind wir hier die letzte Gegend, in der noch nicht zu einhundert Prozent Soja angebaut wird. Hier gibt es noch Natur und Kleinbauern, hier gibt es noch Land, das wir verteidigen können. Aber wenn die Menschen keine Unterstützung bekommen, dann werden wir es an die Sojaproduktion verlieren."

Die holprige Straße zu Doña Evangelistas Hütte  ist weit und breit das einzige, was nicht von grünen Sojafeldern bedeckt ist. Keine Gehöfte, keine Wälder, keine Wiesen mit Kühen. Hinter einer Kurve erscheint plötzlich eine Kirche und gleich daneben ein Friedhof mit fast fröhlich bunten Grabsteinen. Früher gab es hier mal ein Dorf, inzwischen wohnen nur noch wenige Menschen in dem Landstrich. Sie haben ihr Land verkauft. Viele sahen nur das Geld, das ihnen geboten wurde.  Andere gaben auf, weil sie neben den Sojafeldern nicht überleben konnten. Seit sich der Sojaanbau in Paraguay ausbreitet, wächst der Armutsgürtel rund um die Hauptstadt rasant. Doch Doña Evangelista ist geblieben. Sie hat bislang jedes Angebot abgelehnt  ihr Land zu verkaufen, und verteidigt es, so gut sie kann: "Ich habe eine Barriere aus Bäumen und Zuckerrohr rund um mein Land gepflanzt, damit das Gift nicht so leicht vom Wind herüber geweht wird. Das müssten eigentlich die Sojabauern tun, aber sie machen es nicht. Also tu ich es."

Wenn sie sieht, dass gesprüht wird, sperrt sie die Hühner ein – noch ein Tipp, den sie von der Sozial-Abteilung der katholischen Kirche bekommen hat. Die rieten ihr auch, mit Kuh-Urin und Knoblauch das Ungeziefer zu vertreiben, das plötzlich in Massen auftritt, weil außer Doña Evangelistas kleinen Feldern alles mit Pestiziden behandelt wird. So sehr die Kleinbäuerin diese kleinen Erfolge auch feiert, sie weiß, dass sie auf verlorenem Posten steht: "Wenn wir uns richtig wehren wollten, müssten wir uns mit den Großen anlegen. Die haben viel Geld für gute Anwälte, ich habe nicht mal genug, um regelmäßig in die nächste Stadt zu fahren, um vielleicht vor Gericht auszusagen. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem ich nicht mehr durchhalten kann und mein Land verkaufen muss. Dieser Tag wird kommen, denn hier in Paraguay gewinnen immer die Mächtigen."

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: paraguay]





[art_4] Uruguay: Unbekanntes Südamerika
Bildband "Reise durch Uruguay und Paraguay"
 
Was muss ein Bildband können? Muss er beeindrucken, begeistern, unterhalten? Ist es Aufgabe eines Bildbandes zu informieren, zu differenzieren? Uruguay ist eines der Länder dieser Erde, von denen wahrscheinlich jeder schon einmal gehört hat. Aber kaum jemand kann wirklich etwas Konkretes damit verbinden. Rinder und beißende Fußballer, ja, die "Schweiz Lateinamerikas" auch noch, Tango vielleicht... Aber da schiebt sich schon die erste Blockade dazwischen: Moment mal, der kommt doch aus Argentinien. Zurück zum Thema: Uruguay. Uruguay? Wo liegt das noch mal? Und erst recht: Paraguay?

Titel: Reise durch Uruguay und Paraguay
Autorin: Katharina Nickoleit
Fotograf: Christian Nusch
ISBN: 978-3800342549
Seiten: 140
Verlag: Verlagshaus Würzburg - Stürtz
Auflage: 1. (4. April 2016)

Genau an diesem Punkt setzt die erfahrene Reisebuchautorin Katharina Nickoleit an. Um nicht zu sagen, an genau diesem Punkt holt sie die Leserinnen und Leser des Bildbandes Reise durch Uruguay und Paraguay ab: "Eingeklemmt zwischen den beiden großen Nachbarn Brasilien und Argentinien wird das zweitkleinste Land Südamerikas oft übersehen" lautet der erste vielsagende Satz. Gemeint ist Uruguay. Ihm folgt eine herrlich differenzierte und abwechslungsreiche Einführung in dieses unbekannte Land. Flankiert von den mal beeindruckenden, mal dokumentarischen, oft künstlerischen Bildern des Reportagefotografen Christian Nusch tauchen die Leser ein in die entschleunigte undramatische Vielseitigkeit Uruguays: In seine nicht enden wollende Weite, seine kurze aber kraftvolle Tradition und seine pittoresken Kolonialstädtchen. Die Betrachter der mehr als 220 Bilder werden sowohl zum Gast wilder Rodeos als auch Teilnehmer des längsten Karnevals der Welt. Sie begegnen Surfern und Gauchos, deren Rindern und Pferden ebenso wie herrlich alten Autos und auf Hochglanz polierten millionenschweren Yachten in den Häfen. Sie dürfen die beeindruckende Architektur Montevideos, der entspanntesten Hauptstadt der Welt, bewundern und die (ebenfalls) endlosen, unberührten Küsten dieses kleinen Landes, ihre Dünen und schroffen Felsen bestaunen.

Paraguay findet in dem Buch zwar sehr viel weniger Platz. Dennoch gelingt es Autorin wie Fotograf, die Einzigartigkeit dieses noch unbekannteren Landes in Wort und Bild lebendig werden zu lassen. Um nicht zu sagen: Sie zelebrieren seine Seele, die in der tiefen Religiosität der Menschen Heimat und in den Kirchen, Pilgerstätten und natürlich den Ruinen der Jesuiten-Reduktionen Ausdruck findet.

Wer mit Nickoleit und Nusch auf ihre Reise durch Uruguay und Paraguay geht, erlebt ein kraftvoll beeindruckendes Porträt zweier Länder, die zwar mit dieser Reise auf knapp 140 Seiten ihre Unbekanntheit verlieren aber ein Vielfaches an Anziehungskraft gewinnen.

Text: Lars Borchert

Von Lars Borchert im Reise Know-How Verlag erschienen ist der folgende Reiseführer zu Uruguay:

Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: uruguay]





[kol_1] Erlesen: "Der Herbst des Goldenen Zeitalters" von Karin Schüller

Schon das Cover unter dem programmatischen Titel legt die Meßlatte hoch, denn da räkelt sich – eher elegant als verführerisch – die berühmte Venus von Velázquez dem Leser entgegen. Und wer hinter dem violetten Vorhang der Venus einen anspruchsvollen historischen Roman erwartet, dessen Erwartungen werden von Karin Schüller voll erfüllt.

Im Zentrum ihres Romans steht die Lebensgeschichte eines irischen Mönchs, der fast sein ganzes Leben im goldenen Exil verbringt: im Spanien des 17. Jahrhunderts, vor allem in Salamanca und Madrid. Die unorthodoxen Ansichten dieses Protagonisten, sein Interesse an Kunst, Natur und "weltlichen Dingen" und nicht zuletzt seine Schönheit werden ihn im Spanien der Inquisition einigen Verführungen aussetzen und manches Mal in Bedrängnis bringen.

Der Herbst des Gldenen Zeitalters
Karin Schüller
Pro Business
Auflage: 1 (28. Juni 2016)
442 Seiten
ISBN-10: 3864602157
ISBN-13: 978-3864602153

Die Autorin lässt ihre Hauptfigur Hugh als Jugendlichen um 1605 im Hafen von La Coruña ankommen, am See von Sanabria ganz kurz das Paradies erleben, um ihn dann sein Gelübde für den Franziskanerorden ablegen zu lassen und Jahrzehnte lang durch Verhandlungen mit dem spanischen Königshaus zur Unterstützung des Freiheitskampfes der Iren gegen England und höfische Intrigen zu führen. Sie schickt ihn zur Erfüllung von Geheimaufträgen nach London und Rom, zur Pilgerreise nach Köln und während der großen Pest nach Prag. Bei der Darstellung der politischen Hintergründe (und Abgründe) sowie der diplomatischen Verflechtungen wird deutlich, dass Karin Schüller als Historikerin über reichhaltiges Detailwissen dieser Epoche verfügt, die man trotz aller Kriege und Katastrophen heute in Spanien die goldene nennt.

Dennoch verlangt dieser Roman vom Leser kein Hintergrundwissen, sondern richtet sich durchaus an ein breites Publikum. Dies erreicht die Autorin durch den Kunstgriff, Europas politische und religiöse Konflikte des 17. Jahrhunderts auf die fiktive und spannende Biographie des irischen Franziskaners zu projizieren. Mit den Augen ihres Protagonisten Hugh lässt sie den Leser die Schrecken (Inquisitionsprozesse) und die Schönheit des Goldenen Zeitalters sehen: Kunst und Theatervorstellungen. Dabei setzt Karin Schüller eine sehr ausgefeilte Sprache ein, die sich wohltuend abhebt von Fast Food Literatur und sich im Ton einer Hommage an das Siglo de Oro als würdig erweist.

Zu den besonderen Höhepunkten des Romans gehören die fiktiven Diskussionen der barocken Hofmaler Velázquez und Rubens mit dem Protagonisten. Sie zeugen nicht nur von den profunden kunsthistorischen Kenntnissen der Autorin. Sie glänzen vor allem durch die passende Charakterisierung dieser Künstlergenies des Goldenen Zeitalters: der vornehmen andalusischen Zurückhaltung des jüngeren Velázquez und seiner subtilen Pinselführung wird die polternde Eitelkeit des älteren, schon völlig etablierten Rubens gegenüber gestellt. Und ganz nebenbei lässt Karin Schüller ein im Brand des Alcázar von Madrid verloren gegangenes Gemälde des Velázquez wieder auferstehen und präsentiert zudem eine ebenso originelle wie geniale Idee zur Entstehung der Venus des Velázquez, die auf dem Buchcover erscheint.

Der "Herbst des Goldenen Zeitalters" war in Wahrheit der eigentliche Glanz von Spaniens Goldenem Zeitalter, denn während die Eroberungserfolge und der Wirtschaftsboom sich vor allem über das 16. Jahrhundert erstreckten, kam es zeitversetzt vor allem Mitte des 17. Jahrhunderts, als Spanien von allen Seiten unter Beschuss geriet und zwischen Wirtschaftskrisen und Staatsbankrotten taumelte, zu einer beispiellosen Blüte der spanischen Kunst, deren größte Exponenten die Maler Velázquez, Zurbarán, Murillo, die Bildhauer Martínez Montañés und Pedro Roldán, alle aus Sevilla, Universalkünstler Alonso Cano aus Granada, die Architekten der Barock-Dynastien der Figueroa in Sevilla und der Churriguera in Kastilien sowie die kastilischen (Theater)Dichter Calderón de la Barca, Lope de Vega und Tirso de Molina waren.

Dem Andenken dieser Kunst-Giganten ist Karin Schüllers Roman gewidmet - und ist dabei selbst ein über 400 Seiten starkes Stück Kunstliteratur geworden.

Text: Berthold Volberg
Cover: amazon

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Sehen: Höllentrip nach Tijuana
 
Gefahren lauern überall, vor allem für Frauen. Trotzdem sind es Tausende, die sich täglich auf den Weg machen ins gelobte Land. Der Traum von einem Leben in den USA muss riesengroß sein. Monatelang sind sie unterwegs und das ARD-Team um den SWR-Mittelamerika-Korrespondenten Peter Sonnenberg begleitet sie auf diesem unkalkulierbaren Weg durch Süd- und Mittelamerika.

In mehreren Kapiteln dokumentiert der Film die gefährlichsten Abschnitte der Flucht nach Norden.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick von oben auf die Stadt Teotihuacán.
Foto: Flöße aus einer Hölle in die nächste. Der Rio Suchiate trennt Guatemala und Mexiko.

Copyright: WDR/SWR


Sendetermin und Hintergrundinfo
HÖLLENTRIP NACH TIJUANA
Eine WELTWEIT-Reportage von Peter Sonnenberg
Mittwoch (19.10.16) um 22:55 Uhr / 30 Minuten / WDR

Armut ist in den wenigsten Fällen der Motor zur Flucht, die Bedrohung durch Maras oder Drogenhändler im eigenen Land sind der Antrieb. Der Film wirft ein besonderes Augenmerk auf die Frauen, deren Flucht in El Salvador beginnt, im Haus von Veronica Gomez. Sie erzählt, dass sie ihren 14-jährigen Sohn davor schützen will, dass die Maras ihn in ihre gewalttätige Bande ziehen. Dafür lässt sie ihre beiden kleineren Kinder zurück.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick von oben auf die Stadt Teotihuacán.
Foto: Weite Strecken legen die Flüchtlinge zu Fuß zurück. Gepäck? Praktisch keines.

Copyright: WDR/SWR


In mehreren Kapiteln dokumentiert der Film die gefährlichsten Abschnitte der Flucht nach Norden. Von illegalen Grenzübertritten und den verschiedenen Fluchtrouten durch Mexiko. Hier warten kriminelle Banden, die rauben und vergewaltigen. Coyoten - so heißen die Schlepper in Lateinamerika - bieten Fluchtpakete an. Für 8000 Dollar von El Salvador nach Los Angeles, meist im Bus.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick von oben auf die Stadt Teotihuacán.
Foto: Warten auf den nächsten Güterzug Richtung Norden.

Copyright: WDR/SWR


Doch wer das Geld nicht hat, muss mit dem Boot über den Pazifik, mit dem Güterzug durch Mexiko oder zu Fuß durch Chiapas und weiter nach Norden.

edes Jahr verschwinden Hunderte, sterben an Erschöpfung, werden ermordet oder verstümmelt. Gesicherte Zahlen gibt es nicht, aber die meisten erreichen ihr Ziel nicht: das gelobte Land, die Vereinigten Staaten.

Weitere Infos: WDR

[druckversion ed 10/2016] / [druckversion artikel]






[kol_3] Sehen: Ab morgen mach' ich Voodoo
Einblicke in eine missverstandene Religion
 
Blutopfer, Nagelpüppchen, Rituale schwarzer Magie - das sind die Bilder, die sofort präsent sind, wenn von "Voodoo" die Rede ist. Verbunden mit einer Mischung aus Angst und Faszination. Was weniger bekannt ist: Es gibt verschiedene Ausrichtungen des Voodoo-Kultes. Der Film gibt erstmals Einblicke in bisher geheim gehaltene Zeremonien und stellt Priester und Gläubige vor.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Blick von oben auf die Stadt Teotihuacán.
Foto 1: Joaquín LaHabana Reyes

Copyright: rbb


Es sind die Anhänger der Santeria und des Candomblé, der afrokubanischen und der afrobrasilianischen Variante des Voodoo, die ihre Zeremonien meist nur im Geheimen abhalten. Und auch die bunten Altäre in ihren Wohnungen, mit denen Geister gnädig gestimmt werden sollen, verbergen sie meist vor der Öffentlichkeit. Zu groß ist die Angst vor Vorurteilen und Stigmatisierung.

Sendetermin und Info
Ab morgen mach' ich Voodoo
Einblicke in eine missverstandene Religion
Film von Silke Meyer
Länge: 30 Minuten
Samstag, 26. November 2016 | 18:00
Sender: RBB

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Archäologen und Drehteam. Im Hintergrund altes Gebäude.
Foto 2: Spirituelles Ritual im Wasser, durchgeführt durch Joaquín LaHabana Reyes

Copyright: rbb

Die Wiege des Voodoo steht in Westafrika. Von hier aus hat sich die Religion durch den Sklavenhandel nach Lateinamerika ausgebreitet und hier weiterentwickelt: In Brasilien entstand so der Candomblé und auf Kuba die Santeria. Für beide Religionen bildet der Voodoo eine bedeutende Wurzel, noch immer sind die beiden Religionen eng verwandt mit dem Voodoo-Kult. Mit Zuwanderern aus Westafrika und Lateinamerika spielt Voodoo auch in Europa zunehmend eine Rolle. Manche Schätzung rechnet mit bis zu 60 Millionen Anhängern weltweit. Der Voodoo ist seit den Zeiten der Sklaverei eine globalisierte Religion.

"Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung im Mexiko": Gómez und zwei Arbeiter in unterirdischem Gang.
Foto 3: Murah Soares

Copyright: rbb

Der Film begleitet einen Candomblé- und einen Santeria-Priester sowie eine deutsche Frau, die zur Santeria konvertiert. Dabei muss sie verschiedene Initiationsriten durchlaufen, die bisher in Deutschland noch nie filmisch dokumentiert wurden. Mit der ehemaligen Theologie-Studentin bekommt der Zuschauer Einblicke in Rituale, Rhythmen und Tänze. Voodoo, Santeria und Candomblé gelten auch als "getanzte Religion", die den Körper stark betont. Statt für schwarze Magie stehen sie für ein hohes Maß an Naturverbundenheit und eine Abwendung vom Materialismus.

Weitere Infos: rrb

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel]





[kol_4] Lauschrausch: Santiago Lara
Flamenco Tribute to Pat Metheny

Ein Meister der Flamencogitarre covert einen Großmeister der Jazzgitarre. Wenn Santiago Lara die Stücke von Pat Metheny arrangiert und interpretiert, klingen die acht Titel, die von ebenso vielen Alben und aus verschiedenen Schaffensphasen (1982-2010) Methenys stammen, so als ob sie eine Einheit wären. Aber diese Verbindung lag auch nahe, hatte doch Metheny, der in seiner Karriere schon viele Musikstile weltweit ausprobiert hat, im Jahr 2004 eine Zusammenarbeit mit dem inzwischen verstorbenen Flamenco-Sänger Enrique Morente begonnen, die auch einen gemeinsamen Titel hervorbrachte, "Find me in your dreams", der auch von Lara ausgewählt wurde. Gesungen wird er von Estrella Morente, der Tochter Enriques, die diesen wunderschönen Titel auch schon einmal mit Metheny eingespielt hatte.


Im flotten Eröffnungstitel, der leicht nach Flamenco klingt, ergänzen sich die Flöte von Jorge Pardo und Laras Gitarrenspiel kongenial. Der "Hit" des Albums ist jedoch "James" von Methenys Album "Offramp", hier mit Antonio Serrano und seiner Mundharmonika als Gast. Wie die wirkliche Fusion von Jazz und Flamenco klingt, hört man am besten bei den Titeln "Question and answer" und im schnellen "The heat of the day". Zum Gelingen dieses hörenswerten Albums haben auch die zahlreichen Gastmusiker beigetragen, u.a. der Pianist Jesús Lavilla und die Drummer Guillermo McGill und Michael Olivera.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 11/2016] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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