ed 10/2009 : caiman.de

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[kol_3] Grenzfall: Warum Kaimanhaltung?
 
Es war das verflixte Jahr 1994. Chemische Drogen, schlaflose Wochenenden und Marusha mit Over the Rainbow kamen über die Stadt. Über die Stadt, die im Krieg ihre Noblesse gänzlich eingebüßt hatte und seither im Einklang mit ihren Bewohnern ein Bild prägte, bestehend aus planlosem Städtebau und schlampigem Äußeren gepaart mit sonnigem Gemüt. 

1994 kamen die Raver aus Berlin und Frankfurt und infizierten die Städter. Und während verzweifelte Vorgesetzte versuchten, ihre halbtoten Praktikanten und Gesellinnen zu Wochenbeginn aus den Betten zu treten und zur Arbeit zu zwingen, mischten sich subversive Elemente in das alltägliche Treiben der Stadt. Den Machthabenden gelang es, fast ohne Aufsehen zu erregen, jegliche Sabotage der bestehenden und der noch viel wichtigeren vorhergesehenen Ordnung zu unterbinden und die Elemente zu eliminieren. 

Fast ohne Aufsehen! Fast, denn den Wächtern über das städtische Treiben entwischte Sammy. Es war am 10. Juli 1994 als Sammy bei Neuss in einem See untertauchte und Tage später unter Beobachtung von Zivilisten und Tierschützern gestellt wurde. In den Tagen der Jagd auf ihn hatte der kleine Kaiman Berühmtheit erlangt und so war es unmöglich, ihn einfach verschwinden zu lassen. Und Sammy lebt heute noch und er spricht erstmals über seine einstige Mission und Mitstreiter... 

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"Sieh, was aus eurer Stadt geworden ist!", sagt Sammy. Der heute 15-jährige Kaiman äugelt verstohlen nach rechts und links und bittet dann um eine Zigarette. Er inhaliert tief. "Die Stadt verliert ihren Charme. Ordnungshüter kontrollieren die Straßen, Ämter unterbinden kreativen Schaffensgeist. Die guten Kneipen müssen weichen für Einheitsbrei. Pseudo-Schick statt Individualismus. Die Kunst ist geflohen. – Die Stadt ist eigentlich hässlich, aber sie hatte Charme. Niemand kann wollen, dass diese Stadt für ein wenig Aufbretzelei die Lust an Leben, Liebe und Feiern verliert." 

"Und dich, Sammy, haben sie geschickt, den Verfall durch Verkitschung, Aufsytlen und Ordnungswahn zu unterbinden?"
"Ja. Aber ich kam nicht allein. Und wir sind noch da. Und unsere Population steigt stetig. Wir sammeln uns dort, wo wir für das menschliche Auge kaum sichtbar sind, an bewachsenen Ufern. Er wird kommen der Tag X. Mit Charme, Scheiß und Ohne heißt die Losung."

"Was meinst du mit "eure Population steigt"?"
"Ihr importiert und züchtet und gebt uns an Private, die uns in Käfigen halten oder an Hundeleinen mit zum See nehmen. – Du erinnerst dich doch an meinen Fall? – Und dann büchsen wir aus. Hier nimm, auf dem Zettel findest du einen geheimen Ort, an dem wir zusammenkommen. Schieß Fotos, aber gib den Ort niemals Preis."

Sammy taucht ab. Ich warte geschlagene 30 Minuten, doch nichts passiert. Und so mache ich mich geschwind los mit der Kamera zum geheimen Treffpunkt. Einige Pillen später, über den Regenbogen dänzend, habe ich Glück: Ein erster Kaiman erscheint, gleitet durchs Wasser, dreht sich geschwind in die Seitenlage und schnappt sich einen Piranha. Weitere folgen und ich bekomme ein paar unglaubliche Aufnahmen in den Kasten – mitten in der Stadt, deren letzte Hoffnung auf Charmeerhaltung vor meinen Augen Kreise zieht und dem Wahnstreben nach Konformismus hoffentlich bald durch Wadenbeißerei Einhalt gebieten wird.

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Text: Maria Josefa Hausmeister
Fotos:
Dirk Klaiber

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