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[art_2] Argentinien: Paukenschläge für Gerechtigkeit
 
Über eines der Jugendzentren in den von Gewalt geprägten Vorstädten Buenos Aires, das Jugendlichen einen geschützten Ort und Perspektiven für die Zukunft gibt.

"Ihr wollt etwas über unsere Rechte wissen?" Bum. "Wir sagen Euch, welche es sind." Bum. "Keine Misshandlung, keine Verachtung." Bum. "Und keine Diskriminierung." Bum. Mit jedem Bum haut Marcelo kräftig mit dem Schlägel auf die große Trommel, die er sich umgeschnallt hat. Marcelo ist ein schmaler, ernster junger Mann, hinter dessen zurückhaltender Höflichkeit ein eiserner Wille steckt. "Murga stammt von den Sklaven, die nach Südamerika verschleppt wurden. Immer zum Karneval gingen sie auf die Straße und schrien mit den Trommelschlägen ihren Protest heraus. So machen wir es auch: Wir verlangen Gerechtigkeit und prangern laut an, was bei uns alles nicht stimmt."  Marcelos Augen glänzen als er das erzählt. Dann hebt er wieder die Schlägel und ruft die anderen Besucher des Jugendzentrums zusammen. Sie proben für den nächsten Protestumzug: Vorneweg Marcelo mit der großen Trommel, hinten dran die Sänger und Tänzer.

Marcelo ist 19 Jahre alt und lebt in Florencio Varela. Es ist einer der vielen tristen Vororte des reichen Buenos Aires. Die Hauptstadt Argentiniens hat keinen Platz für die Jugendlichen aus den Vorstädten. Während ihre Eltern desillusioniert vor dem Fernseher sitzen oder sich mit Tagelöhnerjobs in der Metropole durchschlagen, sind ihre Kinder sich selber überlassen. Ohne Eltern, die ansprechbar sind, ohne familiäres Netzwerk, das diese Lücke füllen würde, ohne Lehrer, die Zeit haben, sich über die Vermittlung von Lehrstoff hinaus mit ihren Schülern zu beschäftigen, suchen die Kinder und Jugendlichen Halt. Und vermeintlichen Halt finden sie meistens bei Gleichaltrigen, mit denen zusammen sie Drogen nehmen, die die immer gleiche Tristesse ihres Lebens erträglicher machen. Marcelo hatte Glück. Er fand in seinem Viertel einen Ort, an dem er willkommen war und wo es statt Drogen etwas anderes gab um der Trostlosigkeit zu entfliehen: die Murga. "Ich hörte die Trommeln und kam näher und wusste, dass ich das lernen wollte", erinnert sich Marcelo an den Tag, an dem er das Jugendzentrum für sich entdeckte.

Solche Jugendzentren wie das Centro Particular Angelelli sind in den Vorstädten von Buenos Aires rar. Die wenigen, die es gibt, werden von Kirchen und mit Hilfe von Spenden über Hilfsorganisationen wie Brot für die Welt finanziert. Für Kinder, wie Marcelo eines war, sind diese geschützten Orte unendlich wichtig. "Hier gibt es etwas zu essen, jemand, der dir zuhört, der dir Rat gibt", zählt Marcelo auf. Ein Jugendzentrum in einer argentinischen Vorstadt hat keinen Garten mit Blumen, keinen Spielplatz und keine freundlich gestrichenen Räume. Das alles wäre natürlich schön, aber es ist verzichtbarer Luxus, der viel zu teuer wäre. Nein, das Jugendzentrum ist ein zweckmäßiger, roh errichteter und innen wie außen unverputzter Ziegelbau; drinnen von einer Neonröhre erleuchtet und draußen von einem Rasen umgeben, der so platt getreten ist, dass das Gras kaum mehr zu erkennen ist. Aber das reicht aus, um die wichtigste Aufgabe in der Jugendarbeit zu erfüllen: einen Ort zu schaffen, an dem die Jugendlichen Menschen finden, die ihnen zuhören und für sie da sind. Und das sind die Mitarbeiter von Angelelli. "Wir nehmen die Jugendlichen mit all ihren Sorgen ernst. Wir haben Zeit für sie und versuchen, Lösungen für ihre Probleme zu finden", erklärt Karina Raimondo, die Leiterin des Jugendzentrums.

Die Probleme der Jugendlichen haben fast immer mit Gewalt zu tun. "Die Kids hier in der Gegend erleben ständig Gewalt, entweder zu Hause oder auf der Straße. Selbst in der Schule gibt es viel Gewalt", erzählt Marcelo. Genau so ein Kind war Marcelo früher auch, als er mit 12 Jahren das damals gerade neu eröffnete Zentrum entdeckte. Was er als Kinder erlebt und gefühlt hat, das sagt er Fremden nicht direkt. Aber er verarbeitet es in den Murgatexten, die er selber schreibt: "Die Erwachsenen müssen respektieren." Bum. "Unser Recht zu studieren." Bum. "Und auch das zu spielen." Bum.

"Mit dem Tanz und den Trommelschlägen können wir unsere Wut hinaus schreien und ausdrücken, was wir fühlen. Wir tun das gemeinsam und erleben in diesem Moment Freundschaft und Verbundenheit", versucht Marcelo zu beschreiben, warum die Murga so wichtig ist.

Viele der Jugendlichen, die in das Jugendzentrum Angelelli kommen, sind verschlossen und verstecken sich und ihre Gefühle hinter einer Fassade der Coolness. "Zunächst einmal ist es wichtig, dass die Kids nicht alles in sich hineinfressen, sondern lernen auszudrücken, was ihnen nicht passt, was sie in ihrem Leben ändern wollen. Dafür ist Musik und Malen eine sehr gute Möglichkeit", erklärt Karina Raimondo den ersten Schritt in der Jugendarbeit. Um die Probleme in den Familien aufzuarbeiten, stehen den Jugendlichen nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Psychologen zur Seite. Um Zukunftsperspektiven zu schaffen, bietet das Zentrum wöchentliche Kurse an, in denen die Jugendlichen die Grundzüge eines Handwerks erlernen können. So bekommen sie etwas an die Hand, das ihnen helfen kann, später einmal ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Marcelo hat sich für Elektrik entschieden. Einmal pro Woche lernt er Kabel zu verlegen, Steckdosen anzuschließen und Schaltpläne zu zeichnen. In den ständig weiter wachsenden Elendsvierteln mit ihren immer neuen Häuschen sind das gefragte Fähigkeiten. Mit seinen gerade einmal 19 Jahren hat er es geschafft, so viel Geld zu sparen, dass er bei seiner Mutter ausziehen und sich in einem erst vor ein paar Monaten neu entstandenen Slum seine erste eigene Unterkunft bauen konnte: Eine zwei Mal drei Meter große Hütte aus Sperrholz und Plastikfolie. Doch das soll erst der Anfang sein – Marcelo spart eisern auf Ziegelsteine, mit denen er spätestens nächstes Jahr ein festes Haus errichten will. Sein größter Traum aber ist es, eines Tages allein von der Musik leben zu können. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht: Marcelo hat fast jedes Wochenende zusammen mit anderen Murgueros kleinere Auftritte bei Geburtstagen und Hochzeiten und verdient inzwischen mit seiner Musik ganz gut. Was wohl aus seinem Leben geworden wäre, wenn er ohne das Jugendzentrum groß geworden wäre? "Ich würde auf der Straße rumhängen, Drogen nehmen und Leute ausrauben um mehr Drogen nehmen zu können", ist Marcelo überzeugt.

Das Jugendzentrum ist auch heute noch ein sehr wichtiger Ort für Marcelo, an dem er in allen Lebenslagen Rat und Hilfe findet. Doch inzwischen gibt er an die nächste Generation Jugendlicher das weiter, was er selber bei Angelelli gelernt hat: Sich über die Musik Luft zu machen. Wer die Kids fragt, welche Aktivität des Zentrums ihnen am besten gefällt, dann ist die Antwort fast immer "Murga". Und die Murgaabende, die werden inzwischen von Marcelo geleitet. "Los geht’s, Jungs", ruft er und die Tänzer nehmen Aufstellung. Dann haut Marcelo auf die Pauke. "Ich möchte Leben, ich möchte nicht Leiden!" Bum. "Ich habe das Recht auf Gesundheit." Bum. "Und darauf glücklich zu sein!" Bum.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

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