suche



 


[art_3] Brasilien: Barbudo contra Xuxu
Brasilien vor den Präsidentschaftswahlen 2006

Man sagt, dass Geraldo Alckmin eine sehr bescheidene Person sei. Und sehr zugänglich. "Er plaudert immer mit uns, wenn er an unserem Taxistand vorbei kommt", pflichtet mein Taxifahrer, der im Zentrum von São Paulo arbeitet, bei.

Der Präsidentschaftskandidat wirkt sogar etwas schüchtern als er den Fotografen zulächelt, die ihn an diesem Sonntagmorgen begleiten. Ein starker und eisiger Wind zerrt an der Wahlkampfbühne auf der Praça dos Trabalhadores in São Bernardo do Campo im Großraum São Paulo. Wir sind lediglich zwei Kilometer von der VW-Fabrik entfernt, die in diesen Tagen von der Schließung bedroht ist. Und so liegt im Angesicht tausender Entlassungen eine gewisse Spannung über der Stadt.


"Du brauchst keine Presseakkreditierung, um an ihn ranzukommen", hatte mir einer von seinen Mitarbeitern am Vortag noch erklärt. Und wirklich, lediglich ein bisschen mit der Kamera vor den Nasen der Sicherheitsleuten gewackelt, und schon kann man die Bühne zu Alckmin hochsteigen. An seiner Seite José Serra, Kandidat für das Gouverneursamt von São Paulo. Dieser führt die Wahlumfragen deutlich an, und seine Wahl scheint mehr als garantiert.

Bei Alckmin liegt die Sache ganz anders. Etwa einen Monat vor dem ersten Wahlgang liegt er deutlich hinter Amtsträger Lula. Mehr als 30 Prozent. Sich in den zweiten Wahlgang hinüber retten, und dann auf die Wende hoffen – so lautet die Strategie des Ex-Gouverneurs von São Paulo. Xuxu-Eis nennt man Alckmin gerne, wobei Xuxu für eine geschmacklose brasilianische Frucht steht. Den Namen hat er von einem Kolumnisten der Tageszeitung "Folha de São Paulo". Vor einigen Jahren noch reagierte Alckmin gereizt, wenn man ihn so nannte. Heutzutage macht er Witze darüber.

Alckmin hatte sich den Spitznamen durch sein angeblich vollkommen fehlendes Charisma verdient. "Er ist ein Technokrat", hört man viele sagen. Sein einstudierter und improvisationsfreier Diskurs kann die etwa 5.000 Zuhörer in São Bernardo nicht wirklich mitreißen. Aber so mancher schätzt seinen schlichten Stil. "Er ist kein Schauspieler, sondern ehrlich. Und genau das brauchen wir jetzt, nach vier Jahren unter Lula", äußert sich ein Mann am Rande der Rednerbühne.

In direktem Körperkontakt mit den Massen auf den Straßen erscheint Alckmin etwas pikiert. Die ganze Zeit beißt er sich auf die Unterlippe. Und während der unter einem Baum spontan einberufenen Pressekonferenz, eingezwängt zwischen Fernsehkameras und Journalisten, wirkt er angespannt und von solch allzu großer Nähe irritiert. Alckmin ist Arzt und bedient sich asiatischer Entspannungsphilosophien, um sich im körperlichen und seelischen Gleichgewicht zu halten. Seit Jugendzeiten bekleidet er öffentliche Ämter. Doch sein Platz ist nicht inmitten der Menge, eher in einem stillen Büro.


Einen Tag vorher, im Stadtteil Bairro das Pimentas, in Guarulhos, genau am anderen Ende des Großraums São Paulo: Der zentrale Platz des Viertels ist voller Menschen, die auf Lula warten. Die Inszenierung ist perfekt. Bereits eine Stunde vor Beginn werden gemeinsam Sprechchöre und Wahlkampflieder gemeinsam einstudiert. Alle wissen, was zu tun ist.

An Lula ran zu kommen ist unmöglich. Die Sicherheitsleute unterbinden jeglichen Versuch, aus der für Journalisten eingerichteten Zone in Richtung Bühne vorzudringen. Die Akkreditierung musste Tage zuvor erfolgen, und es gibt strenge Sicherheitschecks.


Der Präsident, der Bärtige genannt, liegt ausgesprochen gut in den Umfragen. "Die Parteimitglieder, die in den Schmiergeldskandal verwickelt waren, hat Lula entfernt. Er hat die Partei und die Regierung gesäubert, und deshalb stehen wir jetzt an seiner Seite", erklärt ein junger Aktivist der Arbeiterpartei PT.

Als vor gut einem Jahr in Brasília der Korruptionsskandal explodierte, glaubte fast niemand an eine mögliche Wiederwahl Lulas. Heute hat er Rekordumfragewerte und erhält besonders gute Noten für seine Regierung. "Es wird keinen zweiten Wahlgang geben", versichert mir ein Berater Lulas auf meine Frage hin, ob zwischen erstem und zweitem Wahlgang weitere Kundgebungen stattfinden würden.

Schlanker als zuletzt und gut gelaunt, betritt Lula die Bühne unter dem Jubel der Zuschauer. Was Alckmin an Charisma fehlt, hat Lula doppelt und dreifach. Auf den Straßen und Plätzen der Peripherie der Großstädte und auf dem Land kommt Lula stets richtig gut in Schwung. Hier hatte er sich vor Jahren zum Gewerkschaftsführer und Liebling der Massen hochgearbeitet. "Gott ist mein Zeuge, dass ich es alleine euch verdanke, heute Präsident zu sein!"


Die Bewohner des Viertels Bairro das Pimentas danken dem Präsidenten seine Schmeicheleien. Und der verspricht im Gegenzug, "dass wir noch viel mehr für euch tun werden als wir schon getan haben. Dieses Viertel wird sich nicht mehr Bairro das Pimentas nennen, sondern wird nur noch das schickste Viertel von Guarulhos genannt werden." Lula habe hier im Viertel 90% aller Stimmen, versichert mir der Aktivist an meiner Seite.

Lula liebt den improvisierten Diskurs. Dabei verhaspelt er sich zwar manchmal, rettet die Situation jedoch gleich mit einem kleinen Spässchen. "Wo ich geboren wurde, im Landesinnern von Pernambuco, war es üblich, dass der Bürgermeister bei Wahlkampfveranstaltungen Gebisse verteilt hat!" Und an ein junges Mädchen gewandt, ergänzt er. "Oder kannst Du Dir vorstellen, mit Zahnlücken einen Freund angeln zu können?"


Und sogar mit seiner angeblichen Trinksucht kokettiert er: "Ich habe schon mit Schnaps gegurgelt, um Zahnschmerzen zu bekämpfen. Die Elite Brasiliens geht zum Zahnarzt, die Armen töten den Schmerz mit Schnaps." Lula ist viel dünner als noch vor einigen Monaten. Zehn Kilo soll er angeblich schon im Wahlkampf verloren haben. Zudem soll er sich noch Botox in die Stirn spritzen haben lassen. Wie dem auch sei, sein Lächeln wirkt auf jeden Fall ziemlich rund.

Aloísio Mercadante hat auch einen Bart, oder besser, einen riesigen Schnurrbart. Seit den Tagen der Parteigründung ist er einer von Lulas engsten Vertrauten. Jetzt kandidiert er für das Gouverneursamt von São Paulo. In den letzten Umfragen lag er jedoch 35% hinter José Serra. "Sein Wahlkampfmaterial ist hier im Viertel noch gar nicht eingetroffen", erklärt ein Aktivist die missliche Umfragelage, "Und nur noch einen Monat bis zu den Wahlen!"

Lula flachst mit dem Kandidaten. "Er ist kein Fan von Corinthians", spottet der Corinthians-Fan Lula, "sondern für Santos. Und er sieht immer so griesgrämig aus, aber das liegt daran, dass er einen so großen Schnurrbart hat. Ich werde ihm auftragen, das Bärtchen etwas zu stutzen. Aber er ist die beste Wahl, wenn es darum geht, São Paulo zu regieren!"


"Leute, ich muss jetzt nach Brasília zurück. Meine Frau Dona Marisa ist dort, und ich muss nach Hause. Ihr wisst ja, was einem Mann blüht, der nicht rechtzeitig nach Hause kommt." Noch ein kurzes Winken in die Menge, und während seine Wahlkampfhymne aus den Boxen schmettert, tritt Lula von der Bühne ab.

"Olé olé olá, Lula, Lula!"

Text + Fotos: Thomas Milz