caiman.de 06/2010

[kol_2] 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 2) (Teil 1)
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur

Der erste Teil des Artikels befaßte sich mit dem iberischen Erbe, den hemmenden Machtstrukturen, der lateinamerikanischen Heterogenität und anderen Faktoren, die für das ‚Hinterherhinken‘ der lateinamerikanischen Regionalkultur im interregionalen Vergleich verantwortlich sind. Im zweiten Teil geht es nun um die institutionellen Strukturen, die technische Kultur und den Kulturtransfer, die auch Hemmschuh für eine Modernisierung sein können. Schließlich wird nach den Charakteristika der Modernisierung angesichts dieser Hemmnisse gefragt und es werden mögliche Wege der Modernisierung aufgezeigt.

Dr. Eßer, Klaus
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
Berichte und Gutachten Nr. 4/1998, 114 S.
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Berlin 1998

Unfertiger Nationalstaat
Als sechster Hemmfaktor bei der Modernisierung der lateinamerikanischen Staaten erweist sich der unfertige Nationalstaat. In Lateinamerika entstand kein Nationalstaat, der eine verbindende und verbindliche Kulturerfahrung darstellt. Zum einen fehlte eine politische und wirtschaftliche Führungsgruppe mit homogenisierendem und modernisierungsorientiertem Gestaltungsinteresse. Zum andern blieben die Entwürfe einer bürgerlichen Gegenwelt durch die reformistischen Gruppen schwach. Teile der Intelligenz setzten auf revolutionäre Entwürfe; revolutionäre Kräfte gewannen jedoch außer auf Kuba nur vorübergehend an Bedeutung. Während der Nationalstaat in den heutigen Industrieländern als Triebkraft gesellschaftlicher Mobilisierung und technisch-industrieller Dynamik wirkte, blieb er in Lateinamerika schwach und ineffektiv. Er vermochte, da entschiedene modernisierungsorientierte Führungsgruppen fehlten, der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt keine eindeutige Richtung zu geben. Eine Folge ist ein Mangel an Synchronisation, der in vielen gesellschaftlichen Sphären und zwischen diesen zu beobachten ist. In Lateinamerika ist die kollektive Identität, die der Nationalstaat stiftet, wenig ausgeprägt. Sie ist jedoch eine zentrale Bedingung der institutionellen, wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Dynamik sowie der Sicherung der liberalen Option und der demokratischen Grundrechte. Mangels gemeinsamer Interessen und Ziele erwies sich bisher ein gemeinsames Handeln im Nationalstaat als nicht möglich. Da keine Gruppierung ein 'nationales Projekt' durchsetzte, blieben die nationalstaatlichen Handlungsspielräume nach innen und außen unerschlossen. Vor allem deswegen standen die Länder der Region in der Regel für interne und externe Einflussnahmen offen.

Ist aber unter den Bedingungen der Markt- und Weltmarktorientierung der Weg zu Bürgertum und Bürgergesellschaften, zu einer Gesellschaft als integrierter, relativ autonomer und demokratischer Wissensgemeinschaft mit kollektiver Identität, nachholbar? Kann ein Nationalstaat als Träger der Souveränität und Wegbereiter zu einem ausdifferenzierten Wirtschaftssystem und einer modernen Gesellschaft aufgebaut werden? Oder setzt sich infolge der Globalisierung weltweit eine Dekomposition der nationalen Gesellschaften durch? Eine solche würde, zumal sich eine globale Vergesellschaftung nicht einmal abzeichnet, in den fragmentierten Gesellschaften Lateinamerikas bald zu einer chaotischen sozialen und politischen Zuspitzung führen.

Der gegenwärtig beliebten Auflösung des Nationalstaates im globalen und lokalen Dunst wird hier das Konzept der Mobilisierung der räumlichen und funktionalen Interventionsebenen, auf die der Nationalstaat Einfluss zu nehmen vermag, entgegengesetzt. Freilich wird der Weg vom zentralistischen, überbürokratisierten, wegen Beschäftigungs- und Verstaatlichungspolitiken quantitativ aufgeblähten, zugleich fragmentierten, partikularistischen Interessen offen stehenden Staat hin zu einem starken und effektiven Nationalstaat in den Ländern Lateinamerikas nicht kurz sein. Der relativ effektive Staat Chiles vermag allerdings die Preisentwicklung, den Wechselkurs, Zinsen, Beschäftigung und die Lage der armen Bevölkerung durchaus zu beeinflussen. Er modernisiert die Institutionen, z.B. das Rechtswesen, und baut moderne mesoökonomische Institutionen, z.B. CORFO und ProChile, die der Wirtschaftsförderung dienen, auf. Er treibt die Systemintegration voran; für eine 'systemische Wettbewerbsfähigkeit' allerdings sind Institutionen und Unternehmen zu schwach.

Unterforderte Unternehmen, unentfaltete technische Kultur
Die IIS räumte den vermögenden Schichten und den Einwanderergruppen anfangs erhebliche Chancen wirtschaftlicher Differenzierung ein. Mangels marktorientierter Anreize wuchsen jedoch sogar in den relativ fortgeschrittenen großen Ländern der Region nur wenige produktivitätsorientierte Unternehmen heran; noch geringer war die Zahl innovativer und wettbewerbsfähiger lokaler Unternehmen. Der Kapitalismus in Lateinamerika war nicht systematisch angelegt und blieb ohne die ihn anderswo auszeichnenden Antriebskräfte, damit ohne Expansions- und Zukunftsorientierung. Entschiedene Anstrengungen zur Entfaltung des nationalen Wettbewerbsvorteils und der regionalen Standortvorteile blieben aus. Beispiele sind die Vernachlässigung der nationalökonomischen Erziehung und der traditionell ebenfalls schwachen technischen Kultur. Auch aus diesen Gründen kam es zu einer lediglich quantitativen, bald an Dynamik verlierenden industriellen Expansion, die sich zunehmend ungünstig auf die ohnehin schwache Tendenz gesellschaftlicher Integration auswirkte.

Mit der Marktorientierung tritt ein grundsätzlicher Wandel der Rolle der Unternehmen ein. Bisher durchlaufen allerdings kaum mehr als 15 % der Unternehmen, immerhin die größeren, entscheidende Modernisierungsprozesse. Nur langsam verstärkt sich die Tendenz zu einer intensiveren Nutzung des enormen Rationalisierungspotentials der Unternehmen, zu Kundennähe, Marktkenntnis und Export sowie zu einem funktionalen und lokalen Unternehmensverbund. Der Druck der Unternehmen auf den Staat, sich zu rationalisieren, den nationalen Wettbewerbsvorteil auszubauen und die regionale Standortqualität zu erhöhen, ist bisher gering. Der Aufbau eines dichten Netzes technologie-, produktions- und exportbezogener kommerzieller Dienstleistungsunternehmen sowie öffentlicher Wirtschaftsförderung steht erst am Anfang.

Während der Schumpetersche Wettbewerb als Innovationswettlauf in den Industrieländern sogar bei neoliberaler Makropolitik ein Denken und Handeln in industriepolitischen Zusammenhängen zur Folge hat, bestehen in Lateinamerika eine Reihe von Charakteristika weiter, die schon bisher die Wirtschaft prägten: Die weltmarktbezogene Spezialisierung im Bereich von Gütern mit niedriger Wertschöpfung verstärkt sich. Es bleibt bei der nachhinkenden lokalen Reproduktion von Industriemustern, obwohl der Nachvollzug, insbesondere im Falle einiger Branchen mit starker Präsenz multinationaler Konzerne, schneller als früher stattfindet. Auch die Konsummuster werden zügiger übernommen. Die Spar- und die Investitionsquote bleiben, von Ausnahmen abgesehen, gering. Die Humankapitalausstattung und die technologische Dimension werden weiterhin vernachlässigt. Auch fehlen Anreizsysteme, um die Übertragung, Diffusion und Nutzung neuer Technologien zu intensivieren. Die industrielle Dynamik nimmt vor allem in den beiden neueren regionalen Integrationsgruppen (NAFTA, MERCOSUR) zu.

Gewöhnung an Kulturtransfer
Gemeinsam ist den Gesellschaften der Region, dass sie von Anfang an, in den einzelnen Entfaltungsphasen unterschiedlich intensiv, neuerdings jedoch umfassend, einem Kulturtransfer ausgesetzt sind, der sich auf Artefakte sowie Denk- und Handlungsmuster erstreckt. Diese Feststellung verlangt eine Erläuterung:
  1. Die Vorstellung einer selbstproduktiven, homogenen Kultur ist widerlegt. Kulturen durchdringen sich gegenseitig: Kultur ist eine Geschichte von Aneignungen. Gesellschaften verbinden materielle Artefakte und symbolische Gebilde unterschiedlicher Herkunft miteinander und integrieren sie in ihre Lebenskonzepte. Alle National- und Regionalkulturen weisen gegenseitige und auch einseitige Einflüsse von außen her auf.
  2. Es kommt darauf an, wie Außeneinflüsse in das eigene kulturelle Profil einbezogen werden. Gibt es ein eigenständiges Kulturprofil, das durch eine starke wirtschaftliche Basis und Dynamik sowie von einer integrierten, zumindest in zentralen Bereichen aktiven Gesellschaft getragen wird, stellen die Verarbeitung und Einordnung des transferierten Kulturgutes kaum ein Problem dar, wie sich in Japan und heute auch in anderen Gesellschaften Asiens zeigt. Dort besitzen Fiktionen (Werte, Geschichtsbilder, Nation, soziale Ideen) eine hohe Verbindlichkeit; sie ermöglichen eine Abgrenzung der eigenen Kultur von fremden Kulturen und Einflüssen. Staaten dieses Typs gelingt, sofern sich ein entsprechender politischer Wille durchsetzt, ein gerichteter Kulturtransfer zwecks industriell-technologischen Aufholens und des Aufbaus moderner Gesellschaften. Ihr spezifisches Kulturprofil drückt einen jeweils neuen Verbund zwischen Lokalem und Fremdem aus. Die kulturelle Synthesefähigkeit erlaubt eine Verarbeitung des Know-how-Transfers im nationalen Interesse.
  3. Der lateinamerikanische Kulturkreis weist seit fünf Jahrhunderten mannigfaltige Außeneinflüsse auf; er überlappt sich vielfältig mit dem europäischen und dem angloamerikanischen Kulturkreis. Von ihm gehen seit den zwanziger Jahren Einflüsse, vor allem der Literatur und Malerei, auf die intellektuelle Kultur anderer Regionen aus. Weil in Lateinamerika angenommen wurde, der Kulturtransfer sei dauerhaft einseitig und übermächtig, setzte seit Ende des letzten Jahrhunderts ein Selbstfindungsprozess (z.B. chilenidad, América Latina) ein. Dieser richtete sich einseitig auf die Abwehr von Außeneinflüssen, nicht jedoch auf eine neue Synthese, zum einen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zum andern zwischen der technischen und der intellektuellen Kultur. Wegen der Erfahrungen mit Kolonialismus und Imperialismus schienen die innovativen Kulturen des Nordens nicht nachahmenswert zu sein; daher wurde auch die eigene Fähigkeit zu Kulturtransfer vernachlässigt.
Die Gewöhnung an Kulturtransfer führte, so paradox dies klingt, zu Lernimmunität, und zwar vor allem im Hinblick auf die institutionelle und technische Kultur der Industrieländer. Bei Einreihung in die Gegenexpansion zum Kapitalismus der Industrieländer schien ein eigenständiger Zweiter oder sogar ein Dritter Weg offen zu stehen, ein Weg an den Industrieländern vorbei, kein Einholen, sondern ein Überholen, keine neue Synthese, sondern eine Alternative. Die Art, wie diese Ziele in Lateinamerika angegangen wurden, ist charakteristisch. Zum einen ermöglichten immer neue politische Kompromisse zwischen traditionellen und proindustriellen Gruppierungen nur den Verbleib im Kapitalismus, allerdings mit dem Staat als Motor, während der Markt an Bedeutung verlor. Zum andern starrte die Intelligenz auf externe Faktoren als vermeintliche Ursachen nationaler und regionaler Unterentwicklung, statt sich auf eine eigenständige Entfaltung der institutionellen und technischen Kultur als Basis gesellschaftlicher Modernisierung zu konzentrieren. Endogene Faktoren, spezifische Charakteristika der lateinamerikanischen Regionalkultur, bewirkten, dass der enge Rahmen der jeweiligen Modernisierungsmöglichkeiten nicht genau ermessen, sondern übersehen wurde. Selbstfindung ohne gerichteten Know-how-Transfer, ohne neue Synthese, ohne einen starken und effektiven Nationalstaat und eine systematische kapitalistische Produktion führt, wie sich auch in Afrika und im Nahen Osten zeigt, in die Irre. Die eigenen Probleme bleiben ungelöst, während sich der industriell-technologische Rückstand zu den modernen Gesellschaften unaufhörlich vergrößert.

Modernisierungsschübe statt anhaltender Modernisierungsdynamik
Die acht Komplexe von Modernisierungshemmnissen sind für die starke Tendenz der Gesellschaften Lateinamerikas verantwortlich, sich in der Richtung, die in ihren überkommenen Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie eingeübten Denk- und Handlungsmustern vorgegeben ist, zu entfalten und zu wandeln. Kontinuitätsbrüche, qualitative Sprünge, blieben aus; es kam zu einer ruck- und stückweisen Modernisierung.

Die Modernisierungsschübe beleben Wirtschaft und Gesellschaft eine Zeitlang von innen und/oder außen her, erweisen sich jedoch als unzureichend, um das Wirtschaftswachstum dauerhaft zu dynamisieren und die Erwerbsbevölkerung wesentlich auszuweiten. Sie erlauben es nicht, einem weiteren Rückfall gegenüber Europa, Nordamerika und Ostasien zu begegnen. Der Kulturtransfer vermag wenig, solange die traditionellen Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Denk- und Handlungsmuster übertüncht, nicht aber beseitigt werden. Wird einseitig auf eigenständige Ansätze (z.B. Industrialisierung) abgestellt, wie während der industriellen Importsubstitution (IIS), ist bald deutlich, dass die lokale Fähigkeit, geeignete Organisations- und Steuerungsmuster zu entwerfen, nicht ausreicht. Ergebnis eines solchen Ausweichens vor dem Kapitalismus der Industrieländer, wie begründet dieses auch sein mag, ist ein industrielles Nachhinken, das die traditionellen politischen Kräfte stärkt, und so dauerhafte Machtverschiebungen zugunsten der proindustriellen Gruppierungen verhindert.

Der neue Modernisierungsschub in Lateinamerika macht deutlich, dass sich dort im Zeitraum 1930 - 1990 ein enormer Rationalisierungsrückstand im Vergleich zu den Industrieländern aufbaute. Dies gilt für Politiken, Institutionen und Instrumente, den Staat und die intermediären Organisationen, die Unternehmensstruktur oder die technologische Kompetenz. Zugleich aber zeigt die einseitige Marktorientierung, dass Kulturtransfer, zunächst der neoliberalen Makropolitik, zunehmend auch anderer Elemente, einen Rationalisierungsschub, nicht aber einen dynamischen Modernisierungsprozess ermöglicht. Mit dem Wegfall der Einbindung von Bevölkerungssegmenten in reformistische und revolutionäre Gruppen, der Schwächung der politischen Parteien und Gewerkschaften sowie der radikalen Deregulierung, nehmen in Lateinamerika die Kriminalität sowie die Staatsausgaben, um diese zu bekämpfen, stark zu. Die Ausgaben für Verbrechensbekämpfung - die neue Korruption wird noch kaum bekämpft - steigen in immer mehr Ländern schneller als jene für die sozialen Dienste. Soziale Unruhen werden auch von den neoliberalen Kräften erwartet.

Die starke Tendenz zu modernisierungshemmender Kontinuität in Lateinamerika resultierte aus intern verursachten Hemmnissen, welche ursprünglich extern verursachte Hemmnisse verstärkten. Die Insuffizienzen und Deformationen sind keineswegs nur aufgezwungene Folgen des Kolonialisierungsprozesses. Sie ergeben sich, dies wird in diesem Jahrhundert besonders deutlich, aus eigenständigen Konzeptionen (z.B. der dirigistischen IIS), die den wachsenden Rückstand zu den Industrieländern vernachlässigten sowie aus schwer nachvollziehbaren wirtschafts- und sozialpolitischen Fehlleistungen.

In Lateinamerika zeigt sich erneut, dass es keinen Weg an der Moderne vorbei gibt. Allerdings geht es nicht um Nachahmung und Nachholen, sondern um eine eigenständige Modernisierungsdynamik. Letztere verlangt einen politischen Willen, sie durchzusetzen, die Überwindung der akkumulierten Modernisierungshemmnisse, die Mobilisierung der Gesellschaft über den Nationalstaat sowie eine ausgeprägte Kraft zur Synthese zwischen den eigenen und den transferierten Kulturgütern. Erst diese Synthese ermöglicht die Mobilisierung des endogenen Potentials, indem die Erfahrungen der heutigen Industrieländer genutzt werden und der eigene Modernisierungsprozess durch ein Einklinken in deren Modernisierungsdiskussion befruchtet wird. Ein großer Aufbruch zeichnet sich in der Region nicht ab.

Gesellschaften sind nicht dauerhaft nur von außen oder innen her geprägt. Sie sind weder Marionetten ihrer Geschichte und Kultur, noch lediglich Exekutivausschüsse des Großkapitals oder Vollstrecker externer Interessen oder gar der Weltmarktbedingungen, wie Vereinfacher meinen. Die Gesellschaften Lateinamerikas müssen - wie andere Gesellschaften auch - hauptsächlich aus eigener Kraft mit internen und externen Anforderungen zurechtkommen. Nach dem Konzept der endogenen Entwicklung stehen Gemeinden, Regionen, Nationalstaaten und regionale Integrationsgruppen vor der Aufgabe, die jeweils eigenen Reserven zu erkennen und die latent vorhandenen Potentiale auszuschöpfen. Alle Gesellschaften stehen im Laufe ihres Modernisierungsprozesses vor ähnlichen Aufgaben. Sie müssen sich mangels Alternative am jeweiligen Grobmuster orientieren, ihren Modernisierungspfad jedoch selbst suchen, Hemmnisse abbauen und ein spezielles, an den eigenen Gegebenheiten und externen Anforderungen orientiertes Profil ausprägen. Ungleichgewichte in und zwischen den Gesellschaften sind, weil der Modernisierungsprozess komplex und schwierig ist, kaum zu vermeiden. Die Tendenz zu weltweiter Uniformierung erstreckt sich auf wenige, überwiegend oberflächliche Merkmale. Weitaus stärker ist die Tendenz zu weltweiter Einheit in Vielfalt.

Die Modernisierungshemmnisse und -schübe verdeutlichen, dass die Gemeinsamkeiten der Länder Lateinamerikas so stark sind, dass von einem regionalen Kulturmuster gesprochen werden kann. Dies schließt nicht aus, dass ihre Geschichte und ihr Profil recht unterschiedlich ausfallen. Wie schon während der IIS wird sich die Differenzierung zwischen den Modernisierungsniveaus, der einzelnen Länder fortsetzen.

Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass deren Dynamik noch unterschiedlicher als schon bisher ausfallen wird. Eine Ursache unterschiedlicher Modernisierungsdynamik liegt in der Anpassung der Wirtschaftspolitik an nationale Gegebenheiten. Eine weitere Ursache ergibt sich aus der Intensität der Orientierung am Grobmuster der Industrieländer. Hinzu kommt die unterschiedliche Kraft zur Synthese.

Die Unentschiedenheit nach innen zieht eine Unentschlossenheit nach außen nach sich: Die militärisch ausgetragenen Konflikte in der Region pflegen sich aus innenpolitischen Problemen sowie Ansprüchen auf den Grenzverlauf zu ergeben. Letztere werden nicht selten durch ausländische Gesellschaften mit Rohstoffinteressen forciert. Die Konflikte resultieren also nicht aus einer fortschreitenden nationalstaatlichen Affirmation. Mexiko verlor bald nach Erringung seiner politischen Unabhängigkeit einen großen Teil seines Territoriums an die USA, nahm jedoch Guatemala Land ab. Bolivien verzichtete unter Druck Brasiliens auf das Acre-Gebiet, unter dem Druck Chiles auf seinen Zugang zum Meer. Paraguay verlor nach dem Krieg mit der Dreier-Allianz (Argentinien, Brasilien, Uruguay) bedeutende Teile seines Gebietes, setzte jedoch im Chaco-Krieg gegen Bolivien seine Ansprüche durch. Für zahlreiche militärische und noch mehr politische Interventionen, insbesondere in zentralamerikanischen und karibischen Ländern (Panama, Dominikanische Republik, Haiti, Grenada usw.), sind die USA verantwortlich. Diese Interventionen dienten der Stabilisierung; die Bedingungen für Modernisierung verbesserten sie nicht.

Von einem pragmatischen Wirtschaftsnationalismus, wie er in Industrie- und Industrialisierungsländern üblich ist, sind die Staaten Lateinamerikas weit entfernt. Zumindest solange sie auf hohe Kapitalimporte angewiesen sind, um Stabilität und Wachstum zu sichern, bleiben sie Preis- und Konditionennehmer. Vielleicht wachsen im Rahmen der Marktorientierung wettbewerbsstarke Unternehmen und politische Akteure heran, die nationale wirtschaftliche und politische Interessen nach außen artikulieren. Gegen die These vom "Aufeinanderprall der Kulturen" sprechen nicht nur die Schwäche und Ineffektivität der Nationalstaaten, sondern auch andere Faktoren: die Eingliederung Mexikos in die US-dominierte NAFTA, die handelspolitische Anbindung des zentralamerikanisch-karibischen Raums durch die ‚Caribbean Basin Initiative‘ (CBI) sowie die internen Probleme des im Aufbau befindlichen MERCOSUR. Der strategischen Handelspolitik der USA in den neunziger Jahren haben die Länder Lateinamerikas wenig entgegenzusetzen. Die Zuwachsraten des jeweils bilateralen Handels liegen auf Seiten der USA deutlich höher.

Kontinuitätsbruch durch Reformprozess oder Krise?
Die Industriegesellschaft beruht auf der Industrieökonomie sowie modernen Denk- und Handlungssystemen (Naturwissenschaften, Technik, Recht, Ideologie, Philosophie usw.). Der ökonomische Rationalisierungsprozess Industrieökonomie prägt diese Systeme und wird von ihnen geprägt. Die Wechselwirkung ist fruchtbar, weil die einzelnen Teilsysteme der Industriegesellschaft integriert, relativ autonom, jedoch aufeinander abgestimmt sind. Die Einordnung der Teilsysteme in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, ihre Separierung voneinander sowie ihre Kommunikation miteinander ergeben sich aus einem langen experimentellen Prozess. Im Verlaufe dieses Prozesses prägt eine jede Industriegesellschaft ihr spezielles nationalstaatliches Profil aus. Die Industriegesellschaften umfassen eigene und fremde Kulturelemente, z.B. transferierte Denkansätze, die häufig kaum noch als ursprünglich fremde Ansätze erkennbar sind. Diese Gesellschaften befruchten einander. Gerade ihr spezifisches Profil ermöglicht es, Art und Qualität des Kulturtransfers zu beeinflussen. Die transferierten Kulturgüter werden in den eigenen Lernprozess eingepasst; hierbei wird, soweit dies erforderlich zu sein scheint, das eigene Profil an neue soziale, technisch-organisatorische und weltwirtschaftliche Anforderungen angepasst. Die Veränderung des Arrangements vor Ort erweist sich manchmal als schwierig und langwierig. In der Regel werden jedoch starr gewordene Strukturen in einigen Jahren überwunden. Solange es nationalstaatlichen Akteuren gelingt, das kulturelle Profil in seinem Kern zu integrieren, können auch hohe Anforderungen, etwa die der Informationsökonomie und Globalisierung, bewältigt werden. Nur im Ausnahmefall kommt es zu einem Abstieg von Industriegesellschaften.

Heute expandieren die Kräfte, welche die Moderne tragen, weltweit. Die Fähigkeit rückständiger Gesellschaften, ihnen auszuweichen, hat sich drastisch verringert. Dies gilt für Industrie und Technologie oder Organisations- und Steuerungsformen. Der Wille und die Fähigkeit, alternative Modernisierungsmuster zu entwerfen und durchzusetzen, haben abgenommen. Insbesondere im industriell-technologischen Bereich ist ein eigenständiger Entwurf kaum mehr möglich. Die rückständigen Gesellschaften werden in der Regel auch nicht vor den Industriegesellschaften gesellschaftlich breitenwirksame und ökoeffiziente Wirtschafts- und Lebensweisen besitzen. Die Zahl eigenständiger Modernisierungsprofile jedoch nimmt weltweit zu.

Die Gesellschaften Lateinamerikas vermochten sich lange Zeit dem Wechselspiel ‚Grobmuster - spezielles Profil‘ zu entziehen, unternahmen aber wenig, um ihm zu entkommen. Die neoliberale Makropolitik hat das verfestigte Muster einseitiger Binnenorientierung aufgebrochen. Das Profil der Unternehmen, des Staates, der intermediären Organisationen, wachsender Segmente der Volkswirtschaft und der Gesellschaft insgesamt beginnt sich zu verändern. Heute betonen auch die neoliberalen Kräfte, dass der bisherige technokratisch-wirtschaftspolitische Ansatz keineswegs ausreicht. Sie fordern einen effektiven Staat sowie Rechts-, Erziehungs- und Finanzsektorreformen. Der Reformprozess kommt jedoch nur langsam voran. Das Wirtschaftswachstum fällt niedrig aus; das Starren auf die Zuwachsraten pro Jahr verstellt den Blick für niedrige Spar- und Investitionsquoten, Abhängigkeit von hohem Kapitalzufluss und wachsende Außenschulden, die traditionelle Exportstruktur und die geringe Zahl sich modernisierender Unternehmen. Neue und zusätzliche Arbeitsplätze werden kaum geschaffen. Die Einkommenskonzentration nimmt weiter zu.

Die wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte sind überwiegend schwach. Ihnen fehlen Visionen und Konzepte industriell-technologischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Die Fähigkeit, moderne Organisations- und Steuerungsmuster zu etablieren, ist in der Regel gering. Die traditionellen Modernisierungshemmnisse, z.B. der Agrarstrukturen, treten wieder deutlicher hervor. Die Modernisierung wird nicht, wie in manchen Ländern Asiens, als eine außerordentliche gesellschaftliche Herausforderung empfunden, sondern weitgehend dem Markt überlassen.

Die Gesellschaften Lateinamerikas sind jedoch weitaus mehr als die Industrieländer gezwungen, von anderen zu lernen. Ihr Modernisierungsprozess ist auf die Übertragung von Organisations- und Steuerungskonzepten sowie institutionellem und technischem Know-how angewiesen. Allein der Transfer garantiert freilich keinen Erfolg. Es kommt auf die Fähigkeit an, die eigene Tradition mit den externen Modernisierungsimpulsen zu verbinden. Bisher sind in Lateinamerika die Kraft und Fähigkeit zu einer neuen kulturellen Synthese, zu eigenständiger Such-, Selektions-, Imitations-, Verarbeitungs- und Nutzungsfähigkeit schwach. Insbesondere in armen kleinen Ländern der Region wird der Kulturtransfer allein als Garantie neuer Dynamik angesehen; daher ist die Überschwemmung durch externes Know-how unvermeidbar. In anderen Ländern, vor allem in Chile, gibt es eine relativ hohe institutionelle öffentlich-private Transformationsfähigkeit, die in einzelnen Bereichen einen gerichteten Such- und Transferprozess ermöglicht. Auch dort ist allerdings die Fähigkeit der meisten Unternehmen zu imitativer Innovation und schneller Umsetzung bisher gering. Geschwindigkeit und Tiefe des Reformprozesses und die Fähigkeit, einen Kulturtransfer aus eigener Kraft einzuleiten, entscheiden darüber, ob es gelingt, die Modernisierungshemmnisse der Regionalkultur, das Fortbestehen traditioneller Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Denk- und Handlungsmuster, teils abzubauen, teils zu überspielen. Es ist ungewiss, ob nicht doch ein anhaltender, sich vertiefender Reformprozess schließlich zu einem qualitativen Sprung führen wird. Die Alternative ist eine Krise, die einen wirtschafts- und machtpolitischen Kontinuitätsbruch auslöst, der dann vielleicht eine dynamische Modernisierung ermöglicht. Eine solche Krise ist in einer Reihe von kleinen und mittelgroßen Ländern fast unvermeidbar.

Die Moderne - die bekannten Muster des Nationalstaates und systematischer kapitalistischer Produktion - kann nicht einfach nachgeahmt werden. Es gibt keine nachholende Modernisierung. Ein jeder Aufholprozess weist einen eigenen Wachstumspfad, ein eigenständiges Muster und unterschiedliche Sequenzen auf. Ein jeder ist auf die Ausprägung eines speziellen Profils gerichtet, das Eigenes und Fremdes miteinander verbindet. Die globale Moderne beruht auf einer Vielfalt von Profilen und einer Pluralität der Kulturen. Modernisierungsprozesse erfordern, um dynamisch zu verlaufen, effektive Akteure, die diese wollen. Sie entwerfen Zukunftsbilder und bauen Modernisierungshemmnisse ab. Sie erschließen nationalstaatliche und unternehmerische Gestaltungsspielräume, stoßen z.B. heimische Wissens- und Expertensysteme an. Sie setzen auf eine Dynamik von innen her, die durch die Dynamik des Kulturtransfers und der Weltwirtschaft ergänzt wird. Der Kunst des Kulturtransfers kommt wesentliche Bedeutung zu. Je gerichteter er ausfällt, desto eher wird eine neue Synthese möglich, wächst damit das Potential zu eigenständiger Modernisierung bis hin zu einem modernen wirtschaftlichen und nationalstaatlichen Profil.

Ein Kernproblem in den Gesellschaften Lateinamerikas sind die weichen Faktoren: weiche Steuerungsmedien wie der Dialog zwischen den Akteuren, um den erforderlichen "minimalen prozeduralen Konsens" (J. Habermas) herzustellen, die Ausbildung eines motivierenden nationalstaatlichen Zusammengehörigkeitsgefühls, die Verfeinerung von Anreizsystemen - auch unter ökologischen Gesichtspunkten -, ein pragmatischer Wirtschaftsnationalismus, der durchsetzbar ist, Humankapitalbildung, Innovation, technologische Kompetenz, Qualität, Marketing oder software. Sie zu transferieren, ist teils schwierig, teils überhaupt nicht möglich.

Ziel muss eine Lerngemeinschaft sein; Lernen bindet die Individuen in die Gesellschaft ein; Gesellschaften weisen nur als Lerngemeinschaften eine dauerhaft hohe technisch-organisatorisch-soziale Dynamik auf. Nur Lerngemeinschaften können das lateinamerikanische Problem 'passiver Modernisierung' überwinden, also die modernen Erwartungshaltungen und Konsummuster mit einer dynamischen Modernisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt verknüpfen. Es scheint in den großen und einigen anderen Ländern Lateinamerikas durchaus möglich zu sein, ausreichende Bedingungen für industriell-technologisches Aufholen und eine moderne Gesellschaft zu schaffen. Freilich reicht der neue Modernisierungsschub nicht aus, um einen sich verbreiternden und vertiefenden Modernisierungsprozess in Gang zu setzen. Eine klare, eindeutige und dauerhafte Festlegung auf einen solchen Prozess ist nicht nur ein technokratisches Problem. Sie verlangt sozialen und politischen Druck von unten her, etwa der landlosen Bauern in Brasilien oder Paraguay, der die Oberschichten und Politiker zu neuen gesellschaftlichen Kompromissen zwingt. Sie erfordert in einigen der kleinen und mittelgroßen Gesellschaften wohl auch anhaltend starke Impulse von außen her, sei es aus der Region selbst, sei es aus den Industrieländern. Im Kern jedoch geht es darum, dass die Gesellschaften der Region selbst ein realistisches Konzept für ihren Modernisierungsprozess, zum Beispiel eine tragfähige soziale Idee und entsprechende Sozialpolitiken, entwerfen und umsetzen. Dies verlangt eine wachsende Zahl neuer Akteure, eine systemische Sicht und Schritte in Richtung auf eine effektive Systemsteuerung.

Text + Foto: Dr. Klaus Eßer

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