caiman.de 06/2009

[kol_2] Helden Brasiliens: Im Bus von Marabá nach Rio de Janeiro
 
Auf der Busfahrt von Marabá nach Rio de Janeiro  werden circa hundertzwanzig Liter Blut vergossen, um die fünfzig Menschen umgebracht und mindestens dreißig Autos zu Schrott gefahren. Kein Wunder, denn um zweiundfünfzig Stunden rumzukriegen, braucht es eine Menge Videos. Und scheinbar gilt die Regel, je wüster es zugeht, desto schneller vergeht die Zeit.

Zweiundvierzig Stunden dauere die Fahrt, informiert die freundliche Dame am Ticketschalter in Marabá. Tatsächlich werden daraus aber zweiundfünfzig. Doch was sind schon zehn Stunden, wenn man fünf Bundesstaaten durchquert und dabei eine Strecke von dreitausend Kilometer zurücklegt.

Busbahnhof in Marabá, einer 800 Kilometer südlich der Amazonas Mündung gelegenen Stadt im  Bundesstaat Pará, kurz vor drei Uhr nachmittags, der geplanten Abfahrtszeit. Um das Gepäckabteil des Busses hat sich ein hektisches Menschenknäuel gebildet. Berge von Reisetaschen, Tüten, Pappkartons sollen untergebracht, die Familie verabschiedet, plärrende Kinder getröstet werden. In all dem Durcheinander sitzen zwei Schwestern mit zusammen vier Kindern und einem Ehemann bzw. Schwager recht kleinlaut auf einer Bank rum und schauen dem Treiben eher sehnsüchtig zu. Es ist die Familie Santos, die den Bus nach Rio nehmen wollte, aber keine Tickets vorab gekauft hatte - ausverkauft, der Bus ist voll. Erst am nächsten Tag gibt es wieder freie Plätze, doch zum Glück fährt das Unternehmen "Transbrasiliana" die Strecke  täglich. Trotzdem müssen sie eine Nacht in Marabá verbringen, sie kommen aus dem  zweihundertsiebzig Kilometer entfernten Tucurui und wollen in Rio ihr Glück versuchen. Ein Cousin arbeitet bereits dort, bei dem können sie erst mal unterkommen und vielleicht kann er ja sogar bei der Arbeitssuche helfen. Doch jetzt müssen sie erst mal eine Unterkunft für die Nacht in Marabá finden, ein Hotel würde ein arges Loch in das schmale Reisebudget reißen, man erwägt, im Busbahnhof zu übernachten. Aber... gab es nicht die ehemalige Nachbarin, die vor drei Jahren nach Marabá gezogen ist? Ob man es versuchen soll?

Familie Santos

Wie die Familie Santos ihr erstes und bestimmt nicht letztes Problem gelöst hat, weiß ich nicht, denn der Busfahrer hupt bereits ungeduldig, er will pünktlich los, Möglichkeiten für Verspätungen gibt es unterwegs noch genug.

Also lösen sich auch die letzten Reisenden aus den Umarmungen und steigen ein, die meisten gut gerüstet mit Knabbereien, Keksen, süßer Limo, Schokolade, sowie Kissen und warmen Decken. Denn die Überlandbusse in Brasilien sind rollende Eisschränke, ihre Fenster lassen sich meistens nicht öffnen und der aufkommende Mief wird dann mit geballtem Einsatz der Klimaanlage bekämpft.

Doch auch wer nicht an seine persönliche Verpflegung gedacht hat, muss nicht hungern, schließlich hält der Bus ja regelmäßig an den Raststätten, die die Bundesstraßen säumen und die Namen tragen wie "Juwel der Bundesstraße" oder "Fernfahrers Heimat". Und an den Busbahnhöfen stehen immer eifrige Verkäufer bereit, die ihre Spezialitäten an den Mann bringen wollen.

Pedro Arruda

Der erste dieser Verkäufer steigt schon an der nächsten Ampel ein, der Busfahrer scheint das in Ordnung zu finden. Pedro Arruda verkauft geröstete Maiskolben, die so lecker riechen, dass er gleich die Hälfte davon los wird.

Er erzählt, dass er den ganzen Tag in Busbahnhofsnähe pendelt und von dem Maiskolbenverkauf seine vierköpfige Familie ernährt, seine Frau geht gelegentlich putzen.

Bevor der Bus die Außenbezirke verlässt, ist Pedro schon wieder ausgestiegen. Jetzt rumpelt der Bus die Bundesstraße Richtung Süden, das Ergebnis jahrzehntelanger Abholzung säumt den Weg. Einige verkohlte Baumstümpfe, karge Steppenlandschaft und immer wieder Viehherden. Brasilien ist schließlich einer der größten Rindfleischexporteure der Welt, auf einen Brasilianer kommt mindestens ein Rind und für ein Rindvieh wird wiederum mindestens ein Hektar Weideland benötigt.

Ab und zu kann man am Horizont  noch ein paar Reste vom Regenwald erkennen. Dazwischen ein paar kleine Siedlungen, die sich um die Kirche oder die Dorfkneipe  scharren. Ein wenig wird angebaut, Mais, Bohnen, Maniok. Oft wird im heimischen Köhler Holz zu Holzkohle verkokelt. Das bringt ein bisschen Zusatzeinkommen in die Familienkasse, denn die 11 Eisenhütten in Marabá, die die Stahlkocher der USA beliefern, werden mit Holzkohle beheizt und sind dankbare Abnehmer. Vor allem sorgt es für  Rauchschwaden über der kahlen Landschaft, wo Kinder im Staub spielen, Frauen gelangweilt dreinschauend vor ihren Häuschen hocken und Hunde in Müllhaufen wühlen.

Zum Glück bricht bald die Dunkelheit herein und die traurige Landschaft verwandelt sich in ein schwarzes Universum, dem ab und zu von erleuchteten Straßenkneipen Leben eingehaucht wird. So schnell sie auftauchen, verschwinden sie auch wieder in der Dunkelheit.

Glaucya Tonaco

In Eldorado de Carajas steigt Glaucya Tonaco zu. Die 40.000-Einwohner-Stadt gelangte im Jahr 1996 weltweit zu trauriger Berühmtheit, weil dort ein Massaker an landlosen Kleinbauern neunzehn Tote gefordert hatte.

Doch damals war Glaucya erst neun Jahre alt, und auch zurzeit beschäftigt sie nicht die Agrarreform, sondern ihr nächstes Semester. Sie hat zwölf Stunden Fahrt nach Gurupi vor sich, wo sie im dritten Semester Jura studiert. Warum so weit weg von zuhause, in einem Kleinstädtchen im Nachbarstaat Tocantins, irgendwo fernab der Großstädte? Warum nicht in Belem, der Hauptstadt Parás, dem pulsierenden Knotenpunkt an der Amazonasmündung, der seit dem Kautschukboom stetig wächst?  "Belem ist zu teuer. Gurupi hat sich auf Studenten spezialisiert, die Hälfte der Studiengebühren zahlt die Stadt. Außerdem kommen alle Studenten von außerhalb, wir fühlen uns dort wie in einer großen Familie." Die Älteste von drei Geschwistern möchte aber als fertige Rechtsanwältin in ihrer Heimatstadt Eldorado arbeiten: "Rechtsanwälte werden dort dringend gebraucht", meint die Zweiundzwanzigjährige. Und so weit entfernt von der Familie möchte sie auf Dauer auch nicht leben, davon zeugen auch ihre von Abschiedstränen noch etwas geschwollenen Augen.

Reifenwerkstatt

Langsam wird es Zeit für das Abendessen, die mitgebrachten Snacks ersetzen den Reisenden noch lange nicht die Mahlzeit. Brasilianer essen gerne warm und reichlich. "Vierzig Minuten!", ruft der Fahrer mit einer Stimme, die keinen Zweifel lässt,  dass wer sich verspätet, stehengelassen wird.

Hungrig stürmen die Fahrgäste aus dem Bus und besetzen die Holztische der Raststätte. Die Kellner, die bereits auf die hungrige Busladung gewartet haben, umschwirren die Gäste mit fettig tropfenden Fleischspießen, Beilagen nimmt man sich vom Buffet.

Die Zeit lässt sich aber auch für einen Besuch in einer der Reifenwerkstätten nutzen, die sich praktisch neben jedem Rasthof befinden. An den Bundesstraßen sind sie vierundzwanzig Stunden geöffnet und im Schein von trüben Glühbirnen dösen Männer, spielen Karten, trinken Cachaça. Einige Lastwagenfahrer, die noch nicht müde sind, leisten ihnen Gesellschaft.

Isaias und Vanuza

Die ersten gesättigten Fahrgäste versammeln sich wieder vor dem Bus, sie wollen jetzt nur noch in ihre weichen Sitze sinken und dösen. Unter den Wartenden stehen auch Isaias und Vanuza Farias Pinho, die aus dem Norden Parás kommen und auf dem Weg nach Brasilia sind.

Die Beiden sind die Gepäckchampions unter den Fahrgästen, sogar einen zusammengerollten Teppich haben sie neben ihren Kistenbergen dabei. Ob das alles in die Einzimmerwohnung passt, die sie in Brasilia schon angemietet haben? Isaias war in Altamira Angestellter der Stadt, aber das wurde ihm auf die Dauer zu langweilig, da hat er sich für ein Jurastipendium beworben. Dafür nimmt er den Umzug nach Brasilia gerne in Kauf und seine Verlobte Vanuza wird eine Krankenschwesterausbildung beginnen. "Ein bisschen Angst habe wir schon vor der neuen Umgebung, aber wir freuen uns auf unser neues Leben", sind sie sich einig.

Der Bus ist kaum losgefahren, da sind die meisten Sitze schon in Schlafstellung gebracht und außer dem gleichmäßigen Brummen des Motors ist nichts mehr zu hören. Zum Glück wird auch keine dröhnende DVD mehr eingelegt, dafür die Klimaanlage noch einmal aufgedreht und schon taucht der Bus ein in die sternenklare Nacht.

Tagelöhner beim Frühstück

Kaum ist man eingeschlafen, wird es schon wieder geschäftig im Bus, es werden Gepäckstücke aus den Fächern gezerrt, Kinder aus dem Schlaf gerüttelt  - Ankunft im Busbahnhof von Guará, der Umsteigestation.

Wer nach Rio will, muss hier aussteigen. Der "direkte Anschluss" erweist sich als eine Wartezeit von fünf Stunden. Aus den durchgehend geöffneten Bahnhofbars scheppert ohrenbetäubende Countrymusik, es gibt extrem süßen Kaffee und ab sechs Uhr morgens frische Brötchen. Die Tagelöhner allerdings, die gleich neben dem Busbahnhof eine Frühstückspause machen, gönnen sich zum Sonnenaufgang dampfenden Reis mit gebratenen Innereien und scharfer Pfeffersoße  - sie sind schon seit drei Uhr auf den Beinen und haben noch einen langen Arbeitstag vor sich.

Familie Ferreira

Endlich kommt der Anschlussbus nach Rio um die Ecke gekeucht und das Gedrängel um das Gepäckfach geht von vorne los. Auch die Familie Ferreira ist eifrig damit beschäftigt, ihre Koffer unterzubringen. Sie sind auf dem Rückweg von Sao Felix in Pará, wo sie für zwei Wochen ihre Familien besucht haben.

Aline, 32, Junior, 29, und die 6-jährige Lorraine leben seit acht Jahren in Rio. "Wir können die Reise nur alle zwei Jahre machen", erzählt Aline und zieht eine Filmkamera raus, "die Fahrt kostet für uns alle zusammen ungefähr zweitausend Reais ". Das sind rund siebenhundert Euro, die müssen sie mit ihren Jobs als Putzfrau und Pförtner in Copacabana erst mal verdienen. Aber sie klagen nicht, sie fühlen sich in Rio sehr wohl, bis heute gehen Aline und Junior jeden Tag nach der Arbeit an den Strand in Copacabana, praktischerweise arbeiten sie im gleichen Gebäude. Aber als Aline dann auf ihrer Minikamera die Bilder vom heimatlichen Kleinbauernhof vor Augen hat, kullern doch ein paar Tränen, ja, es ist ein anderes Leben dort, eine Riesenfamilie, jeder kennt jeden, den ganzen Tag im Freien. Junior kommt aus dem Nachbarort, er ist damals nach Rio vorgefahren und Aline ist nachgekommen, nachdem er eine kleine Wohnung im Elendsviertel Vila São João organisiert hatte. Dort wohnen sie heute noch, zwischen Arbeitsuchenden, Einwanderern, Banditen, Glücksrittern und anderem Riostrandgut.

DVD
Weiter geht´s durch die inzwischen grüne Landschaft des Bundesstaats Goias, vorbei an sanften Hügeln, saftigen Weiden und Viehherden. Aus dem Fenster schauen, Video angucken, essen, dösen, trinken lassen den Tag im Nu vergehen.

Die Bustoilette ist inzwischen so verdreckt, dass man sich zwingt, bis zum nächsten Stop durchzuhalten und als der Bus endlich wieder zum Abendessen anhält, sind zwei Drittel der Strecke bewältigt.

Dona Isabel

Auf der Weiterfahrt, als alle gerade wieder einnicken, ein Aufschrei. Es kommt von Isabel Ribeiro, die bemerkt hat, dass sie ihre Geldbörse mit Dokumenten und der gesamten Reisekasse im Restaurant hat liegenlassen.

Helle Verzweifelung steht ihr ins Gesicht geschrieben, die meisten Fahrgäste schütteln bedenklich den Kopf, das Geld kann sie wohl abschreiben. Dem Busfahrer bleibt keine andere Wahl als umzukehren, was auf der engen, stockdunklen Landstraße gar nicht so einfach ist. Doch als der Bus endlich wieder in den Parkplatz der Raststätte einbiegt, steht dort schon ein aufgeregt winkender junger Mann. Und in der Hand hält er die Geldbörse, er hat schon auf die Rückkehr des Busses gewartet. Dona Isabel druckt ihn an ihren mächtigen Busen und will ihn vor Freude gar nicht mehr loslassen, die Fahrgäste freuen sich mit ihr und keiner kommt auf die Idee wegen der Verspätung zu meckern. Sie wolle ihren Sohn, der gerade Vater geworden ist, besuchen, erzählt sie. Der lebt seit acht Jahren in Rio und so lange Dona Isabel gebraucht, die Reise von ihrem Gehalt als Näherin in Ananais, Tocantins, zusammensparen zu können.

Beim Kaffeestop am nächsten Morgen in Tres Marias, Minas Gerais, steigt Dona Isabel erst gar nicht aus dem Bus. Endlich wird Kaffee nicht schon überzuckert aus der Thermoskanne ausgeschenkt wie es auf den nördlichen Bundesstraßen üblich ist. Weiter gehts Richtung Osten, noch dominiert die Rinderzucht die Landschaft, doch es wird zunehmend städtischer. Minas Gerais, so groß wie Frankreich, ist ein wohlhabender Bundesstaat, zumindest der südliche Teil. Die Gegend ist reich an Eisen- und Halbedelsteinminen, daher auch der Name - die Allgemeinen Minen.

Rio de Janeiro, endlich am Ziel. Von den Brasilianern "die wunderbare Stadt" genannt, landesweit bekannt für seine einzigartige Lage und himmelschreiende Kriminalitätsrate, für seine Lebensfreude, den Karneval und seine Bandenkriege.

Alle, die hier aussteigen, erwarten sich etwas anderes von der Stadt, für viele ist es ein Neuanfang, andere kommen nach Hause, einige nur von weit her vorbei, um ihre Lieben zu sehen. Aufgeregt sind sie jedoch alle, als sich der Bus in den Abendverkehr einfädelt.

Autolichter verschwimmen hinter regennassen Scheiben, eine Ambulanz mit heulender Sirene schlängelt sich zwischen den Autos durch, so dass man kaum den Abschiedsgruß des Busfahrers  versteht, der sich gefreut hat, uns als Fahrgäste gehabt zu haben.

Text + Fotos: Anja Kessler

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