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[art_3] Brasilien: Olinda - Oh! Schöne Lage für ein Städtchen Teil II

Die heutigen Bewohner Olindas sind keine reichen Zuckerpflanzer. Ganz im Gegenteil: Zwar gibt es den einen oder anderen gut verdienenden Restaurantbesitzer in der Oberstadt, aber ein großer Teil der Einwohnerschaft, Künstler, Studenten und Familien, lebt in einfachen Verhältnissen. Trotzdem darf Olinda wieder schön sein - und muss es sogar. Die UNESCO hat die Altstadt, eine der größten und am besten erhaltenen Stätten kolonialer Architektur in Brasilien, zum Weltkulturerbe erklärt. Die Häuser, von außen ganz klein und von innen riesig, leuchten in den buntesten Farben wie eh und je. Nur der Grund ist heute ein anderer als damals: Früher war die Farbgebung weniger ein ästhetischer als ein zweckmäßiger Entschluss, denn es gab keine Hausnummern, und einen Brief adressierte man an das rosa Haus mit den blauen Fenstern.

Das numerische Ordnungssystem kam erst später, und das erklärt vielleicht auch, warum die Hausnummern heute mit einer gewissen sympathischen Willkür verteilt sind. Die groben Kopfsteine des Straßenpflasters sind zum Teil noch immer dieselben, die seinerzeit die Holländer legen ließen.


Es findet sich kaum ein Stück der Stadt, das nicht eine lange Geschichte zu erzählen hätte. Steigt man auf den Berg, auf dem vor über vierhundert Jahren Duarte Coelho seine Stadtgründung beschloss, überblickt man zwei Welten: Am Abhang, bis hinunter zum Meer, zwischen Palmen, Büschen und tropischen Obstbäumen recken barocke Kirchen mit zwei Glockentürmen und alte Prachtresidenzen gelassen ihre Häupter. Dann das Meer, jeden Tag in einer anderen Schattierung zwischen türkisgrün, tiefblau und silbergrau - und auf der anderen Seite der Bucht Recife, heute eine Millionenstadt, Hochhaus an Hochhaus, bis die grauen, eckigen Konturen sich im gelblichen Dunst verlieren. Der Anblick ist jedes mal aufs Neue beeindruckend, und um so mehr, da man weiß, dass dieser Kontrast sich nicht auf Äußerlichkeiten beschränkt: Die große Stadt ist chaotisch, voller Autos, die ununterbrochen im Stau stehen, voller Bauruinen, Lärm und Geschäftigkeit, Bewegung und Unruhe.

In Olinda dagegen gehen die Leute langsam, vorzugsweise in Badelatschen. Man kennt sich, man grüßt sich, man kauft sein Obst, indem man durchs Fenster ruft, wenn der Obstmann vorbeikommt, mit seinem klapprigen Pickup, die Ladefläche voller Bananen, Ananas, Orangen, Guaven, Maracujas und Papayas.

Und hat man kein Kleingeld, dann zahlt man eben morgen. Oder übermorgen.

In Olinda lebt auch der alte Mann, der antiken Kleinkram restauriert. Er läuft, hin und wieder eine Singer-Nähmaschine auf dem Kopf balancierend, die Straßen hinauf und hinunter.

Mit Sicherheit ist einer der Gründe, warum zumindest ich ihm das Schmuckstück nicht abkaufe, die Tatsache, dass er einfach ein so schönes Bild abgibt: ein alter Mann mit einer noch älteren Nähmaschine auf dem Kopf, einen bronzenen Kerzenleuchter in der einen, einen mit Blüten bemalten Porzellannachttopf in der anderen Hand und das Rasseln von antiken Münzen in der Hosentasche.

Und zwischen all diesen pittoresken Szenen allgegenwärtig: Die Touristen. Brasilianische, meist in Gruppen von fünfzig oder mehr, die sich von einem Stadtführer mit lauter Stimme Jahreszahlen und Anekdoten erzählen lassen, und andere, die Individualreisenden aus dem Rest der Welt, die den Stadtführern, die wie in Polohemden gekleidete Geier unten an der Bushaltestelle sitzen und auf Kundschaft warten, meist nicht ins Netz gehen, schon allein deshalb, weil sie deren Sprache in der Regel nicht verstehen.

Es gibt mindestens vier verschiedene Vereinigungen in Olinda, die Stadtführer ausbilden, und jede von ihnen macht ihre Schüler durch ein anderes buntes Polo-Shirt erkennbar. Leider ist diese Ausbildung in den meisten Fällen nicht die profundeste, und das, was den guías oft zu fehlen scheint, ist Identifikation mit der Geschichte ihrer Stadt. Man merkt ihnen an, dass sie diese Arbeit machen, weil sie nichts Besseres finden, und nicht weil es ihnen Freude macht, den Fremden ihre Heimatstadt zu präsentieren. In Olinda gibt es kaum jemanden, der nicht wenigstens um ein paar Ecken am Tourismus mitzuverdienen versucht, und wenn man es sich nicht leisten kann, ein Hotel zu eröffnen, und es an Ambitionen für ein Kunstatelier fehlt, dann entscheidet man sich eben für die Ausbildung zum Stadtführer. Die dauert nicht lange, und am Ende bekommt man ein obskures Ausweiskärtchen mit Foto und darf sich guia local nennen.

Zu manchen Zeiten gibt es mehr von diesen guias locais als Touristen; dann laufen sie zu dritt oder zu viert hinter jedem Auto her, das in die Altstadt fährt, recken ihre Ausweise in die Höhe und pfeifen und gestikulieren in die Richtung der besten freien Stellplätze, um zumindest als Parkplatzwächter ein paar Centavos zu verdienen.


Zu anderen Zeiten allerdings sind die Touristen zahlreich, womöglich zahlreicher als die Einheimischen, insbesondere, wenn der Karneval vor der Tür steht, der in den letzten Jahren von einem Insidertipp zu einem der populärsten in ganz Brasilien geworden ist. Was die Einwohner von Olinda angeht, hat man allerdings den Eindruck, dass kein Tag vergeht, an dem der Karneval sein ungeduldiges Warten vor der Tür unterbricht: Kaum ein Abend, ohne dass man von irgendwoher Trommeln hört; vielleicht ein Maracatu oder eine Sambagruppe, die das ganze Jahr für ihren großen Auftritt proben, meistens draußen, auf einem öffentlichen Platz, damit auch die Zuschauer sich schon einmal ein Bild machen können; kaum ein Atelier, in dem nicht mindestens ein Drittel der Bilder karnevaleske Straßenszenen vor olindenser Kulisse zeigen. Olinda hat eine reiche Kunsthandwerkstradition. Holzschnitte, Malereien, Keramiken, Schnitzereien werden an jeder Ecke ausgestellt und feilgeboten, und es gibt kaum ein Motiv, das nicht auf irgendeine Weise einen Bezug zum Karneval herstellt.

Während der Tage des lang erwarteten Ereignisses teilen all die Unglücklichen, die ihre Bleibe nicht besitzen, sondern nur mieten, ein unangenehmes Schicksal: Für das Fest müssen sie sich eine andere Unterkunft suchen, denn in nahezu jedem olindenser Mietvertrag ist festgeschrieben, dass während dieser vier Tage die Unterkunft an Fremde vermietet wird, für astronomische Beträge.

Der Mieter verlässt sein Heim für diese Zeit, und der Besitzer streicht ein paar tausend Reais ein, die eine von weither angereiste Horde gutbetuchter Karnevalsfreunde gerne bezahlt, um das Spektakel in Olinda erleben zu dürfen.


Und kaum ist das Fest vorbei, mit den flitterbunten Paraden, die im Rhythmus der Trommeln die Berge Olindas hinauf- und hinabflanieren; mit den großen Gruppen, die regenbogenfarbene Schirmchen schwingend den akrobatischen Frevo tanzen; mit den Maracatús, die nicht nur aus Freude in aufwendigen Kostümen durch die Straßen ziehen, sondern auch, um ihre Orixás zu ehren, die zugleich katholische Heilige und afrikanische Götter sind; mit den fröhlichen und nie nüchternen Menschenmassen, die all die engen Gassen der Altstadt bis zum Bersten füllen, Tag und Nacht, denn während des Karnevals schläft niemand - kaum endet dieses Fest, der Höhepunkt des Jahres, beginnen schon die Vorbereitungen für das nächste Mal. Denn nach dem Karneval ist vor dem Karneval, ist ja auch, so fand ich nach einer Weile, irgendwie einleuchtend. Wer diese Meinung nicht teilt, soll sich auf anderen üppig grünen Hügeln nach anderen wunderschönen Städtchen umsehen. Der alte Duarte Coelho und ich jedenfalls bleiben in Olinda und genießen die Aussicht, der eine als Geist, der andere im Geiste.

Text: Nico Czaja
Fotos: Katrin Sperling + Nico Czaja