spanien: Ein Hoch auf die Klappstühle!
Eine nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2006
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
venezuela: Straßenstände in Mérida
Stadtplan zum Sammeln und Abheften
DIRK KLAIBER
[art. 2]
brasilien: Alles ist im Fluss
Die Basilika von Aparecida am Shopping-Center des Glaubens
THOMAS MILZ
[art. 3]
chile: Tauschhandel der Eliten - Die politische Stabilität Chiles
FELIX BUTZLAFF/IRIS MEYER
[art. 4]
amor: Flossenballett mit Orchester
Tauchen auf El Hierro
MARIANNE BENDER
[kol. 1]
grenzfall: Die Magier der Zeit
Anmerkungen zum Maya-Kalender
KRISTINA WILLENBORG
[kol. 2]
macht laune: Regen im Paradies
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Anti-Globalisierungssound vs. Ramón Valle
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Ein Hoch auf die Klappstühle!
Eine nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2006

Sevilla, Palmsonntag, 9. April 2006
Der erste sorgenvolle Blick geht wie immer zum Himmel, aber er scheint Entwarnung zu geben, denn es ist sonnig und die ab und zu aufziehenden Wolken sind von beruhigend heller Farbe. Der Hauptfeind der Semana Santa ist der Regen - schon bei der kleinsten Gefahr von Niederschlag sagen die meisten Bruderschaften Sevillas die Prozession ab, um ihre wertvollen, oft Jahrhunderte alten Kunstwerke zu schützen. Wetterprognosen jedweder Herkunft haben daher Hochkonjunktur.

"Die Yankees haben vorausgesagt, dass das Wetter bis Gründonnerstag schön bleiben soll, am Karfreitag soll es dann regnen. Also wird es wahrscheinlich genau umgekehrt eintreffen", bemerkt Carmen mit ironischem Lächeln in die Runde.

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Mit den "Yankees" meint sie die Weltwetter-Website www.weather.com, die von der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA betrieben wird.

Wir stehen auf der Plaza de Pumarejo im Macarena-Viertel und warten auf die Prozession von La Hiniesta. Wir, das sind meine Sevillaner Freundin Carmen* (alle Namen geändert), ihr Mann Manolo, vier spanische Touristen aus Madrid (Amparo, Vicente, Cayetana und Jesús) sowie Sabine und ich aus Köln. Plötzlich fragt Manolo, ob wir Lust hätten, die Prozession, die in diesem Augenblick von schmetternden Trompeten angekündigt wird, von einem Balkon aus zu betrachten. Als ob er da fragen müsste! Er kennt jemanden, der an der Restaurierung des leer stehenden Pumarejo-Palasts beteiligt ist und ihm den Schlüssel geben wird, um auf einen der Balkone zu gelangen. Als wir oben ankommen, müssen wir feststellen, dass dieser Restaurator viele Bekannte haben muss, denn es herrscht dichtes Gedränge. Ich beginne zu beten, dass die 400 Jahre alten Balkone des baufälligen Palasts diesen einen Tag noch überstehen mögen. Wir verteilen uns und quetschen uns noch irgendwo dazwischen. Gerade noch rechtzeitig, denn schon zieht unter uns der blauweiße Strom der Nazarenos von La Hiniesta vorbei.

Während ich mich auf den tragischen Blick der Magdalena zu konzentrieren versuche, die hinauf blickt zu ihrem am Kreuz hängenden Christus, ruft Sabine neben mir: "Da, guck doch mal der Kinderwagen auf dem Autodach!"

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Tatsächlich steht unter uns auf dem Dach eines Autos geparkt ein Kinderwagen, für den im Gedränge kein Platz mehr war - so cool gehen wohl nur Andalusier mit ihrem Nachwuchs um. Erst auf den zweiten Blick kann der genaue Inhalt des Kinderwagens identifiziert werden. Es ist nicht, wie wir zuerst dachten, ein arg vermummtes Baby - das befindet sich in den Armen der Mutter - sondern Bocadillos und Bierflaschen für das leibliche Wohl der Großfamilie.

Später auf der Brücke von Triana scheint Jesús sich beim Anblick der Pasos der Bruderschaft La Estrella weniger für die künstlerische Qualität der Pasos, sondern mehr für technische Details zu interessieren, speziell für die Funktionsweise ihrer Fortbewegung.

Ehe die entsetzte Amparo es verhindern kann, stürzt er auf die Altarbühne des Jesús de las Penas zu, hebt den Samtvorhang unter dem Paso hoch und erschreckt mit dem Blitzlicht seiner Kamera die dahinter versteckten Träger.

Um sie zu besänftigen, ruft er ihnen Lobesworte zu, während sein Objektiv die erstaunten Gesichter einfängt. Amparo und ich machen ihm Vorwürfe und sie warnt ihn: "Auch wenn Du Jesús heisst, kann Dich das nicht davor schützen, Dir eine Ohrfeige einzuhandeln, wenn Du so einfach den Vorhang wegziehst! Hier hast Du Glück gehabt, aber bei einer ernsten Bruderschaft wie El Silencio kann das richtig Ärger geben!" Der so zurecht gewiesene Tourist aus Madrid verspricht mehr Zurückhaltung. In den nächsten Tagen fragt er oft vorsichtig den Wasserträger, ob er für ihn den Vorhang anhebt oder er wartet bis die Costaleros von selbst hervor kommen.

Heiliger Montag, 10. April 2006
Cayetana lehnt an einer Straßenlaterne in der Abendsonne und blickt zufrieden auf von ihrer Lektüre des Diario de Sevilla. "Wie schön, dass der Präsident der Welt hier mit uns Semana Santa feiert" - "El Kofi" - so nennt sie ihn. Ja stimmt, Kofi Annan sitzt heute mit seiner Frau auf der Tribüne des Rathausplatzes von Sevilla, wo er sich die Prozessionen von San Gonzalo und Vera Cruz ansieht.

Wir stehen hier in der C. Gamazo, wo abends die Nazarenos der Bruderschaft Las Aguas vorbei ziehen. Direkt vor uns eine Gruppe von Kindern, die einen beliebten Wettkampf austragen: wer schafft den dicksten Wachsball bis zum Ende der Heiligen Woche?

Während jeder Prozession belagern diese Kinder die Nazarenos, damit sie Wachs auf die Bälle tropfen lassen. Da die Kerzen in jeder Prozession eine andere Farbe haben, werden diese Wachsbälle nicht nur immer größer, sondern auch immer bunter.


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Von Kindern zu Jugendlichen. Vor dem Postigo-Stadttor campieren dicht gedrängt große Gruppen von Teenies, die auf den Christus von San Gonzalo warten, den sie verehren wie einen Popstar. Das ganze Ambiente erinnert mehr an ein Rockfestival oder an eine "Botellona" als an eine Karwochen-Prozession: die "Litronas" (Literflaschen mit Bier oder selbst gepanschten, oft abenteuerlichen Alkoholmixturen) machen die Runde, zu den milden Temperaturen unter dem ersten Frühlings-Vollmond wird heftig geknutscht und geflirtet, und als der goldstrahlende Paso mit dem Christus aus Triana unter dem Torbogen erscheint, springen alle auf und applaudieren - Ihm und seinen Trägern, die wahre Kunststücke mit der tonnenschweren Altarbühne veranstalten, sie mit Tanzschritten fort bewegen.

Hinter dem Christus der Bruderschaft El Museo entdecken wir plötzlich in einer Gruppe von schwarz vermummten, Kreuze tragenden Büßern einen, der fünf (!) zusammen gebundene Kreuze auf den Schultern vorwärts schleppt. Als er vorbei kommt, seufzt eine Zuschauerin neben uns leicht hysterisch "Oh Gott, sieh nur der Ärmste - was wird er getan haben, um so zu büßen?" In diesem Moment wendet sich der Bemitleidete plötzlich an sie, die Frau erschreckt sich zu Tode, als die schwarze Maske ihr zuflüstert: "Señora, ich habe natürlich fünf auf dem Gewissen..."

Wenig später wird der Paso des Gekreuzigten Christus an einer Straßenecke der C. Alfonso XII. angehalten. Eine makabere Koinzidenz: auf der Leuchtreklame des Ladens direkt neben dem Schatten des Kreuzes steht der Schriftzug "Stressless" in erfrischendem Blau.

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Heiliger Dienstag, 11. April 2006
Es wird heiß an diesem Nachmittag. Zwei Nazarenos der Bruderschaft Cerro del Aguila tragen über ihrer Kapuzenmaske aus dunkelrotem Samt - lila Sonnenbrillen! Da wird der Großmeister dieser Bruderschaft wohl am nächsten Tag ein Disziplinarverfahren einleiten müssen, zumal Fotos dieser beiden Stilbrüchigen in allen Sevillaner Zeitungen auftauchen.

Wenden wir uns also der finsteren und sehr stilsicheren Prozession von Santa Cruz zu, die in der Dämmerstunde an den trutzigen Mauern des Alcázar vorbei zieht. Gegenüber den Alcázarmauern ist nur Platz für eine Zuschauerreihe und wir haben uns diese begehrten Plätze schon vor einer Stunde erobert. Als ein paar hundert schwarz vermummte Nazarenos vorbei gezogen sind und der Paso sich nähert, versucht ein auffallend dunkler, vielleicht 18-jähriger Sevillaner in letzter Minute noch einen - nicht vorhandenen - Platz neben oder hinter Amparo zu ergaunern. Amparo stellt ihn zur Rede: "Wo willst Du denn hin, mein Sohn? Da ist die Wand und hier bin ich und dazwischen gibt es nichts!" Der dunkle Eroberer flüstert irgendeine Entschuldigung - dann ist es zu spät, ihn zu verjagen. Der Paso steht direkt vor uns und mit verzückten schwarzen Augen blickt unser neuer Nachbar zu ihm auf. "Oh Gott, ist der schön!", murmelt Sabine neben mir - und sie meint nicht den Christus von Santa Cruz, sondern seinen Betrachter. Recht hat sie.

Nur Amparo lässt sich nicht so schnell durch diesen andalusischen Märchenprinzen bezaubern, zu frech habe er sich dazwischen gedrängelt, findet sie. Sie ist erst besänftigt, als sie beobachtet, wie der Prinz eine Kladde hervorholt, in der hunderte von Christus- und Madonnenbildchen aufgeklebt sind - wahrscheinlich fehlt keine einzige Statue der Sevillaner Semana Santa in dieser Sammlung. Als er uns dann noch stolz seinen wund gescheuerten Nacken zeigt, mit der Bemerkung, er habe als Costalero schon zwei Pasos getragen, schlägt auch Amparos Unmut in Begeisterung um. "Wie heisst Du denn", fragt sie ihn. "Rafael" ist die Antwort. Natürlich - der Name eines Engels! Und es kommt noch besser. Denn nun zaubert der Prinz mit dem Engelsnamen einen kleinen Gegenstand aus seiner Tasche, den er ehrfürchtig anstarrt, als sei er das Wertvollste auf der Welt.

Um alle Fragen gleichzeitig zu beantworten, verkündet er feierlich: "Das ist eine goldene Franse vom Baldachin der Candelaria-Madonna, die mir einer ihrer Träger gegeben hat." Seitdem trägt er sie wie eine Reliquie bei sich und nun verstaut er sie schnell wieder, als ob er Angst hätte, dass jemand ihm diesen magischen Glücksbringer streitig machen könnte.

Triumphierend blickt er in die Runde, dann flüstert er noch "Un besito" und drückt Amparo und mir einen Kuss auf die Wange, bevor er in der weihrauchgeschwängerten Nacht verschwindet.

Heilger Mittwoch, 12. April 2006
"Diese Klappstühle - ihr Erfinder sollte sofort heilig gesprochen werden", schlägt Cayetana übermütig vor, während sie ihr Exemplar am strategisch günstigsten Punkt an der Straßenecke Rioja/Velázquez aufstellt, wo wir die Prozession von El Baratillo erwarten. Diese winzigen Klappstühle gehören neben dem Semana Santa Tagesprogramm mit Prozessions-"Fahrplan" und einem kleinen Rucksack mit Wasserflasche, Bocadillo und Sonnenbrille sowie natürlich Fotokamera zur Grundausstattung des Pilger-Pakets während der Semana Santa in Sevilla. Es gibt diese Klappstühle in verschiedenen Modellen, die Luxus-Edition hat einen Stützgriff, so dass man sie auch als Spazierstock und im schlimmsten Fall sogar als Waffe benutzen kann.

Als der Himmel sich vorübergehend mit Wolken verdunkelt, bemerkt Carmen, dass "die Yankees" (www.weather.com) die Regenwahrscheinlichkeit für den Karfreitag von 30% auf beunruhigende 60% verdoppelt hätten.

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Soviel Pessimismus wollten sich die spanischen Wetterprognosen nicht anschließen, sie gehen weiterhin von nur 10% Regengefahr aus.

Nachdem die Nacht schon angebrochen ist, haben wir uns in der engen Gasse Cuna gute Plätze erobert, um die Prozessionen der Bruderschaften Buen Fin und La Lanzada direkt hintereinander zu sehen. Doch beide haben eine Verspätung von mindestens einer Stunde. Zuerst wollen wir unsere guten Plätze nicht aufgeben, danach können wir nicht mehr weg, eingeschlossen durch die Menschenmassen, die sich der Prozession entgegen, durch die enge Straße wälzen. Ungeduld und Hunger machen sich breit, das letzte Bocadillo ist schnell gegessen, Vicente und Amparo teilen sich Sabines einzigen Müsli-Riegel, ich verteile zwei kleine Tüten mit Erdnüssen, die von meiner Fahrt mit dem AVE von Madrid nach Sevilla übrig geblieben sind.

Dann erscheint endlich der Christus des Guten Endes, der selten so herbei gesehnt wurde wie an diesem Tag, denn hinter dem Paso, der uns einen Weg bahnt, marschieren wir im Takt der Marschmusik bis zum Ende der Gasse, um nach Mitternacht endlich etwas Essbares zu finden, bevor wir auf dem Platz Cristo de Burgos die Rückkehr der gleichnamigen Prozession erwarten. Die herzzerreißenden Saetas, die von bekannten Flamenco-Sängern für die Jungfrau gesungen werden und die traurige Marschmusik werden übertönt von einem allzu profanen Geräusch. Ein Müllmann von Lipasam kann seinen bevorstehenden Feierabend nicht erwarten und wirft direkt hinter der Zuschauermenge, die noch ergriffen auf die Madonna starrt, schon mal den Motor seines LKW an. Unfromme Gedanken kommen auf angesichts dieser Geräuschattacke. "Kann bitte irgendwer sofort diesen Müllmann umbringen!?", ruft Cayetana ungehört in die Menge.

La Madrugá, Karfreitagnacht 13./14. April 2006
Das große Schweigen. Fast unerträglich still wird es in der C. Cuna, als die ersten schwarzen Nazarenos von El Silencio die Gasse betreten. Diese schwarzen Schatten drängen uns zurück, erobern die Gasse, nehmen ihre ganze Breite ein. Wir lehnen starr an der Wand, nur Zentimeter vor unseren Augen die flackernden Kerzen und schwarzen Masken der Nazarenos. Nicht einmal ein Flüstern ist zu hören. Furchterregend und großartig.

Danach in der C. Chapineros das Aufatmen nach soviel Ernst: die Macarena! Wir machen Fotos mit den als Römer verkleideten Armaos und den Costaleros. Einer dieser Träger hat ein Bild der Macarena auf dem Stofftuch, das von seinem Kopfschutz auf den Rücken herabhängt. Alle wollen dieses Motiv fotografieren.

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Als der Ärmste sich herumdreht und uns das Gesicht zuwendet, sinken die Kameras nieder, niemand will ihn von vorne sehen. Genervt dreht er sich wieder um und das Blitzlichtgewitter setzt erneut ein. Er ist halt nicht der Hübscheste, und selbst wenn er es wäre - wer könnte schon mit dem Antlitz der Göttin Sevillas konkurrieren?

Nachdem Vicente und Amparo sich beklagt hatten, dass ich als Macarena-Anhänger nur Sie am besten Schauplatz zur Geltung kommen lasse und ihre Rivalin, die Esperanza de Triana, vernachlässigen würde, beschließe ich, die beiden Lügen zu strafen und führe sie ins Arenal-Viertel, gegenüber der Rosario-Kapelle. Die Sonne ist bereits aufgegangen, allerdings ist der Himmel stark bewölkt. Trotz der Müdigkeit in der riesigen Zuschauermenge romantische Bilder wohin man blickt: sehr junges Publikum, viele sind unter Zwanzig und ich fürchte, wir sind die Ältesten, Liebespaare knutschen, Gruppen von Teenies liegen müde lächelnd mitten auf der Straße und warten mit leuchtenden Augen auf ihre Madonna, deren Paso auf einem Strom der Begeisterung heran gleitet. Vor dem geöffneten Portal der Kapelle bringen die Costaleros zu den Klängen einer betörenden Musik die Königin von Triana zum Tanzen und treiben die Menge auf dem Platz in einen Taumel der Ekstase - rings herum ein Publikum, dem Tränen der Verzückung in den Augen stehen.

Karfreitag, 14. April 2006
"Also diesmal hatten sie wohl Recht", gibt Carmen niedergeschlagen zu. Gemeint sind "die Yankees" von www.weather.com. Denn was in den heißen Mittagsstunden eine von Madrugá-Müdigkeit taumelnde Stadt kaum für möglich gehalten hat, ist nun eingetroffen: es regnet. Nur ein wenig zunächst, so dass sich vor den sieben Kirchen, aus denen man Prozessionen erwartet, noch hoffnungsvolle Zuschauer versammeln.

Doch schon eine Stunde später, kurz vor der Dämmerung, muss auch ich den Regenschirm aufspannen. Und kurz vor Mitternacht geht ein gnadenloser Wolkenbruch über Sevilla nieder, so als habe jemand sämtliche Regenwolken der letzten Wochen nur für diesen Augenblick zurück gehalten.

Noch in den frühen Abendstunden hatten wir zusammen mit vielen anderen vor dem Portal des Friedensklosters unter Regenschirmen auf den grandiosen Paso von La Mortaja gewartet, aber jetzt waren wir froh, zu Hause zu sein. Cayetana schlägt vor, den Fernseher einzuschalten. Der lokale Fernsehsender Giralda zeigt zum Trost Bilder von sonnigen Karfreitags-Prozessionen aus dem Jahr 2002. Selbst wenn gar nichts stattfindet: während dieser weihrauchumnebelten Woche kann in Sevilla niemand den Bildern der Pasos entkommen.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg / Vicente Camarasa

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der "Heilige Montag"]
[Die Passion in Sevilla: Der "Heilige Mittwoch"]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]

[Der Tag der Himmelsköniginnen - Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]

[Semana Santa in Sevilla-Die Geheimnisse der Madrugá]





[art_2] Venezuela: Straßenstände in Mérida

Mérida, Studentenstadt in den Anden Venezuelas: Hotels über Hotels, Kneipen über Kneipen, Restaurants über Restaurants, Touren über Touren ... Hier die Karte zu wirklich Relevantem: Straßenstände

Handhabung: Hinter jeder roten Zahl (1-19) findet ihr einen Stand in den Straßen Méridas - vom Obstverkäufer bis zur mobilen Telefonzelle. Klickt einfach drauf!



[Standortstand: Mai 2006]

Zum Sammeln und Abheften (vorgestanzt): merida_plan.pdf

Hinweis: Für etwaige Standortverlegung, personelle Fluktuation, Abweichungen in Sortiment, Qualität und Quantität übernehmen wir keine Haftung.



Online Reiseführer Venezuela (reihe fernrausch)
Der Hauptteil des Reiseführers besteht aus Beschreibungen von Ausflugsmöglichkeiten in die Natur, in Form von ein- oder mehrtägige Touren, individuell oder mit Guide organisiert, und Abenteuertrips.

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida / Tabay / Altamira





[art_3] Brasilien: Alles ist im Fluss
Die Basilika von Aparecida am Shopping-Center des Glaubens

Eigentlich waren die drei Fischer Domingos Garcia, Filipe Pedroso und João Alves auf reiche Fischbeute aus. Die Ratsherren des Städtchens Guaratinguetá hatten sie beauftragt, den schlammig-braunen Fluss Paraíba do Sul nach vorzeigbarer Nahrung abzusuchen. Immerhin hatte sich mit Dom Pedro de Almeida e Portugal der Gouverneur der vereinigten Kapitanien von São Paulo und Minas Gerais angekündigt. Doch nichts wollte ihnen an diesem Tag ins Netz gehen.


Fast schon wären die drei unverrichteter Dinge umgekehrt, als João Alves plötzlich eine kleine schwarzfarbige Figur aus dem Wasser zog. Nachdem sie den Schlamm abgespült hatten, wurde ihnen klar, was da buchstäblich aus den Fluten aufgetaucht war: eine Statue der Nossa Senhora da Conceição. Jedoch ohne Kopf. Sogleich warf João noch einmal sein Netz aus. Dieses Mal fischte er den fehlenden Kopf aus dem Wasser. Von nun an füllten sich ihre Netze mit Fischen. Immer mehr wurden es, so viele, dass das kleine Fischerboot zu kentern drohte.

Aparecida heißt der Ort der überraschenden Marien-Erscheinung. Seit jenem bemerkenswerten 12. Oktober 1717 ist hier nichts mehr so wie zuvor. Wer mit dem Auto von São Paulo nach Rio de Janeiro über den Dutra-Highway braust, erblickt nach 160 Kilometern zu seiner Linken ein beeindruckendes Bauwerk. Auf einer Anhöhe thront die zweitgrößte Basilika der katholischen Welt, nach dem Petersdom: 18.000 Quadratmeter Grundfläche, angeblich 7 Millionen Pilger pro Jahr, 45.000 Sitz- plus 25.000 Stehplätze.


Mindestens ebenso beeindruckend sind die mondähnlichen Parkplatzflächen rings um das Monumentalbauwerk. Sie bieten Platz für 4.000 Busse und 6.000 Autos. Alles ist bereit, die Pilger zu empfangen. Wie auch das Shopping-Center des Glaubens, direkt vor dem Haupteingang der Basilika. Bereit, die Menschenströme aufzunehmen, die hungrigen Massen zu verköstigen. Die Speisung der 5.000 in der Betonwüste. Im "Maria Madalena Grill" gibt es reichlich Fleisch zu Live-Country-Musik. "Kaufen Sie meine CD, nur 10 Reais! Die ist wirklich schön!", wirbt die Sängerin zwischen den Liedern.

Auf den Straßen der kleinen Stadt reihen sich mit Plastikfolien überspannte Souvenirstände endlos aneinander. Die heiß begehrten Nachbildungen der Statue gibt es in verschiedenen Größen, und für einen kleinen Aufschlag kommt sie auch noch mit einem Mäntelchen daher. Und Krone. Aber die kostet auch noch mal extra. Ein unbeabsichtigter Ratscher mit dem Fingernagel lässt sofort die Farbe abblättern. "Vorsicht, die sind nur aus Gips", mahnt die Verkäuferin. "Da kann man aber einfach mit schwarzer Farbe nachlackiere"

Direkt neben dem Heiligen-Sortiment kann man Büstenhalter und Unterhöschen erstehen. Oder Plastikgewehre Made in China, nachgemachte Fußballtrikots mit "Bavern Munchvev" Aufdruck. Und knallbunte, 50 Zentimeter hohe Schäferhunde, die auf Knopfdruck bellen. Auch der Liebhaber potenter Stereoanlagen fürs Auto findet hier alles, was das Herz begehrt. Ein dichter Strom von Suchenden wälzt sich durch die schmale Gasse zwischen den Ständen.


Es sind mehr Menschen als in der Basilika, wo an diesem Ostersonntag gerade die Mittagsmesse gelesen wird. Doch die Reihen sind recht leer. "Die Leute nutzen das verlängerte Wochenende gerne, um ans Meer zu fahren", weiß die Dame am Infoschalter zu berichten.

Die wenigen, die trotzdem hier sind, recken ihre Hände empor. Autoschlüssel, Handys, Fotos der Familie werden hochgehalten, um den Segen zu empfangen. Der unachtsame Fotograf bekommt ungewollt eine Ladung Weihwasser auf seine Spiegelreflex.

Alles im Fließen begriffen. Sonntagsausflügler statt auf Knien rutschender Pilger. Immer mehr Kirchgänger würde man in Brasilien verlieren, klagen so manche Priester. Individualisierung der Gesellschaft, sagen die einen. Rückzug in das Private, die anderen. Damit meinen beide wohl das Gleiche. Fische kommen aus der Dose, nicht mehr aus dem Fluss.


Vor einigen Jahren zertrümmerte ein Prediger einer evangelischen Freikirche vor laufenden Fernsehkameras eine Aparecida-Nachbildung. Frei machen müsse man sich von den Bildern, sich auf das Wesentliche besinnen. Nächstes Jahr kommt der Papst nach Aparecida. Dann wird die Basilika zum Bersten gefüllt sein. Die Souvenirverkäufer freuen sich jetzt schon darauf. Und die Country-Sängerin wohl auch.

Text + Fotos: Thomas Milz





[art_4] Chile: Tauschhandel der Eliten - Die politische Stabilität Chiles

Als Michelle Bachelet im Südsommer 2006 die Wahlen zur chilenischen Präsidentschaft gewann, schien es, als kehrte sich das Land - zumindest teilweise - vergangenen Zeiten zu. Als Tochter eines nach dem Militärputsch zu Tode gefolterten Luftwaffengenerals stand sie doch für viele Chilenen auch für die fortschreitende Überwindung der Herrschaft Augusto Pinochets. Mehr noch als ihr Amtsvorgänger Ricardo Lagos symbolisierte sie durch ihre lange Zeit im Exil und ihre eigenen, persönlichen Erfahrungen in den Folterkellern des Regimes den moralischen Anspruch der chilenischen Linken auf das höchste Regierungsamt.

Doch musste man nicht auch Sorge haben, dass alte, schon fast vernarbte Wunden wieder aufbrechen könnten?

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Dass die als so gespalten beschriebene chilenische Gesellschaft die Feindschaften zwischen Anhängern und Gegnern, zwischen Begünstigten und Opfern nur schwer würde ausgleichen können, wenn die Präsidentin eindeutig letzteren zuzuordnen ist? Konnte nicht ein solcher, stark vorgetragener moralischer Anspruch, eben auch die als wirtschaftliche und politische Oberschicht nicht gerade einflusslosen ehemaligen Unterstützer General Pinochets 16 Jahre nach dem Übergang zur Demokratie mit dieser schon wieder entfremden?

Bislang jedoch scheinen sich auch die rechten Parteien Chiles mit der neuen Mandatsträgerin zu arrangieren: Innerhalb von nur einer Woche nach der Amtsübergabe hatten alle wesentlichen Oppositionsparteien ihre Unterstützung für einen ersten Maßnahmenkatalog Bachelets angekündigt.

Chile hat in der Vergangenheit stets eine Art politische und ökonomische "Vorreiterrolle" auf dem Kontinent - zu bestimmten Zeiten gar: nahezu weltweit - inne gehabt, nahmen manche Entwicklungen hier ihren Anfang, bzw. fungierte das Land als eine Art Leuchtturm für politische oder wirtschaftliche Strategien und Ideen. Schon im 19.Jahrhundert gaben der Salpeterboom und die starke Exportorientierung ein Vorbild für seine Nachbarn ab, war Chile zu einem weltweit bekannten Land, und Valparaíso zu einem Synonym für eine reiche und weltoffene Hafenstadt geworden. Die Comisión económica para América Latina (CEPAL), die dann ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Strategie der Importsubstitution spielen und für ganz Lateinamerika eine Epoche prägen sollte, hat noch heute ihren Sitz in Santiago. Der "chilenische Sozialismus" Allendes, mit dem er sich von der Radikalität Kubas abgrenzen wollte, wurde auf der ganzen Welt mit Spannung beobachtet, genauso wie die nachfolgenden Privatisierungen unter der Wirtschaftspolitik Pinochets in ihrer Reichweite und in ihrem - später - Wachstumserfolg den Kontinent beeinflussten. Und schließlich wurde in den 1990er Jahren mit Staunen betrachtet wie die demokratischen Regierungen der Concertación die Wirtschaftspolitik Pinochets fortführten und den Spielraum, den ihnen das nach wie vor hohe Wirtschaftswachstum einräumte, zu einer sozialeren "Nachjustierung" nutzten, die half, das - heute immer noch zweifelsohne hohe - Armutsniveau in den letzten 15 Jahren stark zu senken, ohne die Eckpfeiler der neoliberalen Ökonomie anzutasten.

Abgesehen von den Ereignissen im September 1973 (und der Folgeperiode), die im Rückblick immer noch als ein in seiner Heftigkeit unerwarteter Gewaltausbruch erscheinen, ist die politische Stabilität dieses Landes eine erstaunliche Konstante auf einem derart von Staatsstreichen, Diktaturen und Caudillos geprägten Kontinent. Bis auf die Zeit zwischen den ausgehenden 1960er Jahren und dem Ende der Militärdiktatur Ende der 1980er bleibt Chile in seiner politischen Entwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein fast vorbildliches Land, das weniger als alle seine Nachbarn von der als typisch lateinamerikanisch empfundenen Mischung aus Gewalt, Vetternwirtschaft und politischem Despotentum geprägt wurde.

Politische Strukturen und Parteien bildeten sich in Chile bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und damit früher als anderswo in Lateinamerika.


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Demokratisierungsprozesse und Einbindung erster organisierter Arbeitergruppierungen ins politische System erfolgten unerwartet reibungsfrei.

Früher als in manch europäischem Lande wurden die entstehenden Parteien zu Hauptakteuren der politischen Entwicklung, lernte die - überwiegend allerdings sehr kleine - Klasse der politisch einflussreichen Oberschicht die Vorteile von Kompromiss, Verhandlung und Mittelweg kennen. Von Anfang an war das politische Leben Santiagos nicht geprägt von einem polarisierten Konflikt zwischen Staat und Kirche, Zentralgewalt und Föderalgebilde, Arbeit und Kapital, sondern es gab stets eine Partei in einer Art Mittlerposition. Anders als in vielen - von langen Bürgerkriegen gezeichneten - südamerikanischen Ländern war es nahezu unmöglich, dass eine der partizipierenden Parteien alleine und auf Dauer die Macht und die Präsidentschaft übernehmen konnte. Die Folge war, dass Koalitionen ausgehandelt werden mussten, ein Lernprozess und eine Konstellation, die sich über lange Jahrzehnte ausgezahlt hat. Die traditionelle Oberschicht aus Großgrundbesitzern, die sich über die Zeit wechselnden Forderungen nach politischer Beteiligung weiterer Bevölkerungsgruppen gegenübersah, agierte stets geschickt mit kleinen Zugeständnissen. Die moderaten Liberalen wurden rasch in die Verantwortung eingebunden; die entstehende Arbeiterbewegung schnell in den Kreis der politisch entscheidenden Gruppen aufgenommen. All dies führte dann auch zur Herausbildung besonders pragmatischer, am politischen Ergebnis orientierter Parteien, wobei der Weg zum Personaltableau der Ministerien und Regierungsinstitutionen fast ausschließlich über die Rekrutierungsinstanz der Parteien führte.

Prämiert wurde nicht die rüde, gewalttätige Auseinandersetzung, die laute Agitation wider die herrschenden Verhältnisse, sondern eben die Aushandlung, das staatsmännisch-vernünftige Bündnis. Denn Parteien und gesellschaftliche Gruppen, die sich auf Kompromisse einließen, konnten so schnell Posten, Teilhabe und damit Einfluss gewinnen.

Freilich gab es auch in Chile kleinere bewaffnete Auseinandersetzungen, in den 1890er Jahren gar einen kurzen Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen. Die Kompromissbereitschaft der alteingesessenen Landbesitzer aber, die um des Machterhalts wegen anderen Bevölkerungsgruppen zunehmend politische Rechte einräumten, hat langfristig chronische Gewaltentwicklungen - wie die in Kolumbien beispielsweise - verhindert.

So ganz harmonisch, wie dies vielleicht klingen mag, war es dann aber doch nicht. Denn eine komplette Ausnahme von der Regel waren auch die chilenischen Großbürger nicht. Der Preis für diesen eher integrativen Staat bestand in dem ungeschriebenen Gesetz, die Massen der besitzlosen Landarbeiter, die Eigentumsverhältnisse auf dem Land und damit die elementaren Grundfesten der chilenischen Oligarchie nicht anzutasten. Selbst Kommunisten und Sozialisten hielten sich lange Jahre an dieses Gebot, setzten sich ein für die Minenarbeiter und urbanen Fabrikangestellten, ließen allerdings die mittelalterlich-feudalherrschaftliche Situation auf dem Land außen vor. Erst mit dem Entstehen der an der katholischen Soziallehre ausgerichteten Christdemokratie in den 1960er Jahren, die sich als eine der ersten für eine Einführung des Frauenwahlrechts einsetzte und in deren Folge die Politik und Wahlen auf die Mehrheit der Bevölkerung ausgedehnt wurde, zerbrach der Tauschhandel des "Einfluss gegen Machterhalt". Die mittlere Position im Parteiensystem brach mit der Mobilisierung der breiten Unterschichten des Landes weg, und mit dem Wahlsieg jener eher "linken" Democracia Cristiana begann der Weg zur viel konstatierten Polarisierung der chilenischen Politik, der dann zum sozialistischen Experiment Salvador Allendes (1970-1973) und später zur langen Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) führen sollte.

In der Nach-Pinochet-Zeit kommt die vor Allende bestehende spezifische Konstellation des Kompromisses wieder zum Tragen.

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War vor 1964 (Der erste Wahlsieg der oben erwähnten Christdemokraten) der Ausschluss der Landbevölkerung von politischer Teilhabe und die Unantastbarkeit des Großgrundbesitzes der Preis für die beschriebene Stabilität, so ist dies heute die ungefährdete konservative Dominanz der Medien und der öffentlichen Meinung. Die Wähler müde und nach dem Ende der Diktatur der politischen Konfrontation überdrüssig, findet man seit anderthalb Jahrzehnten wieder eine ähnliche Situation des Tauschhandels zwischen der konservativen Oberschicht und den regierenden Parteien.

Zwar scheint der Übergang zur Demokratie in Chile in vielen Punkten unvollständig und vom Militär mitbestimmt; jedoch sollte man nicht vor der Tatsache die Augen verschließen, dass eben jener Prozess Ausdruck des wieder auferstandenen Tauschhandels zwischen der Oligarchie und den Mitte-Links-Parteien ist und Chile bis heute eine kaum erwartete Periode der Stabilität und des Wachstums beschert hat. Die Änderung der Pinochet-Verfassung ist mittlerweile - bis auf das Wahlrecht - nahezu abgeschlossen. Die lange Zeit, die es dazu brauchte, war aber sicherlich entscheidend dafür, gerade den Befürwortern und Anhängern der Militärregierung nicht die Drohung einer nun folgenden Rache vor Augen zu halten. Im Parlament durch das binominale Wahlrecht, welches den beiden stärksten Parteienblöcken die gleiche Zahl an Mandaten zuspricht, fast immer ähnlich stark wie die regierende Concertación, konnten eben auch die rechten Parteien am politischen Prozess teilhaben, und so zwar den Prozess der Überwindung der Diktatur verlangsamen, aber eben auch dafür sorgen, dass sich ihre Anhängerschaft dem politischen System nicht gleich wieder entfremdete.

Das politische Leben Chiles ist nach der Diktatur - wieder - von Kompromissbereitschaft und erstaunlicher Vorsicht der Parteien untereinander gekennzeichnet. So oft von der Polarisierung der chilenischen Gesellschaft gesprochen wird, unter den Regierenden wird ein Ton angeschlagen, der durch seine geringe Lautstärke überrascht. Nun sind eben wieder Kompromisse gefragt; keine Partei kann für sich alleine die Regierungsgewalt beanspruchen. Die Parteienlandschaft ist zwar weiterhin in zwei Blöcke gespalten, von den außerparlamentarischen einmal abgesehen, aber auch diese müssen im Parlament kooperieren.

Neben dem Eindruck, dass viele Bürger nach den Erfahrungen unter Allende und der Gewalt der Militärdiktatur hart geführte politische Auseinandersetzungen und lautstarke Streits um den richtigen politischen Weg nicht mehr goutieren, sich nach Ruhe und Stabilität sehnen, scheinen sich eben jene politischen Eliten mit der Demokratie auch deswegen arrangiert zu haben, weil sie sich ihrer kulturellen Vorherrschaft weiterhin sicher sein können. Die Regierungen mögen seit über drei Legislaturperioden eher links orientiert sein, die Medienlandschaft folgt dem aber keineswegs. Es gibt kaum eine Zeitung von wirklichem Gewicht, die nicht einem konservativen Tenor entspräche; und es gibt auch keinen Fernsehsender, der nicht eher mittig-rechts auf dem politischen Spektrum einzuordnen wäre. Die öffentliche Meinung ist geprägt von einer erdrückenden konservativen Dominanz.

Und somit wird die neue Präsidentin zu einem Ausdruck auch der steigenden Belastbarkeit des beschriebenen Kompromisses. Vor zehn Jahren wäre es sicherlich unmöglich gewesen, die Tochter eines nach dem Putsch ermordeten Luftwaffengenerals als Verteidigungsministerin (ab 2002 fungierte sie als oberste Chefin der Armee), geschweige denn als Präsidentin, zu vereidigen.

Nun allerdings fürchten sich die Bewohner der reichen Ostviertel Santiagos nicht mehr vor Enteignung und Machtverlust. Ihre Erfahrungen mit dem Sozialisten Lagos haben ihnen die Ängste weitestgehend genommen.


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Die neue Präsidentin repräsentiert im von noch weitgehend von traditionellen Moralvorstellungen dominierten Chile zwar als Person einen grundlegenden Wandel: Sie löste als Frau einen alten Mann im Präsidentenpalast ab; sie tauschte nahezu die komplette Ministerriege aus; sie regiert mit einem - ein zentrales Wahlversprechen - paritätisch besetztem Kabinett. Auch hat ihre neue Regierung rasch nach dem Wahlsieg eine ganze Reihe von Maßnahmen angekündigt, hauptsächlich im Bereich der Versorgung der Rentner und der Bedürftigsten. Diese weisen aber über weite Strecken eher einen - zweifelsohne sehr wichtigen - symbolischen Charakter auf. Die Grundfesten der chilenischen Politik werden auch weiterhin nicht angetastet. Es ist eben die Kontinuität, die hier prämiert wird.

Text: Felix Butzlaff / Iris Meyer
Fotos: Oliver Krüger





[kol_1] Amor: Flossenballett mit Orchester
Unterwasserliebe auf El Hierro

Bei klarer Sicht erhebt sich in der Ferne die weiße Bergspitze des 3718 Meter hohen Vulkans Teide der bekannteren Schwesterinsel Teneriffa aus dem Blau des Atlantiks. Davor kann ich die zweitkleinste Kanareninsel Gomera ausmachen, die wie ein Schildkrötenpanzer aus dem Meer ragt. Ich befinde mich im Parque Rural von Frontera, der unter Naturschutz steht und sich, gefördert durch EU Mittel, zu einem ansehnlichen Wandergebiet entwickelt hat.


Das Wichtigste an einem Wandergebiet ist unberührte Natur, keine Autos, schöne Rastplätze, eine Nase voller Naturaromen und besonders romantische Aussichten. Im Wald von Hoya del Morcillo gibt es all das. Zwischen mächtigen Nadelbäumen, deren Rinde von Waldbränden schwarz vernarbt ist, erklimmen wir gemächlich eine Höhe von 1200 Metern, genießen frisches Bergquellwasser und die traumhafte Aussicht gen Süden. El Hierro wurde von der UNESCO zum Biosphären-Reservat erklärt und ist wie alle Kanarischen Inseln vulkanischen Ursprungs. Sie ist die kleinste und geologisch die jüngste der Kanaren, lediglich 0,5 Million Jahre alt.

Der Grund meiner Reise ist jedoch nicht das Wandern, was wohl die meisten Besucher hier her lockt, sondern das Tauchen. Der Atlantik um die Insel verspricht 18 bis 20°C Wassertemperatur das ganze Jahr über, von August bis November sollen es sogar 22-23°C sein; und Sichtweiten von 40 Metern, das will ich kaum glauben.


Tauchgang 103. 55 min. 27,0 m. La Restinga.
Es ist windstill in der Bucht von La Restinga. Der erste Tauchgang im Atlantik steht uns bevor. Kaum sind wir dem ruhigen Hafenbecken entkommen, lässt der Guide uns im Schlauchboot hart die Wellen nehmen, nichts für Fliegengewichte. Noch einmal durchzählen, Tauchgangsbeschreibung, Partnercheck und Anker raus in Hoyos del Feo. Das Wasser ist angenehm, die Unterwasserlandschaft neu, für mich alles unentdeckt, wunderschön. Und wir haben Glück, denn bei stärkerem Wind wird diese Küste nicht angefahren, so dass man auf die tauchsicheren Plätze im Mar de las Calmas, das seinem Namen alle Ehre machen soll, ausweichen muss.

Tagsüber sind sie normalerweise vergraben, oft nur Augen über dem Sand zu sehen. Sie sind Einzelgänger und jagen gerne nachts schlafende Fische und anderes Getier. Sie beißen Menschen nur, wenn sie provoziert werden und wirken mit ihrer Färbung und Form urzeitlich. Ihren Namen haben sie wahrscheinlich durch die seitlich angewachsenen Brustflossen, die sie engelartig gleiten lassen. Eine seltsame Übergangsform zwischen Hai und Rochen. Man unterscheidet 15 Arten, über die noch wenig bekannt ist. Squatina, squatina wird er genannt, der gewöhnliche Engelshai.


Natürlich haben wir ihn aufgeschreckt, allzu oft kommen hier keine Taucher vorbei - so genüsslich lag der Hai auf dem Sand und verdaute seine Mahlzeit. In Punta Restinga El Río traf ich ihn noch einmal, diesmal auf mit Algen bewachsenem Felsriff liegend, einen langen Trompetenfisch zwischen den Zähnen, dessen Schwanz noch ein paar Zentimeter aus dem Maul ragte. Scheinbar stört es den Hai nicht, dass ich ihn minutenlang aus einiger Entfernung beobachte. Doch ich muss weiter der Gruppe folgen, die ihn aufgrund seiner exzellenten Tarnung gar nicht bemerkt hat.

Tauchgang 117. 53 min. 31,6 m. El Desierto.
Der am weitesten westlich im Mar de las Calmas gelegene Tauchplatz. Die Unterwasserlandschaft ist ein rot-violettes Farbenmeer. Höhlen in geringer Wassertiefe. Eine Gruppe Sandaale tanzt. Wenn der erste vor Schreck zuckt, sind alle blitzschnell wie vom Meeresboden verschluckt, als wären sie nie da gewesen.

Zuerst steht Pancho dem Unterwasserfotografen Modell, er wirft sich in Pose. Manche Meeresbewohner erliegen der Faszination der Kamera. Wie ein über Jahre gut eingespieltes Team stehen sich die beiden gegenüber. Heute mache ich seine Bekanntschaft. Pancho, ein Zackenbarsch von fast meiner Körperlänge - dem Anschein nach. Unterwasser wirkt alles 33% größer und 25% näher als an Land. Pancho schwimmt Seite an Seite mit mir und lässt mich nicht aus den Augen. Es ist sein Revier. Ich erahne die Größe seiner Welt. Er schaut mich an und plötzlich bin nicht mehr ich die Beobachterin. Meine Ausrüstung ist mein Schutz und mein Käfig zugleich. Ich kann nicht wie er, begrenzt in Aufenthaltsdauer und Abtauchtiefe. Ich bin nur Zaungast. Wie ein eingesperrtes Tier in einem Zoo komme ich mir vor, wenn Pancho mich anschaut. Rollenwechsel. Ich tauche schneller, will seinem Blick ausweichen, will näher zu meinen Artgenossen. Mir wird etwas mulmig zumute. Zum ersten Mal bin ich Unterwasser leicht irritiert. Irgendwann hat er genug. Gelangweilt, vielleicht vom Hunger getrieben, unterbricht er das Konzert der Röhrenaale durch einen schnellen Flossenschlag und verschwindet in den dunkelblauen Tiefen.


Tauchgang 121, 51 min. 33,7 m. El Bajón.
El Bajón ist einer der großartigsten Tauchgänge der Insel, lese ich vor der Reise. Das stimmt. 300 Meter von der Küste entfernt und unweit der Hafeneinfahrt La Restingas sieht man mit dem Fernglas eine rote Boje. Diese kennzeichnet ein Unterwassergebirge, das steil aus 100 Meter Tiefe bis auf acht Meter unter die Wasseroberfläche ragt. Drumherum Strömung und Schwärme von Fischen. Auf 20 Meter bildet sich zwischen den zwei Bergspitzen ein Plateau. Wenn man in dieser Tiefe den ersten Felsen verlässt, taucht gespenstisch groß aus dem Nichts der Nachbarfels auf. Der Blick an der Steilwand nach unten offenbart einen Artenreichtum sondergleichen. An der Spitze - ich kann nicht mehr sagen welche Himmelsrichtung - stehen Barrakudas, Makaronesen-Zackenbarsche, Streifenbrassen. In der Wand verstecken sich Muränen. Eine riesige Bernsteinmakrele jagt in der Tiefe. Ich schwebe beinahe regungslos vor einem überwältigenden Szenario. Einfach schauen, kann mich kaum satt daran sehen.


Am Anmutigsten finde ich einen Schwarm atlantischer Drückerfische. Jeder Drückerfisch hat, anders als zum Beispiel Schwärme von länglichen Barrakudas, etwas eindeutig Identifizierbares. Ich sehe, wie sie zur Vorwärtsbewegung ihre großen Rücken- und Bauchflossen relativ langsam zur Seite abwinkeln, ungewöhnlich. In dem Schwarm entsteht ein Eindruck von Asynchronität. Eine Momentaufnahme. Dafür verantwortlich ist die Bewegung der einzelnen Fische, die Winkel der Flossen, ihre Wasserlage, das Schillern in unterschiedlichen Farbnuancen. Es ist, als legten sie sich in ruhigen, ausgeglichenen Bewegungen in die Kurve. Sensationell. Beim Austauchen halte ich mich am Felsdach auf acht Meter Tiefe zum Deko-Stop fest, die starke Strömung reißt mich fast fort.

Deko-Stop
Beim Deko-Stop kann sich der Körper, der während des Tauchgangs mit Stickstoff aus der Atemluft gesättigt wurde, wieder den normalen Druck-Verhältnissen über Wasser anpassen. Dabei wird bei geringerer Tauchtiefe und damit geringerem Druck, der Stickstoff vom Blut abgegeben und über die Atmung ausgeatmet. Taucht man zu schnell auf, wird der Stickstoff zu schnell frei. Der Stickstoff kann Blasen bilden und unter Umständen Blutgefäße verstopfen, wodurch Zellen sterben können. Das ist ziemlich gefährlich.

Wieder an Land und später in der Nacht, nach einigen eisgekühlten Cervezas glaube ich, die Sterne vom Himmel holen zu können. Solange, bis die Augen vom Schauen zufallen.

Text + Fotos: Marianne Bender

Link:
Dass der Atlantik um El Hierro ein sagenhaftes Tauchgebiet ist, beweist man sich alljährlich im Fotowettbewerb, dem Open Fotosub. Dieser, seit 1996 als ein großer internationaler Wettbewerb der Unterwasserfotografie etabliert, findet an fünf Tagen im Oktober statt: [Open Fotosub]





[kol_2] Grenzfall: Die Magier der Zeit
Anmerkungen zum Maya-Kalender

Das Volk der Maya besaß erstaunliche Kenntnisse über Astronomie und Mathematik. Es verwendete ein ausgeklügeltes Kalendersystem und konnte astronomische Ereignisse wie Sonnenfinsternisse exakt voraussagen.

Unsere Ausdrucksform für die Ordnung der Zeit ist der Kalender. In der westlichen Welt wird der Gregorianische Kalender verwendet, welcher auf dem solaren Jahr basiert und als Zählsystem die 12:60er Einheiten verwendet. Die Ursprünge des 12:60er Zählungsmusters wurden bereits um etwa 3000 v. Chr. begründet. Zu diesem Zeitpunkt unterteilten die Ägypter den Kreis in 360 Grad mit zwölf gleichen Teilen zu je 30 Grad und legten dadurch den Grundstein für die zwölf Häuser des Zodiak, sowie auch die traditionelle westliche Astrologie und den 12-Monats-Kalender gelegt. Nachdem 12 Monate zu je 30 Tagen nur 360 Tage ergaben, wurde eine weitere Reinigungsepoche von 5 speziellen Tagen angehängt, um so das solare Jahr zu vervollständigen. Das System des in zwölf gleiche Teile geteilten Kreises von 360 Grad, als eine Annäherung an oder sogar als Ersatz für die Mondzyklen, breitete sich um etwa 1500 vor Christus nach Indien und China aus. Von Babylon und Ägypten aus verteilte sich die "Zwölferteilung des Kreises" nach Griechenland und dann nach Rom. Etwa um 1500 v. Chr. war der Kalender bekannt als der Julianische Kalender und basierte auf den 365,25 Tagen des synodischen Jahres. Der Gregorianische Kalender hingegen fußt auf dem tropischen Jahr, das mit 365,2422 Tagen rechnet. Unser heutiger Kalender ist von vielen Ungenauigkeiten bestimmt und besitzt keine gleichmäßigen Messeinheiten. Dies wird beispielsweise in den unterschiedlich langen Monaten und der Notwendigkeit der Schalttage deutlich.

Das Volk der Maya lebte nach einem solar-lunaren Kalender, dem so genannten 13-Monde-Kalender. Viele alte Kulturen wie die Kelten und die Germanen haben diesen Kalender ebenfalls benutzt.

Grundsätzlich basiert ein lunarer Kalender auf den synodischen Zyklen des Mondes (von Neumond zu Neumond). Ein synodischer Zyklus misst den Mond von der Erde aus gesehen. Hierbei dreht sich der Mond alle 29,5 Tage um seine eigene Achse. Deswegen sehen wir auch immer nur eine Seite des Mondes. Es existieren aber auch noch andere Berechnungen für einen Mondzyklus. Der siderische Zyklus wird von dem Punkt am Himmel gemessen, an dem der Mond erscheint bis zu seinem Wiedererscheinen an eben diesem Punkt. Dies entspricht 27,33 Tagen. Weitere Mondzyklen sind beispielsweise der Mondzyklus mit 27,32 Tagen (entspricht der äquatorialen Mondumlaufphase) oder der drakonische Mondzyklus mit 27,2 Tagen (Zeitabschnitt, den der Mond braucht um an denselben Mondknoten (was ist das?) zu kommen). Der Mittelwert dieser unterschiedlichen Berechnungen liegt bei 28 Tagen.

Mit dieser Einheit rechnet auch der 13-Monde-Kalender der Maya. Somit ergeben sich 13 Monde zu je 28 Tagen, was genau 364 Tagen entspricht. Der "übriggebliebene" Tag wird als "Grüner Tag" oder "Tag außerhalb der Zeit" bezeichnet und ist prinzipiell der Jahresbeginn im Rahmen dieser Zeitrechnung. Der Extra-Tag liegt um den 26.7., ganz genau ist dies nicht zu bestimmen. Der Zeitraum vom 23.7. bis 28.7. wurde früher als "Hundstage" bezeichnet. In diesen Tagen hat Sirius B (der Siriuskomplex steht im Sternbild des Hundes) eine unmittelbare, auch messtechnisch nachweisbare Ausstrahlung auf die Erde, wovon alle alten Hochkulturen Kenntnis hatten.

Die genaue Funktionsweise des Maya-Kalenders ist für die westliche Welt schwer nachvollziehbar. Zeit wird eher als Programm nach fraktalem Muster verstanden und nicht linear wie nach unserem Kalendersystem. Es existieren verschiedene Programmmodule, welche nebeneinander ablaufen und nach unserer Zeitentsprechung unterschiedlich lang sind: Der Ritualkalender der Maya, der Tzolkin, beinhaltet einen Zyklus von insgesamt 260 Tagen. Sein grundsätzlicher Rhythmus wird durch die Taktung 13:20 bestimmt, statt der 12:60er Zählung unseres Systems. Der Sonnenkalender der Maya _ der Haab _ basiert hingegen auf den 365 Tagen des Sonnenjahres. Das jeweilige Datum wird durch eine Kombination von Haab und Tzolkin-Bezeichnung bestimmt. Der kleinste Zyklus innerhalb des Maya-Kalenders ist ein Vierer-Rhythmus, der durch die vier Farben rot, weiß, blau und gelb bestimmt wird. Es folgt der 13er Rhythmus, auch als Welle bezeichnet, der vielleicht am ehesten mit unserer Wochenrechnung vergleichbar ist. Seine Bezeichnungen laufen von eins (magnetisch) bis 13 (kosmisch). Der nächst höhere Rhythmus wird durch die 20er Zählung von IMIX (Drache) bis AHAU (Sonne) definiert. Ein Datum nach dem Tzolkin wäre beispielsweise "roter kosmischer Drache". Eine weitere wichtige Zeiteinheit ist das Zeitschloss, welches sich aus der Kombination der ersten beiden Grundzyklen ergibt und demnach 52 Tage beinhaltet (vier mal 13). Der längste Zyklus im Maya-Kalender beträgt 26.000 Jahre, so lange wie eine Umdrehung unseres Sonnensystems um die Sternengruppe der Plejaden dauert. Die Tibeter, Ägypter, Cherokee und Hopi-Indianer beziehen sich in ihrer Zeitrechnung ebenso auf einen solchen 26.000 Jahre Zyklus. Dieser Zyklus endet nach dem Maya-Kalender am 22.12.2012. Zu diesem Zeitpunkt ereignet sich eine sehr seltene astronomische Konstellation, da die Sonne zur Wintersonnenwende 2012 in direkter Konjunktion mit der Milchstraße stehen wird.

Text: Kristina Willenborg






[kol_3] Macht Laune: Regen im Paradies

Im Paradies scheint immer die Sonne. Wie könnte es auch anders sein. Traumurlaub ist blauer Himmel am Tag und kleine feine Schleierwölkchen am Abend, von der untergehenden Sonne orange eingetüncht. Hand in Hand den verträumten Blick in die Ferne gerichtet. Die Gedanken bekommen Flügel. Gemeinsame Zukunftsplanung inklusive.


Regen passt da nicht hinein. "Regen haben wir ja auch zuhause", sagen sich die hellhäutigen Touristen aus Nordeuropa. Viel lieber würden sie sich in die pralle Sonne legen, um sich direkt am ersten Tag den gepiercten Bauch knallig zu verbrennen. Graues Regenwetter ist tödlicher Alltag. Den betäubt man mit Rauschmitteln und sinnlosem Fernsehen, damit er schneller vorbeizieht.

Regen stört gewaltig. Aufziehende Unwetter noch mehr. Sobald die ersten Tropfen fallen, verlassen die meisten Ausflügler den Traumstrand auf der Trauminsel im Traumland. Graue Wolken und kalter Wind verwandeln das gelobte Land in eine trübe Hölle. Plötzlich fühlt man sich wie am Ende der Welt, vermisst die heimische Zentralheizung und das gemütliche Sofa. Werden wir jemals wieder dorthin zurückkehren, oder an diesem grausamen Ort enden?

Nur einige wenige trotzen den Gezeiten. Ein Deutscher öffnet eine von zwei mitgebrachten Weinflaschen, um sich von innen gegen den plötzlich kalt peitschenden Wind zu wärmen. Kaltfront mitten im Sommer. Ein Argentinier springt wild in den wüst tobenden Wellen umher. Er liebe Regenwetter, sagt er trotzig. Sich den Urgewalten entgegenstellen.

Etwas weiter den endlos langen Strand hoch liegen zwei sich auf-und-ab bewegende Körper halb im Gebüsch. Sich aneinander wärmen ist ein gutes Rezept. Spaß haben, auch wenn um einen herum die Welt untergeht. Oder endlos lange im Wasser bleiben, durch die warmen Wellen tauchen. Zum Luftholen den Kopf in den schneidigen Wind halten. Dann wieder hinab ins schäumende Nass.


Die Trampelpfade durch den Urwald verwandeln sich in reißende Ströme. Von Baum zu Baum muss man querfeldein springen, um nach Hause zu kommen. Schuhe wären tödlich. Nur der blanke Fuß findet Halt unter Waden hohem Wasser. Alle Sorge gilt der hoch empfindlichen Kamera im durchnässten Rucksack.

Die Zwischenstopps verbringt man mit Baden im aufgewühlten Meer. Das ist wärmer als die frostige Luft. Cachaça pur, bezahlt mit durchweichten Geldscheinen. Ein die Küste entlang tuckerndes Boot wird heran gewunken. Klar könnt ihr mit, meint der Bootsmann. Die Stimmung an Bord ist gut. Wie eine verschworene Gemeinschaft fühlen sich die Unbekannten, die Entkommenen. Die Füße im Meer baumeln lassen, den Fahrtwind im Gesicht.

Getrotzt hat man, dagegen gehalten bis fast zum Schluss. Am Hotel angekommen winken die schon seit Stunden an der Bar eingekehrten Warmduscher. Lachen über die blauen Lippen der Wagemutigen. Was machen wir denn nur bei diesem Wetter?

"Für immer leben wollen alle", sagte einmal ein kluger Mensch. "Aber mit einem verregneten Sonntag wissen sie nichts anzufangen."

Text + Fotos: Thomas Milz





[kol_4] Lauschrausch: Anti-Globalisierungssound vs. Ramón Valle

Diverse
Mestizo Music
Trikont


"La gente pobre no tiene lugar" heißt es direkt in der ersten Textzeile, die mir aus der Box entgegen klingt. Die mexikanische Band Panteón Rococó formuliert, worum es bei dieser Compilation geht: Solidarität mit der Anti-Globalisierungsbewegung und mit den benachteiligten Menschen in Lateinamerika.

Die Verbindung von Widerstand und Musik hat auf diesem Kontinent Tradition: erst wurden Protestlieder gegen die Spanier gesungen, dann während der mexikanischen Revolution entsprechende corridos geschrieben. Zudem sind die Liedermacher der 60er und 70er Jahre, die gegen die Militärs und die USA ansangen, international bekannt.

Nun also eine neue Generation mit Ska, Hiphop, NuMetal, Raggamuffin und elektronischen Beats, vermischt mit traditionellen Klängen: Mit dabei Sargento Garcia, Karamelo Santo, die den IWF verdammen, die Kölner Band La Papa Verde, The Platform mit einem Dub gegen die Freihandelszone ALCA, Abuela Coca aus Uruguay, die Kolumbianer Bellavista Social Club, die gegen das Militär rappen uvm. Dazu ein dickes und informatives Booklet. Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit wird ewig währen, aber zumindest musikalisch haben die Globalisierungsgegner schon gewonnen.


Ramón Valle
Memorias
ACT

Ramón Valle, in Amsterdam lebender kubanischer Pianist, hat sein drittes Album auf ACT veröffentlicht. Es ist in der Reihe "Piano Works" des Labels erschienen und enthält neben sechs berühmten Titeln des kubanischen Komponisten Ernesto Lecuona sechs Eigenkompositionen. Und vor allem dafür lohnt sich der Kauf des Albums.

Nicht weil die Lecuona-Stücke schon auf der ersten CD veröffentlicht sind – auch sie sind wunderbar – nein, sondern weil Valles eigene Stücke, der Titel "Andar por dentro" sagt es schon, sein melancholisches Inneres nach außen bringen, wie früher bei Keith Jarrett.


Perlen wie "Son-a-Tina", eine Hommage an seine Freundin, oder "Levitando" erinnern denn auch passagenweise an Jarretts "Köln-Konzert" und andere seiner Amufnahmen aus den 70er Jahren. Das, im Wechselspiel mit den kubanischen Rhythmen von Lecuona, macht diese Platte des Ausnahmepianisten zu einem ganz besonderen Genuss.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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