caiman.de 05/2016
[kol_2] Sehen: Schätze aus der Unterwelt (Terra X)
Funkelnde Tunnelanlage in Teotihuacán Die mexikanische Tempelstadt Teotihuacán ist eines der großen Rätsel der Archäologie. Mit der Entdeckung einer unterirdischen Tunnelanlage enthüllen Forscher ihre Geschichte. 2015 hat ein "Terra X"-Team die Grabungsarbeiten im Tunnel begleitet. Die zahllosen Fundstücke geben Einblick in das Leben einer multikulturellen Gemeinschaft, die eine zweite Chance erhielt und in Teotihuacan einen Neuanfang gewagt hat. Sendetermine Sonntag, 8. Mai 2016, 19.30 Uhr, ZDF Samstag, 7. Mai 2016, 20.15 Uhr, ARTE
Terra X: Schätze aus der Unterwelt - Entdeckung in Mexiko Dokumentation Sergio Gómez Chávez, heute Chefarchäologe in Teotihuacán, ist noch Assistent, als er dort 2003 einen ummauerten Bodenschacht entdeckt, der viele Meter in die Tiefe führt. Der Wissenschaftler wagt den riskanten Abstieg in der Hoffnung auf eine große Entdeckung. Und die ist ihm tatsächlich gelungen. Am Ende des Schachts stößt Gómez auf einen zweiten, der horizontal verläuft und sich als ein über 100 Meter langer Tunnel entpuppt. Er enthält tausende Artefakte. Die meisten von ihnen sind erwartungsgemäß sehr kostbar. Viel wichtiger aber sind die Geschichten, die sie erzählen. Die Fundstücke geben Einblick in das Leben der Erbauer und Bewohner von Teotihuacan, über die immer noch wenig bekannt ist, weil sie keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben.
Zwölf Jahre sind die Archäologen mit Laserscanner, Spaten und Pinsel im Tunnel zugange. Sie schauen durch Schutzmauern, entdecken Werkzeug-Depots, graben Schmuck, Schatullen, Riesenmuscheln und vieles mehr aus. Und sie stellen fest, dass Wände und Decken im Dunkeln wie ein Sternenhimmel funkeln. Die eigentliche Sensation aber ist, dass der Gang in eine dreiarmige Kammer mündet, die direkt unter der "Pyramide der Gefiederten Schlange" liegt. Das Heiligtum ist dem Schöpfergott der Teotihuacanos gewidmet, der höchsten Gottheit in der damaligen Welt. Zunächst vermuten die Forscher, dass sie auf ein Herrschergrab oder zumindest auf die Grablege eines hohen Priesters gestoßen sind. Diese Hoffnung erfüllt sich nicht. Aber einzigartige Funde zeigen, dass die unterirdische Anlage als geheimer Kultplatz gedient hat.
Vor etwa 1800 Jahren wurde sie mit Süßwasser geflutet, verschlossen und bis zu ihrer Entdeckung nicht mehr betreten. Zum ersten Mal in der langjährigen Forschungsgeschichte der Pyramidenstadt ist es einem Archäologenteam gelungen, die bizarr anmutenden Rituale und märchenhaften Jenseitsvorstellungen der Gründungsväter von Teotihuacan zu rekonstruieren und zu erklären. Die "Terra X"-Folge "Schätze aus der Unterwelt" erzählt die Geschichte einer multikulturellen Gemeinschaft, die um die Zeitenwende vor dem Vulkanausbruch des Popocatepetl ins Hochland von Mexiko geflohen ist und dort aus dem Nichts eine der mächtigsten Metropolen ihrer Zeit errichtete.
Der Ort, an dem die Götter geboren sind Von Terra X-Redakteurin Claudia Moroni Als die Azteken im 14. Jahrhundert die verlassene Metropole Teotihuacan im mexikanischen Hochland erschlossen, sind sie überwältigt von ihrem Anblick. Gigantische Stufenpyramiden, unzählige Tempel und zeremonielle Plattformen, dazu eine Prachtstraße nie gesehenen Ausmaßes und unzählige, mehrstöckige Häuser mit identischen Wohnungen. Die Stadtplanung beruht auf einer strikt eingehaltenen Rasterordnung, präzise ausgerichtet entlang definierter Achsen zu wichtigen Himmelskörpern. Kein Stein ist zufällig verarbeitet, keine Straße beliebig angelegt. Die aztekischen Entdecker sind überzeugt, dass sie den Ursprung der Welt gefunden haben. Sie nennen ihn den „Ort, an dem die Götter geboren sind“ oder, in der Nahuatl-Sprache der Azteken: Teotihuacan. Doch die Metropole ist menschenleer, die Kultur, die sie einst geschaffen hat, untergegangen.
Bis heute sind die Teotihuacanos ein Volk ohne Gesicht. Wir wissen weder, wer die Baumeister der majestätischen Pyramidenstadt waren, noch kennen wir ihre Herrscher, ihre Religion, wissen wenig über die technischen Fertigkeiten oder Lebensgewohnheiten der Bewohner. Die Teotihuacanos haben weder Schrift noch bislang entzifferbare Codices wie die Maya und Azteken hinterlassen. Klar ist nur: Nach einer Blütezeit von einigen hundert Jahren muss Teotihuacan spätestens im 7. Jahrhundert nach Christus aus bislang ungeklärten Gründen kollabiert sein. Auch die rätselhaften Herrscher des Imperiums verschwanden im Dunkel der Geschichte. Ihre Gräber könnten der Schlüssel zur Antwort auf viele Fragen sein. Doch trotz jahrzehntelanger Suche wurde noch nie ein Herrschergrab entdeckt.
Im Herbst 2014 präsentierte das Team um den Chefarchäologen Sergio Gómez Chávez nach mehrjährigen Grabungen einen wahren Schatz: Über 50.000 rituelle Objekte, entdeckt in einem Tunnel unter der heiligen "Pyramide der Gefiederten Schlange". Über 1800 Jahre war der Gang in die Unterwelt versiegelt. Niemand weiß, warum die Bewohner der Stadt das getan haben. Unter den Gegenständen befinden sich kunstvoll gehauene Steinskulpturen, Edelsteine, Weihrauchbehälter, Klingen und Werkzeuge aus Obsidian ein Sortiment kostbarster Dinge, die vermutlich als Opfergaben in den circa 138 Meter langen Tunnel deponiert wurden.
Am erstaunlichsten ist aber ein Fund, der zunächst gar nicht so aufsehenerregend klingt: Im Tunnel fanden die Forscher unzählige Spuren von Pyrit. Schatzsucher kennen es als „Katzengold“. Das golden glänzende Metall, das in der Nähe von Teotihuacan in der Natur nirgends vorkommt, muss von weit her transportiert worden sein. Es wurde mühsam pulverisiert und dazu benutzt, die Decke des Tunnels auszugestalten. Wer einst mit einer Fackel hinein ging, über dem erstrahlte das Deckengewölbe silbergolden funkelnd wie ein klarer Sternenhimmel.
Eine Theorie lautet, dass es sich bei den Statuen um Darstellungen der Gründungsväter von Teotihuacan handelt. Vielleicht zeigen die Figuren aber auch die Bildnisse mächtiger Schutzgottheiten. Klar ist nur, dass an dem unterirdischen See regelmäßig rituelle Handlungen vollzogen wurden, die um 200 nach Christus aus bislang ungeklärten Gründen eingestellt wurden.
Im November 2015 endete die Grabungskampagne unter der „Pyramide der Gefiederten Schlange“ zumindest für dieses Jahr. Der Tunnel, der ausgetrocknete Grundwasser-See und das Kammersystem sind freigelegt sowie sämtliche Funde gesichert. Ende November begann für die Archäologen die spannende Phase der Analysen und Schlussfolgerungen. Eines ist jetzt schon sicher: Die Entdeckungen sind ein Meilenstein in der Forschungsgeschichte der mexikanischen Tempelstadt. Zum ersten Mal können Archäologen rekonstruieren, wie sich die Teotihuacanos die Entstehung der Welt vorgestellt haben. Text: ZDF + Claudia Moroni (Terra X) Fotos: ZDF + Anika Dobringer [druckversion ed 04/2016] / [druckversion artikel] |