ed 04/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Fünfte Etappe: Durch die Geierschlucht zur Autobahn-Siesta
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


chile: Treffen auf dem Zentralfriedhof von Santiago
THOMAS MILZ
[art. 2]
chile: Valparaíso (Bildergalerie Teil 2)
Rundgang durch Chiles heimliche Kulturhauptstadt
THOMAS MILZ
[art. 3]
peru: Muyu Muyu und die Sonnenuhr der Quechua
NIL THRABY
[art. 4]
macht laune: Reineta, Palta, Pisco Sour
Auf der Suche nach dem perfekten Genuss
THOMAS MILZ
[kol. 1]
hopfiges: Mahou negra
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 2]
grenzfall: Grenzgänger in Katalonien 1939 – 1945 (Teil 1)
WOLFGANG HÄNISCH
[kol. 3]
lauschrausch: Neue Stimmen aus Portugal
Maria de Fatima trifft Carminho
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappe [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Fünfte Etappe: Durch die Geierschlucht zur Autobahn-Siesta
 
19. August 2012 um kurz vor 6.00 Uhr im Ruinendorf Ruesta: Wir haben die Rucksäcke gepackt und machen uns auf den Weg. Diesmal gibt es keine Gregorianischen Choräle und auch sonst keine Musik als Weckruf. Selbst am frühen Morgen spürt man die Trockenheit der Luft und die Auswirkungen der für Nordspanien ungewöhnlichen Dürre werden uns präsentiert, als wir ein Flussbett ohne Fluss überqueren. Cayetana wird ganz nervös, als Pietro sich uns anschließt – der Italiener, der wie Jesus aussieht. Während ich mit Pietro spirituelle Gespräche führe über die Frage, ob Gott müde werden kann und anschließend den deplorablen Zustand der heutigen Kirche anspreche, fotografiert Cayetana aus einer Laune heraus Pietros Pilger-Schatten. Später wird sie das Foto vergrößern und "der Schatten von Jesus" nennen.

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Heute haben wir es nicht eilig, der Himmel ist leicht bewölkt und die Sonne wird weniger brennen als während der letzten drei Tage. Es ist bereits 10 Uhr als wir beim letzten Ort von Aragón, dem Dorf Undués de Lerda, ankommen. Und wie alle Orte dieser Region liegt er auf einem steilen Hügel. Cayetana seufzt entnervt, als sie nach oben blickt. Zur Belohnung gibt es im Café gegenüber der Kirche Schoko-Törtchen und Kakao für sie. Kurz nach dem Abstieg passieren wir den Grenzstein, der in spanischer und baskischer Sprache den Eintritt ins Königreich Navarra markiert und in den natürlich auch eine Santiago-Muschel eingraviert ist. Wir marschieren immer schleppender durch staubige, graugelbe Felder und nähern uns der Mittagshitze. Pietro und ich übertreffen uns gegenseitig darin, die Zersetzung der Katholischen Kirche durch faschistoide Sekten wie das "Opus Dei" oder die "Legionäre Christi" zu beklagen. Meine kleine Andalusierin hört aufmerksam zu und macht dann wieder einen ihrer erfrischend kompromisslosen (und vielleicht prophetischen) Vorschläge: der nächste Papst solle sich Franziskus nennen und "alle, die in schwarzen Limousinen fahren" einfach exkommunizieren.

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Jetzt wird der Feldweg durch eine Asphaltstraße abgelöst und wir sehen links einen Vorort des 5.000-Seelen Städtchens Sangüesa, das im Mittelalter kurz die Königsresidenz von Navarra war. Endlos geht der Camino vorbei an Schuppen und Fabrikhallen; erstaunlich, dass ein mittelalterlicher Museumsort mitten auf dem Land von so viel Industrie umgeben sein kann. Endlich erreichen wir das Zentrum und klopfen an die Pilgerherberge. Nach dem üblichen Programm (Duschen, Auswechseln der Blasenpflaster, Kamera aufladen) stehen wir nach einer kurzen Siesta vor dem weltberühmten Portal der romanischen Kirche Santa María la Real - Sangüesas wichtigstem Monument. Fasziniert betrachten Pietro und ich die mit Schwindel erregendem Detailreichtum gestaltete Fassade. Direkt rechts über dem Eingang ein gruseliges Höllen-Monster, das drei Menschenleiber auf einmal verschlingt und seit dem 13. Jahrhundert wohl viele Kirchgänger in Todesangst versetzt und zum Gehorsam gemahnt hat. Auf der linken Seite des Portals drei Mariendarstellungen, auf denen der französische Meister Leodegarius seine Unterschrift hinterlassen hat. Und darüber Christus als Weltenrichter, rechts die Hölle und links das Paradies, vor beiden warten die armen Sünder entweder als lachende Fratzen oder als brav aufgereihte Büßer.

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"Mein Gott, sehen die dämlich aus!", platzt es aus Cayetana heraus. "Aber diese Kunstwerke sind über 800 Jahre alt…", protestiere ich gegen ihr vernichtendes Urteil. "Tja, Alter schützt vor Torheit nicht", kontert die 22-jährige frech. Jede kunsthistorische Diskussion im Keim erstickt.

Im Innern der Kirche wird meine Weggefährtin jedoch ganz still. Hier präsentiert sich Santa María la Real deutlich freundlicher als von außen. Lange bewundern wir einen sehr schönen Renaissance-Altar. Besonders die Skulpturen der Evangelisten wie der heilige Markus mit dem Löwen sind exzellent bemalt.

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Wenig später sitzen wir unter der üblichen Hitzeglocke von 40° Grad in einem Straßencafé. Während Cayetana die männliche Dorfjugend begutachtet, steigern sich Pietro und ich in eine Kunst-Diskussion über die Frage "Wer war der genialere Künstler: Michelangelo oder El Greco?" Pietro als Italiener verteidigt Michelangelo und ich schlage mich natürlich auf die Seite Spaniens für den Griechen, der in Toledo spanischer malte als alle spanischen Renaissance-Maler zusammen. Am Ende einigen wir uns darauf, dass Michelangelo das größere Universalgenie, aber El Greco als Maler besser war.

Plötzlich werden wir von drei Männern, die am Nachbartisch vor leeren Mojito-Gläsern sitzen und schon etwas torkelnd sprechen, unterbrochen: "Bei der Hitze könnt ihr euch über so Kunstzeug unterhalten? Aber hey, endlich mal wieder Ausländer. Uns ist langweilig, hier passiert ja nie was. Also kommt, erzählt uns was – aber nix über El Greco und die andern Jungs, die schon lange tot sind, sondern was ihr unterwegs erlebt habt." Sie bestellen die nächsten Mojitos, doch angesichts der Hitze (Pietro: "Alkohol erst bei Sonnenuntergang") beschränken wir uns auf Limo.

Am Abend müssen wir uns von Pietro verabschieden, er muss zurück nach Rom ("Im Vatikan Ordnung schaffen", meint er scherzhaft). Und so zerfällt unsere "Apostelgemeinschaft von Arrés".


20. August, Aufbruch von Sangüesa um 7.00 Uhr: Nachdem es gestern für Cayetana etwas viel Kultur war, wollen wir heute die Natur zu ihrem Recht kommen lassen und den kleinen Umweg durch die Geierschlucht gehen. .

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Ursprünglich etwas abseits des Camino, hat sie sich, da immer mehr Pilger dieses Naturerlebnis nicht versäumen möchten, inzwischen zu einer "inoffiziellen" Nebenstrecke entwickelt. Zuerst müssen wir fünf schreckliche Kilometer entlang der N240 gehen – eingeklemmt zwischen Leitplanken und hupenden LKW – bis wir in Liédana ankommen. Dann aber marschieren wir fernab der Straße auf dem Wanderweg zur Geierschlucht. Ein Dutzend der Greifvögel kreisen bereits über uns. Cayetana behauptet, es seien Knochenbrecher-Geier (die größten Vögel Europas), doch es sind wohl die kleineren Gänsegeier, wobei Knochenbrecher natürlich schicker klingt. Und dann liegt er vor uns: der Tunneleingang zur Schlucht Foz de Lumbier, wie ein schwarzer Schlund zur Unterwelt in den hohen Felsen eingelassen. Etwas zögernd lenken wir unsere Schritte hinein. Laut Reiseführer ist dieser Tunnel nur 100 Meter lang, doch schon nach 30 Metern kommen wir uns vor wie "verschluckt". "Ich seh jetzt gar nichts mehr – Du?", hallt Cayetanas Stimme zaghaft aber echo-verstärkt aus dem dunklen Nichts neben mir

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Meine Handy-Taschenlampe hat nur einen Meter Reichweite, also setzen wir vorsichtig einen Schritt vor den anderen und hoffen, dass es in dieser Finsternis weder Schlangen noch Spinnen gibt. Als Cayetana flüsternd bemerkt, dass die 100 Meter längst vorbei sein müssten, hören wir plötzlich Kindergeschrei. Und dann dringt Licht in den Tunnel, ein paar Schritte weiter und wir stehen wieder unter blendender Sonne. Vor uns jedoch keine einsam kreisenden Geier, sondern eine Invasion menschlicher Eindringlinge: Pfadfindergruppen, Familien (mit Kinderwagen), Radfahrer. "Wie kommen denn all diese Leute hier hin?", fragt Cayetana enttäuscht, sichtlich um ihr Einsamkeits-Erlebnis betrogen. "Ich denke, durch denselben Tunnel, einen anderen Weg gibt’s nicht, ich sehe jedenfalls keinen Hubschrauber…"

Nachdem wir uns am Menschenauflauf vor dem Tunnel vorbei gedrängt haben, eröffnet sich dann doch der Blick auf die Zauberwelt dieser nur einen Kilometer langen, aber sehr tiefen und spektakulären Schlucht. Steilwände aus gelbgrauem Fels ringsumher, darüber kreisen tatsächlich Dutzende von mächtigen Geiern, am Fuß der Felshänge säumt dichtes Gebüsch die Ufer und ganz tief unten schimmert grün der Río Irati. Cayetana legt den Kopf in den Nacken, um die elegant schwebenden Geier zu betrachten – und schielt neidisch nach rechts, wo ein – offenbar professioneller – Fotograf mit einer kolossalen Kamera den Geierflug filmt. "Mit dem Objektiv kann man bestimmt jede Feder sehen…", bemerkt sie. Und muss dann frustriert einsehen, dass ihr bescheidener Fotoapparat solche Details aus der Entfernung nicht hergibt. Plötzlich – wir sind so erschrocken, dass wir vergessen, zu fotografieren – schwingt sich nur ein paar Meter vor uns ein mächtiger Geier empor.

Wir verlassen die Schlucht durch den zweiten ehemaligen Eisenbahntunnel. Wieder im Licht, ist nicht klar, ob die gelben Muscheln des Camino nun links oder geradeaus zeigen. Wir entscheiden uns für den Trampelpfad links, der durch endlose, verbrannte Felder mit depressiv den Kopf hängen lassenden Sonnenblumen führt. Als wir endlich ans grüne Ufergebüsch des Río Irati kommen, gibt es keinen Übergang und plötzlich führt der gelbe Pfeil zurück. Genau an unseren Ausgangspunkt – wir sind in dieser Mittagshitze einen riesigen, Schweiß treibenden Kreis gegangen!



Also geradeaus, bis wir nach knapp zwei Kilometern vor dem Ort Lumbier die Brücke nach links überqueren. Jetzt müssten wir eigentlich entlang der Autobahn-Auffahrt die Fortsetzung des Camino suchen, aber hinter der Brücke erhebt sich zu verlockend ein Restaurant mit Bar. Beide haben wir denselben Wunsch: nur weg aus dieser sengenden Sonne. Beim Hineingehen erklärt Cayetana ihren Verdacht, dass die Gastronomie von Lumbier vielleicht absichtlich die Wegweiser zur "Ehrenrunde" durchs Sonnenblumenfeld verstellt hat, damit die Pilger besonders durstig in Lumbier einkehren müssen.

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Wir stürmen an die Theke und trinken einen halben Liter eiskalte Casera (Limo) in einem Zug. Auf den Barhockern sitzend geht der Blick nach draußen ins gnadenlose Mittagslicht und wieder haben wir den gleichen Gedanken: Die Motivation, in diese Hölle zurück zu kehren, ist auf dem Nullpunkt, die Aussicht auf ein frühes Mittagessen in dieser kühlen Halle viel verlockender. Es ist zwar erst 13.15 Uhr, etwas früh für ein Mittagessen in Spanien. Doch der Kellner, unsere Gedanken erratend, weist uns darauf hin, dass der Speisesaal schon geöffnet sei und wir jenseits der Glastür Platz nehmen könnten. Und wir sind nicht die Ersten. Aber die Dreckigsten. Wir befinden uns inmitten einer märchenhaft weißen Tischlandschaft, alles hell und keimfrei, überall strahlendweiße Tischdecken, akkurat gefaltete Servietten, glitzernde Weingläser und eine emsige Schar von Kellnerinnen ganz in Weiß, denen nur die Flügel fehlen, um wie Engel auszusehen. Wir fühlen uns wie dunkle Eindringlinge im Paradies – wieso hat man uns hier hinein gelassen?

Wir blicken an uns herunter und können kein Weiß entdecken: die rustikalen Schuhe bedeckt mit graubraunem Staub der Geierschlucht, die Rucksäcke dreckig, verschwitzte T-Shirts, die schon gestern nicht mehr sauber waren. Und im Spanien meiner Studentenzeit wäre man in solch ein Restaurant mit kurzen Hosen nie eingelassen worden. "Wir sollten vielleicht die Sonnenbrillen abnehmen, ich glaube, die Leute gucken schon", flüstert Cayetana. Wir blicken in die Runde – die meisten Gäste sind für einen heißen Montag im August beängstigend elegant gekleidet. "Ich glaube, wir sollten wieder gehen, denn wir sind dramatisch underdressed für dieses Etablissement", raune ich ihr zu. Erschreckend laut entgegnet sie: "Auf keinen Fall! Jetzt bin ich hier und habe Hunger – und bei allen, die uns zu lange anstarren, gehe ich nach dem Essen mit dem Hut rum und sammle für unsere Pilgerkasse!" Gesagt und gesetzt. Schon überreicht uns eine der geflügelten Kellnerinnen die Menükarte. Voller Appetit vertiefen wir uns in die Lektüre der extravagant klingenden Kreationen. Aber etwas fehlt. "Hier stehen nirgendwo Preise…" Mit aufkeimender Panik lasse ich die Karte sinken. Cayetana zuckt mit den Schultern: "Zur Not habe ich noch Mamas Visa Card – und jetzt bestelle ich!" Um es gleich zu sagen: es war das Beste, was wir bis Burgos zu essen bekamen. Für die Vorspeise hat man die fünf aromatischsten Tomaten aus dem ganzen Königreich Navarra zusammen gesucht und sie mit einer Zaubersoße beträufelt, die "pimientos de bacalao" (Paprika mit Kabeljau) sind an Köstlichkeit kaum zu überbieten und das Dessert (Himbeersorbet auf Jogurtsahnemousse) ist, wie Cayetana selig lächelnd konstatiert: "todeslecker". Ihr Lächeln hat noch einen anderen Grund. Sie hatte zum Essen ein Glas Rosé bestellt ("Ich will nicht immer bloß Wasser trinken") und die Kellnerin brachte eine ganze Flasche. Ich erlaube mir, meine mutige Begleiterin darauf hinzuweisen, dass uns draußen gleich 40° Grad erwarten. Aber dann helfe ich ihr beim Verköstigen des Roséweins (Zaramandil – ein Traum!).

Ein Silbertablett nähert sich – bringt es das böse Erwachen? Langsam öffne ich die edel gefaltete Rechnung und kann kaum glauben was ich da sehe: 16 Euro pro Person ist für dieses barocke Gastmahl beinahe geschenkt.

Beschwingt verlassen wir das Paradies und finden uns vor seinen Toren in einem grellen Glutofen wieder. Es ist halb vier nachmittags, die Hitze hat eine Dunstglocke über die Landschaft gestülpt. Tapfer marschieren wir den mit gelben Pfeilen markierten Feldweg empor, der uns vor der nahen Autobahn flüchten lässt. Einige Kilometer führt der Weg durch Weinfelder. "Wenn ich all die Weintrauben da hängen sehe, werde ich noch beschwipster…", kichert Cayetana. Eine Viertelstunde später kommen wir kaum noch vorwärts. Ein Königreich für einen Baum, der Schatten für eine Siesta spendet. Doch kein Schatten bis zum Horizont.

Müde von Sonne und Wein schleppen wir uns weiter. Über uns plötzlich ein Dröhnen: der Pilgerweg unterquert die Autobahnbrücke. Schatten! Der einzige im Umkreis von Kilometern. Wir müssen nicht lange diskutieren, breiten unsere Schlafsäcke genau auf dem Schattenstreifen aus, den Rucksack als Kopfkissen. Begleitet vom Geräusch der über uns fahrenden Trucks sinken wir in einen glücklichen Dämmerschlaf.

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Danach geht es wieder bergauf. Diesmal setzt sich Cayetana mühelos durch mit ihrem Protest gegen steile Aufstiege. Wir wagen nicht den brutalen Aufstieg, der über den Gipfelwald des Alto de Aibar führt, sondern wählen die verlassene, parallel zur Autobahn verlaufende Landstraße, die uns weniger steil an unser Ziel Izco bringt. Als wir ankommen, wirkt Izco wie ein Geisterdorf, fast unheimlicher als Ruesta. Kein Mensch zu sehen, nur Hundegebell zu hören. Wir gehen zum Brunnen am Dorfeingang und drehen den Hahn auf. Nichts! Später erfahren wir, der Brunnen sei durch die Dürre versiegt. Wir klingeln an der Pilgerherberge. Nichts! Keine Tür öffnet sich. Cayetana setzt sich auf einen Stein und kämpft gegen die Tränen an, als sie ihre Schwester anruft und sich beschwert, ich hätte sie in ein menschenleeres Kaff ohne Brunnen geführt, der nächste Ort meilenweit entfernt und es würde schon dunkel, sie solle schon mal den Namen Izco notieren und bald hier nach unseren verdursteten Körpern suchen. In diesem Moment steht wie vom Himmel gesandt plötzlich ein kleiner Junge vor ihr und fragt: "Sucht ihr die Herberge? Ich führe euch hin!" Freundlich empfängt uns die Herbergsmutter und zeigt uns das, was wie ein privater Bungalow wirkt. In der "Hausbar" kaufen wir Zutaten und Wein fürs Abendessen. Beim Abschied kündigt die Eigentümerin an, dass gleich noch ein Pilger kommen würde, ein Radfahrer.

Und dann erscheint ER: Alejandro, der Radfahrer. Dunkle Bronzehaut glitzernd vor Schweißperlen. Er streift sich sein Trägershirt über den Kopf wie in einem Werbespot für Duschgel und dann steht er da in seinem Radlerhöschen: muskulös, durch die wochenlange Sonne fast so dunkel wie ein Mulatte, mit Kurzhaar-Frisur, die seine schöne Kopfform betont und auf der linken Schulter ein kleines Tattoo, das einen Schützen (sein Sternzeichen?) zeigt. Cayetana verliert die Contenance (sie weiß gar nicht, wie man das Wort schreibt), stürzt auf ihn zu und bietet ihm ein Glas Rosé an ("schön eiskalt, das wird dich erfrischen!"). Alejandro trinkt einen Schluck, will aber vor dem Abendessen duschen. Ich muss fast Gewalt anwenden, um sie davon abzuhalten, ihm die Dusche zu zeigen. "Er wird sich schon nicht verlaufen, wir sind hier ja nicht im Escorial!" Und flüsternd setze ich hinzu: "Vergiss nicht, wo wir sind: auf dem Camino und nicht auf Ibiza. Du sollst dich hier nicht an solche Bronze-Götter ranschmeißen, sondern den Unsichtbaren suchen." Überflüssig zu erwähnen, wovon Cayetana in der Morgendämmerung träumte, nachdem sie die halbe Nacht wach gelegen und das schlafende Objekt ihrer Begierde im Bett gegenüber angebetet hatte wie einen unerreichbaren Engel.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
www.turismonavarra.es
Etappe Ruesta-Sangüesa: ca. 23 Kilometer, Etappe Sangüesa über Foz de Lumbier nach Izco: knapp 20 Kilometer

Unterkunft in Sangüesa:
Pilgerherberge , C. Enrique Labri, Tel. 650-669547 oder 948-871693: Etwas eng, Bad/WC problematisch (Überschwemmung nach jeder Dusche), alles ein wenig improvisiert ("spontane Wäscheleinen"), aber herzlicher Empfang. Übernachtung 5 Euro

Verpflegung in Sangüesa:
Restaurant ACUARIO (C. Santiago 9, Tel. 948871289): Hier haben wir den besten Bohneneintopf des gesamten Camino gegessen, danach Lamm bzw. Forelle, alles sehr gut und reichlich. (12 Euro Pilgermenü)
Gegenüber: Restaurant Ciudad de Sangüesa (C. Santiago 4, Tel. 948-871021): Wahrscheinlich ähnliches Angebot und genauso gut, aber wir konnten nicht zweimal ein Abendessen mit diesen Portionen bewältigen.

Lumbier:
Restaurant Iru-Bide (Carretera Navascués, hinter der Brücke, kurz vor Autobahn-Auffahrt)
Tel. 948-880435: Hier haben wir das im Text beschriebene beste Essen des gesamten Camino genossen (Komplett-Menü mit Wein 16 Euro)

Unterkunft und Verpflegung in Izco:
Pilgerherberge im Bungalow, sehr komfortabel und viel Platz, Küchenbenutzung, "Ladentheke" mit Preisliste im Wohnzimmerschrank (man kann Zutaten fürs Abendessen kaufen), Übernachtung 8 Euro. Falls vorn am Tor niemand öffnet, ganz hinten herum gehen und folgende Nummer anrufen: 618-894366 (oder 639-050540)

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[art_2] Chile: Treffen auf dem Zentralfriedhof
 
"Hey, DER ist berühmt!" Ich hätte mit dem Mann mit den schwarzen Locken und dem schwarzen Umhang nichts anfangen können, aber zum Glück hatte meine Begleitung ihn direkt gespottet.


Chiles wichtigster Singer / Songwriter steht vor uns, Manuel García, mitten auf dem Zentralfriedhof von Santiago. Weiter hinten Politprominenz, sogar ein ehemaliger Präsident Chiles ist dabei. Wir sind in eine Gedenkveranstaltung für Tucapel Jimenez geraten, einen Gewerkschaftsführer, der vor 31 Jahren von Pinochets Schergen ermordet worden war. Tucapel hatte sich damals als Taxifahrer etwas dazuverdient. Eines Tages dann waren ein paar Männer in sein Taxi eingestiegen und mit ihm eine relativ lange Strecke gefahren. Als sie aus dem Taxi ausstiegen, war Tucapel tot.

Manuel García wartet hinter ein paar Grabsteinen auf seinen ersten Auftritt bei der Gedenkveranstaltung. Dann beginnt er mit seinem Lied "Témpera":

Difícil pensar sin hablar
difícil hacerse un lugar en los labios,
al toro si no es por los cuernos,
difícil llevarlo arrastrando al infierno.


"Nicht nur auf symbolischer Ebene ist das wichtig, sondern auch in Bezug auf die politische und soziale Situation des Landes," erklärt er seinen ungewöhnlichen Auftritt. "Trotz all der Jahre erleiden wir immer noch die Konsequenzen einer sehr schlimmen Diktatur, und es sind immer noch viele Fragen offen. Eine Menge Dinge sind noch nicht geklärt, nicht nur im politischen Rahmen sondern auch in Bezug auf Menschenrechte."

Difícil tocar la guitarra
si el papel mural se desprende por nada
difícil hacer el amor
sin sentir que nos agarramos de una tabla,
si la vida es como un naufragio
que sea feliz el que pase remando...

Angehörige von Tucapel geben Zeugnis über die Diktaturzeit ab, reden über noch nicht verheilte Wunden und ungesühnte Verbrechen. Reden aber auch von einem Neuanfang, von Hoffnung. Bewegende Erinnerungen daran, dass sich dieses Jahr zum 40. Mal der Putsch Pinochets gegen Allende jährt.

Unter den Teilnehmern an jenem Morgen ist auch die Witwe des Sängers Víctor Jara. Einen Tag nach dem Putsch nahmen ihn die Militärs fest. Als erstes brachen sie ihm die Hände, damit er niemals wieder Gitarre spielen würde. Dann forderten sie ihn auf, zu singen. Während er zum letzten Mal seine Stimme erhob, durchsiebten ihn die Kugeln eines Maschinengewehrs. 44 Einschüsse zählte man später in seinem geschundenen Leichnam.

Manuel García kommt noch einmal zurück auf die Bühne, alleine mit seiner Gitarre. Und spielt "Gangrejo azul":

El mar se va enojar
se va a comer su pez
las piedras va a morder
con rabia hasta el final
no quedará un volcán
ni un pájaro esta vez



Nach einem Moment der Stille schließt er die Veranstaltung mit "Viejo Comunista". Die Menge zerstreut sich schweigend:

Un viejo que fuera comunista
se sienta a fumar la tarde entera.
Mientras buena lluvia cae afuera
con voz desnuda el viejo piensa…


Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_3] Chile: Valparaíso (Bildergalerie Teil 2)
Rundgang durch Chiles heimliche Kulturhauptstadt
 
Valparaíso, das Paradiestal, ist nicht nur eine Augenweide, wie unsere Bildergalerie zeigt. Die Perle des Südpazifiks ist auch Chiles heimliche Kulturhauptstadt und Sitz einer gigantischen alternativen Kunstszene.

Weltbekannt sind die bunt gestrichenen Häuser und die mit Graffiti verzierten Wände. Im Plano mit seinem Hafenviertel oder auf den Hügeln, den Cerros herumzuwandern, ist pure Lust. Besonders dank des stets frühlingshaften Klimas. Das hatte einst bereits Pablo Nerudo, Chiles Dichtergröße, gefangen genommen, der hoch auf einem der Berge in seiner schmucken Villa residierte. – Viel Spaß mit unserem bunten Rundgang:

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Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_4] Peru: Muyu Muyu und die Sonnenuhr der Quechua
 
Von Cuzco aus Richtung Norden in die zentrale Sierra auf dem Weg nach Ayacucho liegt nach 20 Busstunden die Ruine von Sondor am Pacucha-See.



Sondor ist ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, mit der die Archäologie sich auseinander zu setzen hat, wenn sie sich mit einer Kultur ohne schriftliche Zeugnisse beschäftigt. Noch dazu, wenn die einzigen Zeitzeugen, die etwas Schriftliches hinterlassen haben, einer anderen Kultur entstammen und nicht unbedingt die Notwendigkeit einer objektiven Berichterstattung sahen. Sondor liegt an einem ausgezeichneten Punkt, der einen Rundblick von vielleicht zehn Kilometern Radius erlaubt. Die Hauptruine besteht aus den Resten einiger Häuser, einem gepflasterten Platz und der Pyramide Muyu Muyu.

Unstrittig ist, dass hier die Chanka gelebt haben, ein Zusammenschluss von Völkern, ähnlich dem der Wari.

Die Chanka waren ein kriegerisches Volk, und es ist sicher nicht übertrieben, dass sie der eigentliche Auslöser für die große Expansion des Inkareiches gewesen sind.

Es wird behauptet, dass Uskuvilca die Völker in einer großen Konföderation einte und als Hauptstadt das nahe Andahuaylas festlegte. Nach etwa hundert Jahren begannen sie sich in Richtung Osten auszubreiten. Zuerst fielen ihnen die friedlichen Quechuas zum Opfer. Ob sie deren Sprache zu diesem Zeitpunkt schon übernommen hatten, ist ungewiss. Relativ sicher ist jedoch, dass sowohl die Chanka als auch die Inka ihre Sprache von diesem Volk übernahmen. Dies lässt sich allerdings nicht aus dem Namen ableiten, wie man vermuten würde. Denn die Inka nannten ihre Sprache selbst runa simi (die Sprache der Menschen) und der Terminus Quechua wurde erst später von den Spaniern eingeführt.

Mit der Expansion berührten sich die damals noch bescheidenen Reiche der Inka und der Chanka, was letztendlich zum Krieg und fast zur Niederlage der Inka führte: Der Inka Viracocha war ein schwacher Feldherr und wusste den wilden Kriegern der Chanka nichts entgegen zu setzen. So zogen diese nach Cuzco ein, zerstörten Sacsayhumán und nahmen die Jungfrauen der Sonne in Besitz. Eigentlich müsste die Geschichte der Inka hier enden. Doch der vermeintliche Sieg machte die Chanka mit der Zeit unaufmerksam und so scharte der dritte Sohn Viracochas, der sich später Pachacutec nennen sollte, um das Jahr 1438 herum ein Heer um sich, das wie durch ein Wunder die Chanka besiegte.

Pachacutec ist es auch, der in den nächsten 25 Jahren die erste große Expansion der Inka vorantreibt. Aber er ist nicht nur ein andiner Alexander oder Dschingis Khan, sondern auch ein hervorragender Städteplaner. Sein Sohn Tupac Yupanqui ist ein mindestens ebenso großer Staatsmann und vollendet das Werk seines Vaters. Als er 1493 stirbt, erstreckt sich das Inkareich von Quito bis Santiago de Chile. Dieses Reich sollte allerdings gerade mal vierzig Jahre überdauern, bis Pizarro an der Küste Perus landete.

Wie man sehen kann, hat nicht viel gefehlt und statt der Inka hätte Pizarro die Chanka vorgefunden, deren Reichesmitte in Andahuaylas gelegen hätte. So aber wurden Orte wie das sehr wichtige Sondor von den Inka besetzt und auch für eigene Zwecke genutzt.

Vielleicht sind es die Baracken am Fuße von Muyu Muyu oder aber auch einfach die vom europäischen Mittelalter vorgeprägten Ideen, die die Chronisten dazu verleiteten, Sondor eine Festung zu nennen. Auch heute noch wird diese Idee vertreten und nur langsam setzen sich alternative Interpretationen durch.

So vertritt der Ingenieur Alfredo Mendoza die These, dass Muyu Muyu einen intiwatana beherbergt. Intiwatana sind heilige Orte der Anbetung der Sonne. Eine Besichtigung der Spitze der Pyramide scheint ihm recht zu geben: ein großer unbeschlagener Stein steht auf dem Platz, der sich vor einem öffnet, wenn man atemlos die vielen Stufen erklommen hat. Er lässt sofort an einen Altar denken.

Die Bauern der Umgebung bestätigen die Existenz des initwatana oben auf Muyu Muyu – ein Name, der sich vom Wort Muyu, Kreis, ableitet. Als Ort der Anbetung ist die Interpretation dieses Kegels als Festung eher unwahrscheinlich, auch wenn der Chronist Cieza de León 1532 von einer solchen spricht. Im gleichen Atemzug nennt er aber Muyu Muyu das "Haus der Sonne", was die Festungstheorie ins Wanken bringt. Unterstrichen wird Mendozas These zudem von Chronisten, wie zum Beispiel Jerónimo Benzoni, der von der Sonnenanbetung auf Muyu Muyu Zeichnungen anfertigte.



Der Körper der Pyramide besteht aus acht großen Terrassen, deren Geheimnis der Ingenieur Mendoza gelüftet zu haben glaubt. Ausgangspunkt seiner Theorie bildet die Bedeutung eines Kalenders für die Chanka, denn der Erfolg der Ernte hängt entscheidend vom Zeitpunkt der Aussaat ab.

Dies erforderte die Beobachtung von Sternen und Mond. Hierzu konstruierten die Chanka Muyu Muyu, eine gigantische Sonnenuhr, die jedoch nicht die Tageszeit, sondern die Jahreszeit misst. Am 21. Juni jeden Jahres fallen die ersten Sonnenstrahlen gegen 6:00 Uhr morgens auf die unterste Terrasse des Kegels. Dieser Tag markiert auch die Wintersonnenwende auf der südlichen Erdhalbkugel, also die längste Nacht des Jahres und das andine Neujahr.

In drei Monaten erreicht das Licht der aufgehenden Sonne die vierte und fünfte Stufe des Tempels, und nach weiteren drei Monaten, am 22. Dezember, der Sommersonnenwende, scheint das erste Licht des Tages um 7:15 Uhr, gemäß Mendoza, genau durch die beiden Steine oder den Sonnenaltar intiwatana auf den Gipfel der Ruine. Danach kehrt die Sonne zurück, bis sie am 21. Juni ihr erstes Licht wieder auf die unterste Terrasse wirft und damit das neue Jahr einläutet. Nach den Untersuchungen Mendozas ist Muyu Muyu also – neben einem Sonnentempel – ein gigantischer Kalender, der es den Chanka erlaubte, wesentlich präziser und einfacher wichtige Momente ihres Jahres, wie Saat und Ernte, vorherzusagen.



Dies widerspricht wesentlich der bisher geltenden Lehrmeinung und wenn die Argumente Mendozas auch sehr überzeugend scheinen, hat er es schwer einen definitiven Beweis zu erbringen. Die klassische Archäologie wird sich von dem Zeugnis der umliegenden Bauern, die auf dem Berg immer noch zu den angezeigten Zeiten ihre Feste feiern, nicht überzeugen lassen.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 04/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]




[kol_1] Macht Laune: Reineta, Palta, Pisco Sour
Auf der Suche nach dem perfekten Genuss
 
Chiles Gastronomie ist der Hammer. Was daran liegen mag, dass man die wunderbarsten Zutaten hat, die in der richtigen Kombination einfach unschlagbar sind.

Da ist die schier unendliche Fülle von Meeresfrüchten und Fisch. Wochenlang hatte ich mich durch die verschiedensten Feinheiten gekämpft, bis ich zu dem Entschluß kam, dass Côngrio in Filetform der Traum aller Träume ist – Meeraal also. "A la plancha" zubereitet, natürlich.

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Was man zu dieser Köstlichkeit begleitend essen sollte? Einen Salat aus "Palta", der chilenischen Avocado, mit Tomaten und "Palmito" – Palmherzen. Mit einem guten Olivenöl übergossen, Pfeffer und Salz – perfekt!

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Zu Trinken? Natürlich würde ein jeder sagen, dass ein guter chilenischer Weißwein das Beste wäre. Aber: Nichts geht über einen Pisco Sour, Chiles Nationalgetränk. Köstlich!

Ich war der festen Überzeugung, das perfekte Mahl gefunden zu haben. Bis ich mangels Alternativen (Meeraal war aus) einen anderen Fisch probierte: die Reineta. Unglaublich! Was für eine Geschmacksfülle. Dazu natürlich der oben erwähnte Salat plus Pisco Sour. Und jetzt bin ich mir sicher: die Reineta ists!

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Wer mir das nicht glauben mag, sollte folgende Restaurants besuchen und selber probieren:
Bar Cinzano - Plaza Aníbal Pinto 1182, Valparaíso
Restaurante Porto Viejo - Cochrane 99, Valparaíso
Restaurante Donde Augusto, Mercado Central de Santiago, San Pablo 967, Santiago

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_2] Hopfiges: Mahou negra
 
Mir geht heute alles, aber auch so richtig alles, auf die Nerven: der ewig weiß-graue Frühling, die Redaktionsheinis und das zu verkostende Mahou negra. Am 31. März, es ist wohlgemerkt Ostersonntag um 8 Uhr in der Früh – hatte ich schon erwähnt, dass es ohne Zeitumstellung, die ich gegen 2.68 Uhr zwischen zwei Runden Tequila in mein Telefon reingequält hatte, noch 7 Uhr wäre – rufen die Pappnasen der caiman-Redaktion bei mir an, um mir wie immer ihr Leid zu klagen: "Hast du nicht noch? Kannst noch mal? Ist wichtig!"



Eine Verkostung nach Tequila und Osterfrühstück ist so ungefähr der sinnloseste Akt am Bierhimmel. Ich wähle daher das Mahou negra unter meinen letzten noch zu verkostenden Mitbringseln aus Spanien. Denn erstens verspreche ich mir so rein gar nichts von dem dunklen Stöffchen TIPO MUNICH und zweitens hab ich die Nacht mit nem Düsseldorfer Altbierverfechter an nem Berliner Tresen verbracht.

Klar kostet es sogar mich, als gestandene Trinkerin, Überwindung, nach einer Nacht wie der letzten zu schnuppern und intelligent dreinzuschauen. Dann ein erstes vorsichtiges Benetzten der Lippen zu vollführen und schließlich mit geschlossenen Augen einen kräftigen Schluck von links nach rechts und von vorne nach hinten laufen zu lassen.

Was für die Cerveza Negra Especial spricht: Ich musste nicht gegen meinen Körper ankämpfen, die schwarze Flüssigkeit überhaupt schlucken zu können und konnte sogar den widerlichen pelzigen Tequilageschmack für Momente ausblenden. Die Mahou negra Verkostung an diesem fern der GUTE LAUNE Morgen hatte bisweilen ein Hauch von positivem Kaffeeerlebnis.

Ich kam mir einen Moment so vor wie anno 96, als ich im extrem klimatisierten Reisebus die gesamte Nacht der Kälte mit Rum getrotzt hatte und sich mir dann in dem ersten Sonnenlicht irgendwo in den Anden in einem rudimentären Büdchen mit dem feinsten, in einer Gaggiamaschine aus den 50er Jahren, gebrühten Marón (halb Espresso, halb Milch) auf einen Schlag die Lebensgeister wieder zu gewandt hatten.

Bleiben wir beim Kaffee. Das Mahou negra gleicht farblich einem schönen starken Café Americano, serviert mit einer kleinen aber feinen Schaumkrone aus der Espressomaschine. Wie der Café Americano ist das Mahou negra süffig und nicht besonders spektakulär im Geschmack. – Was, das Bier betreffend, durchaus als Kompliment gemeint ist.

Mehr Worte möchte ich über den Geschmack nicht verlieren, denn was bei mir als Nachgeschmack präsent bleibt, ist ein fieses, salziges Gefühl des Austrocknens und das würde ich nach besagter Nacht nicht einmal einem Düsseldorfer Altbier unterstellen.

Bewertung Mahou negra

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

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[kol_3] Grenzfall: Grenzgänger in Katalonien 1939 – 1945 (Teil 1) (Teil 2)
 
Die Grenze zwischen dem französischen Rousillion und dem spanischen Katalonien ist eine künstliche. Gezogen infolge irgendeines Erbfolgekrieges im 17. Jahrhundert. Zwischen dem Ende des spanischen Bürgerkrieges 1939 und dem Ende des zweiten Weltkrieges 1945 kreuzten sich an dieser Grenze die Schicksale zehntausender Menschen. Die folgende historisch-fiktive Reportage handelt von diesen Grenzgängern, die die Grenze in die eine oder die andere Richtung überschritten. Sie handelt von ihrer Not, ihren Hoffnungen, ihren Siegen und Niederlagen und ihrem Willen, den Kampf gegen den Faschismus weiterzuführen.

8.Februar 1939: Die spanische Republik ist geschlagen, die Franco-Faschisten haben gesiegt. Ein ungeheurer Flüchtlingsstrom wälzt sich über die Pyrenäen nach Frankreich. Unter ihnen Einheiten des besiegten spanischen Volksheeres. An jenem 8.Februar überqueren Einheiten der Brigade Lister, des 5., kommunistischen Regiments, benannt nach ihrem General, die französische Grenze über die Berge nahe Banyul. Dieser Weg über die Pyrenäen sollte als Route Lister bekannt werden. Lister selbst überschreitet die Grenze mit seiner 11.Division bei Perthus. Er begibt sich sofort nach Banyul zum Gros seines Regiments und ergibt sich dort Bürgermeister Azema ( Ihm werden wir später noch begegnen ).

Die reaktionäre französische Presse schürt Angst und hetzt gerade gegen diese "Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten". Ein Beispiel: 80 Angehörige der Brigade Lister werden unter der Anklage, "Schmuggelware - Schmuck und Gold - durch mehr als sechs Individuen zu Fuß eingeschleust zu haben" (Staatsanwalt laut "Courrier de Ceret") vor Gericht gestellt, allerdings auf Antrag der Verteidigung freigesprochen. Aber egal - die Schlagzeile im "Courrier de Ceret" steht und wirkt.

Die Ironie der Geschichte wollte es, dass genau diese "gefährlichen" spanischen Linken, die in höchstem Maße unwillkommen waren, eine wesentliche Rolle bei der Befreiung Südfrankreichs vom Hitlerfaschismus spielen sollten.

September 1940: Lisa Fittko sitzt im Büro des Bürgermeisters von Banyul, Monsieur Azema, einem kleinen, breitschultrigen Mann, mit dunklen Haaren, scharfen Zügen und klugen, dunklen Augen. Sie organisiert seit einiger Zeit die Flucht von Nazigegnern aus Frankreich nach Spanien, wo sie mit einem Transitvisum ausgestattet, versuchen, nach Portugal zu kommen, um von dort aus das sichere Exil in Übersee zu erreichen.

Der bisherige Fluchtweg über den Grenzort Cerberes ist zu unsicher geworden, er wird von der gardes mobiles inzwischen scharf bewacht. Monsieur Azema schlägt Lisa Fittko einen sicheren, geheimen Schmugglerweg vor, eben jene oben erwähnte route lister. So wird die route lister zur F- route (F für Fittko ).

Laut Monsieur Azema scheint es am sichersten, morgens früh vor Sonnenaufgang mit den Weinbauern losziehen, kein Gepäck - "et surtout pas de rucksack" (Und auf gar keinen Fall einen Rucksack). Der Rucksack ist das sprichwörtliche Kennzeichen der Deutschen.

30.November 1940: Lisa Fittko notiert in ihrem Tagebuch: "Monsieur Azema, unser gewählter Bürgermeister, ist in aller Stille seines Amtes enthoben und durch einen Mann der Petain-Regierung ersetzt worden. Der neue maire ist irgendein collabo-Beamter (Die reaktionäre Vichy-Regierung des General Petain kollaborierte mit den Nazis), der nicht einmal aus dieser Gegend ist. Überall wird jetzt ausgewechselt, vor allem die sozialistischen Bürgermeister, von Kommunisten ganz zu schweigen. Azema ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Er ist nicht am Strand und nicht am Hafen, wo er Leute gegrüßt und sich ab und zu mit jemandem unterhalten hat. Jetzt erinnere ich mich, wie er anfangs gesagt hat, dass er eines Tages vielleicht nicht mehr hier wäre."

Nach dem Ende des Krieges, als Lisa und Hans Fittko in Cuba waren und sich um die Einreiseerlaubnis in die USA bemühten, stellte Bürgermeister Azema, nun wieder im Amt und rehabilitiert, ihr ein Leumundszeugnis aus, in dem er ihre clandestine Flüchtlingshilfe bestätigte.

September 2012: Puig del Mas ist ein ehemaliges Winzerdorf. Die großen Kellereien sind inzwischen alle unten in Banyul, in Touristennähe. Puig del Mas war der Ausgangspunkt für Lisa Fittkos Rettungsaktionen und auch die gefährlichste Stelle ihrer Grenzüberquerung: Hier waren Überwachung und Kontrolle durch die Grenzpolizei am intensivsten.

In Puig del Mas findet sich ein Gedenkort an Lisa Fittko, ein Wegstück aus rostigem Stahl, als Abschluss eine Metalltafel  mit einer Inschrift in französisch und deutsch: "Es war das Selbstverständliche. Dem Andenken von Lisa und Hans Fittko und der vielen anderen. Von September 1940 bis April 1941 führten sie - selbst bedroht - Verfolgte des Naziregimes über die Pyrenäen. Ihre tapfere Tat rettete vielen Menschen das Leben."


Nachempfunden der Installation "Passagen" zu Ehren von Walter Benjamin, ihres berühmtesten Schützlings, in Port-Bou.

Text + Fotos: Wolfgang Hänisch

[druckversion ed 04/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: Neue Stimmen aus Portugal
Maria de Fatima trifft Carminho
 
Die Jazzsängerin Maria de Fatima, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Fadista, lebt seit ihrem 20. Lebensjahr außerhalb Portugals. Sie arbeitete als Lehrerin in Schweden und entdeckte erst mit 30 ihre Leidenschaft für die Musik. Sofort begann sie ein Jazzgesangsstudium in Hilversum und ging dann nach Oldenburg. Heute unterrichtet sie dort und an der Hochschule der Künste in Bremen Gesang.

Gemeinsam mit dem belgischen Bassisten Nicolas Thys und dem deutschen Pianisten Sebastian Altekamp interpretiert sie auf dem ihrer Mutter gewidmeten Album "Stella" vor allem Bossa-Nova und MPB-Titel von Ivans Lins, Antonio Jobim oder Dori Caymmi - aber eben nicht in der gewohnten legeren Haltung und Instrumentierung, sondern intim, im kammermusikalischen Gewand, mit reduzierter Bass- und Klavierbegleitung. Und auch die wenigen portugiesischen Titel klingen nicht vordergründig nach Fado, auch wenn es sich z.B. bei "Medo" um einen ernsten fado castiço des berühmten Fado-Komponisten Alain Oulman handelt. Aber es erklingt eben keine portugiesische Gitarre und auch die Haltung ist nicht so expressiv-traurig wie beim Fado. Trotzdem fließen natürlich Elemente des Fado ein, den Fatima seit ihrem Auslandsaufenthalt sehr schätzt. Sie steuert auch zwei Eigenkompositionen bei, eine davon, "Angustia", mit einem Text der Dichterin Florbela Espanca.

Maria de Fatima
Stella
Pirouet Records

Auf dem neuen Album der Fado-Sängerin Carminho finden sich auch zwei Titel brasilianischer Komponisten – Chico Buarque und Vinicius de Moraes –, die allerdings viel expressiver interpretiert werden als bei Maria de Fatima. Die Instrumentierung ist, mit Piano und Streichern, bei Moraes modernisiert, aber der Gesang eindeutig einer Fadista zuzuordnen. Des weiteren hat Carminho bei der Auswahl ihrer Stücke auf die Ausgewogenheit zwischen Tradition und Moderne geachtet: Traditionelle Fados wie der lebhafte "Fado das Queixas" stehen neben Eigenkompositionen ("Folha"), Balladen ("Talvez") und der Vertonung moderner Lyriker ("Impressão digital").

Carminho
Alma
EMI

Ein schönes Album, das Erfolg über die Grenzen Portugals hinaus verdient hat.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 04/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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