caiman.de 04/2011

[art_3] Venezuela: Durch den Páramo
 
Fahrt auf der Transandina Richtung Norden, die Straße windet sich in Serpentinen den Berg hinauf. Der Bus passiert kleine Dörfer, am Straßenrand sind Kunsthandwerkläden, Posadas (pensionsähnliche Beherbergungsbetriebe), Verkaufsstände und kleine Lokale zu sehen. Erstaunlich, wie stark sich diese Region auf den Tourismus eingestellt hat. Die Venezolaner reisen viel und die Anden sind ein beliebtes Reiseziel der Großstädter aus den westlichen und zentralen Küstenregionen. Jetzt, Anfang Dezember, geht es langsam aber sicher in die Hochsaison über, die Vorweihnachtszeit ist in Venezuela Hauptreisezeit. Hölzerne Werbetafeln preisen das typisch Andine an: Comida típica (regionstypisches Essen), Artensania andina (andines Kunsthandwerk).



Bäuerliches Leben als Verkaufsschlager: das kommt an bei den Landsleuten aus den anderen, viel heißeren Regionen. Die wenigsten Autofahrer scheint es allerdings zu interessieren, was sich rechts und links der Fahrbahn abspielt; zügiges Vorankommen lautet vielmehr die Devise. Das belegen eindrucksvoll die immer wieder zu beobachtenden waghalsigen Überholmanöver, bei denen der jeweilige Fahrer sein Leben aufs Spiel setzt (und das der Insassen), um ein wenig schneller voran zu kommen. Von der Hupe wird fleißig Gebrauch gemacht, man kündigt sich an, damit der evtl. entgegenkommende PKW oder auch voll bepackte Laster seinen gewählten Mittelstreifenkurs korrigiert und man danach mit wenigen Zentimetern Abstand aneinander vorbeirauschen kann. Die Musik im Bus dröhnt, Schmachtfetzen mit Salsarhythmen, dann Reaggaton der aufdringlichen Art.



Draußen verändert sich mit dem Anstieg die Landschaft: es wird karger, das üppige Grün der 2.000 Höhenmeter Region weicht zunehmend der kargen Vegetation des Páramo.

Die Vegetationsform des Páramo ist typisch für die südamerikanischen Anden. Er kommt oberhalb der Baumgrenze zwischen 3200 und 4800 Metern über dem Meeresspiegel vor. Den Páramo kennzeichnet vor allem ein Bewuchs aus Farnen, Kräutern und Gräsern sowie insbesondere die auffälligen sogenannten Schopfbäume und Schopfrosetten. Das Klima ist von großen Gegensätzen geprägt, die sich unter anderem in starken Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht auszeichnen.



Die Gegend wird intensiv landwirtschaftlich bewirtschaftet; wie ein Mosaik fügen sich die Felder an den umliegenden Berghängen aneinander. Der Bus passiert einen Kontrollposten der Guardia Nacional; eine der dort aufgestellten, typischen Bodenschwellen wird in langsamer Fahrt überquert. Ein kurzer, prüfender Blick des Uniformierten und es geht weiter.

Wir fahren unter einem über die Straße gespannten Transparent durch: "El Páramo es por Chávez" (der Páramo ist für Chávez). Eine Region sieht und zeigt rot; rote Fähnchen an den Häusern, aus den Autofenstern, am Straßenrand. Mir fällt unweit des Ortseingangs ein Schriftzug an einer Wand auf: San Rafael, Rojo, Rojito. Zu diesen vielfältigen Sympathiebekundungen gesellen sich noch die zahlreichen Schilder der Regierung selbst: klares, schlichtes Design, mit Hinweisen auf laufende Bauprojekte und einer genauen Auflistung der Verantwortlichkeiten inklusive der jeweils beauftragten Unternehmen.



Die Regierung zeigt Präsenz und es wirkt so, als hätte sich hier in den letzten Jahren doch einiges verändert. Neue Wohnsiedlungen sind entstanden, Investitionen in den Straßenbau sind sichtbar, Gesundheitszentren, Schulen und Sportstätten wurden modernisiert oder komplett neu errichtet. Der Bus erreicht schließlich den höchsten Punkt der Route; ab hier geht die Transandina fast nur noch bergab, um dann in die Tiefebene der Llanos zu münden. Diese Strecke wird in Reiseführern als eine der schönsten in ganz Venezuela bezeichnet.Ich lasse mich jedoch absetzen, die Höhe beträgt 3.600 Meter und die Luft ist dünn. Mal sehen, wie es mit dem Laufen klappt. Ich durchquere das Tor zum Nationalpark Sierra Nevada. Vor mir breitet sich die größte Lagune in den venezolanischen Anden aus, die Laguna Mucubají. - Insgesamt gibt es fast 200 Gletscherseen in der Region.



Ein Steg führt ein Stück weit hinaus. Fotokulisse, ein leichter Wind kräuselt das klare Wasser, Ruhe umgibt mich. Ich genieße einige stille Momente lang das Panorama und mache mich dann auf den Weg zur nahe gelegenen Laguna Negra, mitten durch die Páramovegetation. Es sieht so aus, als hätte hier ein Heer von Landschaftsgärtnern geschuftet, um eine Art künstliche Welt zu kreieren. Kakteengewächse wechseln sich ab mit farbenprächtigen Blumenstauden, alles wirkt sauber abgegrenzt, wie eine Parklandschaft, dazwischen kleine Nadelwäldchen. Nach einer Dreiviertelstunde Fußweg öffnet sich zur Linken der Blick auf ein kleines Tal; eine Steppenlandschaft, in der ein kleiner Fluss seine gewundene Bahn zieht. An den umliegenden Berghängen vollzieht sich ein faszinierendes Spiel aus Licht und Schatten, das die Hänge für kurze Zeit grell aufleuchten und plötzlich wieder in Dunkelheit zurückfallen lässt.



Als ich die Lagune erreiche, treiben Nebelfetzen über dem dunklen Wasser; leichter Regen setzt ein, am östlichen Ende rauscht ein Wasserfall. Der Regen nimmt schnell zu, bereits nach wenigen Sekunden kann ich das gegenüberliegende Ufer nicht mehr erkennen. Ich laufe einen Pfad am Ufer entlang und erreiche die Stelle, wo das Wasser die Lagune wieder verlässt, um sich in mehreren Stufen hinab ins Tal zu ergießen. Die Umgebung erweckt in mir Assoziationen an irische oder schottische Hügellandschaften. Ein Surren in der Luft unterbricht meine Gedankenkette; für wenige Sekunden erscheint ein Kolibri, zum Greifen nahe; er steht förmlich in der Luft und verschwindet dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit im Nebel. Mich wundert es, dieses Synonym der südamerikanischen Tropen noch in dieser Höhe anzutreffen.



Langsam aber sicher zieht es sich weiter zu und der gesamte Rückweg führt durch einen feinen, feuchten Schleier; die Umgebung ist kaum noch zu erkennen. Eine halbe Stunde später sitze ich bereits wieder im Bus, Rückfahrt Richtung Mérida, die Musik dröhnt und scheppert aus den Boxen wie gewohnt.

Text: Christoph Beyer
Fotos: Casa Vieja Mérida + Dirk Klaiber

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