ed 03/2014 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Sechzehnte Etappe: Strahlende Sterne für die Welt
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


mexiko: Geheimsache Veracruz
FELIX HINZ
[art. 2]
ecuador: Musik von dort
Interview mit Daniel Orejuela
TORSTEN EßER
[art. 3]
spanien: Teide im Februar 2014 (Bildergalerie)
DIRK KLAIBER
[art. 4]
amor: Yemanjá ruft
2. Februar in Rio Vermelho
THOMAS MILZ
[kol. 1]
grenzfall: Barcelona - Acht Jahre in der Fremde
NIL THRABY
[kol. 2]
traubiges: Hommage an das Rebhuhn
Bodegas Palacio Rioja Reserva 'Viña Perdiz' 2008
LARS BORCHERT
[kol. 3]
lauschrausch: Andine Folklore modern arrangiert – Mariela Condo
TORSTEN EßER
[kol. 4]
[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Sechzehnte Etappe: Strahlende Sterne für die Welt
 
13. Juni 2013 um 5.55 Uhr. Ein bildschöner Sonnenaufgang erleichtert uns den Aufbruch in Boadilla del Camino. "Heute wird alles gut!" Aufmunternd stupse ich meine wie immer um diese Uhrzeit noch halb im Traum wandelnde Wegbegleiterin Cayetana mit dem Ellbogen an. Sie trinkt in Zeitlupe ihren Kaffee und ist immer noch der Meinung, dass Nutella zum Standardangebot von Pilgerherbergen gehören sollte. In Ermangelung ihrer morgendlichen Droge knabbert sie ein paar Zuckermandeln, die sie irgendwo aus den Tiefen ihres Rucksacks hervor gezaubert hat.

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Wir marschieren durch die vom Licht der aufgehenden Sonne erleuchtete Steppe. Es scheint, als ob Cayetanas nächtlicher Traum schon Wirkung zeigt. Denn zumindest eines wird heute ganz anders sein als gestern: alle Kirchen entlang unseres Weges werden geöffnet sein. Doch zunächst geht es durch die erwachende, von Vogelgesang erfüllte Natur. Der Weg führt uns ein paar Kilometer den Kanal von Kastilien entlang. Üppige Blütenpracht in Gelb und Lila säumt diesen Wasserweg, der im frühen 19. Jahrhundert  für Weizen transportierende Lastkähne gebaut worden war.

Heute nutzen ihn vor allem an Wochenenden zahlreiche Ruderer. Kurz vor dem nächsten Ort überqueren wir eine der Schleusen des Kanals.

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Nach knapp anderthalb Stunden erreichen wir unser erstes Etappenziel: Frómista. Und stehen staunend vor dem erwarteten Wunder. Die Kirche San Martín gilt als die perfekteste Kirche der Romanik in Spanien. Leider ist sie zu diesem frühen Zeitpunkt noch geschlossen. Das gibt uns genug Zeit, die fast tausend Jahre alte "Monster-Galerie" hoch oben an ihren Dachgesimsen zu betrachten. Über 300 Miniaturgestalten blicken meist Zähne fletschend von oben auf die Betrachter. Ein grandioses Sammelsurium des Schreckens, das vielleicht alles Böse von diesen heiligen Mauern fernhalten sollte. Und wohl auch genügend Angst in den Gläubigen weckte, damit diese immer brav beten und mit glänzenden Geldspenden ihre dunklen Seelen ins Licht der Gnade führen konnten. Die meisten dieser von oben herab drohenden Bestien wirken wie eine bizarre Kreuzung aus Löwen, Wölfen und Drachen. Wie Kobolde hocken sie über den Portalen – man glaubt, sie würden einem im nächsten Moment ins Gesicht springen. Neugierig geworden, zoomt Cayetana die Monsterköpfe heran, vergleicht sie und hält die grimmigsten mit ihrer Kamera fest.

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Da die Portale von San Martín noch geschlossen sind, wenden wir uns San Pedro zu. Vor dieser wuchtigen Renaissancekirche mit gotischen Gewölben erhebt sich eine Bronzestatue von San Telmo. Der Schutzheilige der Seefahrer wurde tatsächlich hier, mitten in der Steppe geboren. Wir setzten uns ihm zu Füßen und essen Mandelkekse zum Frühstück. Um 10 Uhr öffnet sich das platereske, von Säulen eingerahmte Tor von San Pedro. Innen beeindruckt uns eine wunderbare Pietà und dahinter ein Renaissance-Altar mit Gemälden. Eine schöne Kirche, die nur das Pech hat, ewig im Schatten der viel berühmteren Martinskirche zu stehen.

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Endlich können wir eintreten in den Tempel von San Martín, ein Traum aus hellem Sandstein. Fast schmucklos auf den ersten Blick ("leer", flüstert Cayetana mir zu), aber die von Lichtreflexen verzauberten Gewölbe und die über 50 genial gemeißelten Kapitelle der Säulen, die wir hoch über uns entdecken, sind Schmuck genug. Obwohl ich mich bemühe, sie abzulenken, indem ich ihr die harmlosen Kapitelle mit floralem Dekor oder den üblichen Monstern zeige, entdeckt Cayetana schließlich doch das skandalöseste Kapitell rechts oben neben dem Altarraum. Gebannt starrt sie in die Höhe und vergisst vor lauter Staunen fast, die Szene der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies zu fotografieren. Fassungslos spricht sie in die Stille hinein: "Da oben, guck mal, das ist ja... Porno!" "Nicht so laut", zische ich. Da grinst sie mich an und flüstert: "Also eins ist mal klar: diese Bildhauer müssen es ganz schön oft getrieben haben, um sowas so gut zeigen zu können." Cayetana spricht seitdem nur noch kichernd vom "Kamasutra-Kapitell" von Frómista und starrt noch eine Weile nach oben, bevor ich sie aus der Kirche hinaus schiebe ins grelle Tageslicht.

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Die Wegetappe hinter Frómista, beginnend mit einer Autobahn-Überquerung vor modernem Pilgerdenkmal, präsentiert sich aber langweilig. Ein Dutzend Kilometer durch öde, fast schattenlose Steppe, die sich wieder scheinbar endlos ausbreitet. Cayetana quengelt, sie fordert sofort eine schöne Sitzbank mit Schatten spendendem Baum. Wie viele ihrer Wünsche, die sie im Lauf eines langen Tages äußert, muss auch dieser unerfüllt bleiben. Zwölf Kilometer, die uns wie eine Ewigkeit vorkommen, schreiten wir am Río Ucieza entlang. (Nur Spanier können auf die Idee kommen, dieses Bächlein "Fluss" zu nennen). Aber immerhin hat dieses Gewässer hier ein Mikroklima geschaffen, das mit seiner blühenden Ufer-Vegetation zahlreiche Schmetterlinge und Vögel anlockt.

Irgendwann – wir glaubten schon, in diesem Leben nirgendwo mehr anzukommen – erscheint am Horizont die burgartige Tempelritter-Kirche von Villalcázar de Sirga. Erschöpft nähern wir uns zur Mittagszeit der Ortsmitte und blicken fasziniert auf das riesige gotische Eingangsportal der Dorfkirche. Und dieser eindrucksvolle Tempel soll nun direkt vor unseren Augen geschlossen werden – Siesta! Doch der Dorfälteste, der mit riesigem Schlüssel in der Hand die meterhohe Tür versiegeln will, lässt mit sich reden und uns zumindest einen Blick hinein werfen. Da sie drinnen kein Gold glänzen sieht, erklärt Cayetana diese Kirche für "leer" und meint gnädig, sie habe genug gesehen und er könne sie nun abschließen und zum Mittagessen gehen.

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Eigentlich sind wir heute schon genug marschiert. Aber als wir im Rathaus gegenüber der Kirche nach der Pilgerherberge suchen, hängt dort nur ein Schild: "Wegen Renovierung geschlossen." Also sind wir gezwungen, weiter zu gehen, die Motivation ist durch die gnadenlose Mittagssonne und den gleichzeitig sehr heftigen Steppenwind auf dem Nullpunkt, in Zeitlupe schleichen wir dem Ortsausgang entgegen. Da weist rechts ein Bronzeschild zum "Gasthof der Tempelritter" (Mesón de los Templarios). Unsere Blicke treffen sich und wir nicken. Drei Sekunden später sitzen wir drinnen geschützt vor Sonne und Wind und haben bestellt. Vorsichtig probiert Cayetana meine kastilische Suppe. "Voll fett!", ist ihr hartes Urteil. Und natürlich ist die Suppe auch fleischhaltig und ich hatte kurz vergessen, dass Cayetana ja in diesem Jahr zur Vegetarierin geworden ist (sie vergisst das, so scheint mir, auch manchmal). Jedenfalls blickt sie nachher von ihrem Salat mit Schafskäse neidisch auf meine Lammkeule. Beim schweren Rotwein hält sie sich aber nicht zurück.

Der nun folgende Endspurt ist abermals eine harte Geduldsprobe: fast 6 Kilometer direkt entlang der Landstraße durch ödeste, wenn auch grüne Steppe. "Hier hat Gott mal Phantasie-Pause gemacht und sich die langweiligste Landschaft ausgedacht, die es überhaupt geben kann", kommentiert Cayetana das platte Panorama ringsumher. Mit schwer gefülltem Magen und weinseligem Kopf kriechen wir unserem Ziel entgegen, das uns vom Horizont nicht entgegen kommen will.

Endlich klopfen wir verstaubt und verschwitzt an die Pforten der Kloster-Herberge des Heiligen Geistes in Carrión de los Condes. Die Nonnen empfangen uns sehr herzlich und eine von ihnen führt uns in einen kleinen Schlafsaal, der sogar richtige Einzelbetten bietet. Auf die Frage, ob denn hier nicht Männer und Frauen getrennte Schlafsäle hätten, meint die Nonne ganz leise mit entzückender Verlegenheit "nein".

Nach einem Rundgang durch den mit Kirchen reich gesegneten Ort folgen wir dem Glockengeläut und begeben uns um 8 Uhr abends zur Pilgermesse, die in Santa Maria del Camino stattfindet. (Ich wundere mich, dass meine Begleiterin spontan mitkommt, ohne dass ich sie überreden muss). Die große Kirche füllt sich immer mehr, bis die Menschen kaum noch hinein passen durchs weit geöffnete Hauptportal – und das an einem normalen Wochentag! Später sehen und hören wir warum. Diese Messe wird nicht – wie so oft in Spanien – von einem unmotivierten Priester vor drei dem Diktator Franco nachtrauernden Großmüttern abgewickelt, sondern voller Leidenschaft gefeiert von einem jungen Priester, der die Pilger mit einbezieht und eine Predigt hält, die eingerahmt am Kirchturm hängen sollte. Zudem begleitet der engelshafte Gesang der Nonnen die Feier und manch ein Pilger ist den Tränen nah. Als der Priester in die Runde fragt, aus welchem Land man kommt, meldet sich Cayetana und sagt trotzig mit lauter Stimme nicht Spanien, sondern "Andalusien". Der Priester lächelt (später wird Cayetana ihn "sogar hübsch" nennen) und bemerkt, dass die größte Gruppe heute – wie so oft - aus Deutschland kommt.

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Am Ende der Pilgermesse versammelt sich die Menge vor der "Jungfrau des Weges" und die Nonnen verteilen kleine, sechszackige Sterne aus Pappe an die Pilger, die ihnen Glück bringen und symbolisch auf dem Weg leuchten sollen für eine gute Ankunft. Ein ebenso einfaches wie wunderbares Symbol. Sehr zufrieden verlassen wir die Kirche, deren Portale während der gesamten Abendmesse geöffnet blieben, damit auch "Spätentschlossene" ohne Hemmungen eintreten konnten. "So gefällt mir die Kirche – mit weit offenen Türen, durch die das Sonnenlicht fallen kann!", kommentiert Cayetana.

Am nächsten Morgen erzählt Cayetana mir von ihrer Traumvision, die ihr im Schlaf erschien: sie steht in einer dunklen Nacht auf einem großen Platz und zaubert aus ihrem lila Rucksack unzählige leuchtende Sterne hervor, die sie an eine riesige Menschenmenge verteilt.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links: Etappe von Boadilla del Camino über Frómista nach Carrión de los Condes: 26,5 Kilometer
www.fromista.com
http://carriondeloscondes.es/index.php/turismo/lugares-de-interes/iglesias/
www.redalberguessantiago.com
www.turismocastillayleon.com

Unterkünfte:
Unterkunft in Frómista: Private Pilgerherberge "Estrella del Camino", Calle Francesa Nr. 26, Tel. 979-810053: Waschmaschine, Trockner, Küche (mit Zeitlimit!), Internet, Garten. Übernachtung 7 Euro.

Unterkunft in Villalcázar de Sirga: Gemeinde-Pilgerherberge im Rathaus gegenüber der Kirche, einfach, aber freundliche Betreuung, keine Heizung (!), warmes Wasser nur durch Münzeinwurf. Freiwillige Spende für Übernachtung erwünscht. (im Juni 2013 wg. Renovierung geschlossen, sollte inzwischen wieder geöffnet sein).

Unterkunft in Carrión de los Condes: Kloster- Pilgerherberge "Espíritu Santo", Orden der Hijas de la Caridad de San Vicente, Calle San Juan (bei Bar España links), Tel. 979-880052; große Herberge mit "richtigen" Betten (keine Hochbetten), Küchenbenutzung, neue Duschräume, schöner Innenhof mit Basketballkorb, sehr freundliche Nonnen, die sowohl im Kloster meditative Abendbegegnung anbieten als auch mit Gesang und Musik die Pilgermesse in der Pfarrkirche Santa María del Camino mitgestalten. Übernachtung 5 Euro.

Essen und Trinken:
Verpflegung in Villalcázar de Sirga: Restaurant "Mesón de los Templarios", direkt am Camino, nicht günstig, dafür aber eines der besten Restaurants der Region, v.a. für deftige kastilische Spezialitäten wie Lammhaxe oder Spanferkel, sehr gut auch der Rotwein "Laveguilla" (Ribera del Duero), Calle Plaza Mayor, Tel. 979-888022. www.mesondevillasirga.com

Verpflegung in Carrión de los Condes:  Restaurant "La Corte", Calle Santa María 36, Tel. 979-880138: kastilische Spezialitäten

Kirchen:
San Pedro (Frómista): Im "Schatten" der berühmten Kirche San Martín, verdient diese stattliche Renaissancekirche (16. Jh.) mehr Aufmerksamkeit: von Säulen umrahmtes, schönes platereskes Portal, im Innern Renaissance-Hochaltar mit Gemälden, davor eine wunderbare Pietà. (Öffnungszeiten 10 - 13.30 Uhr und 16.30 - 19.30 Uhr).

Iglesia de San Martín (Frómista): zu Recht berühmt als die wohl "perfekteste Romanische Kirche des Jakobswegs" (11. Jh.): dreischiffig, außen zwei kleine Rundtürme und Kuppel-Oktogon, über 300 teils bizarre Miniaturfiguren (Monster) an den Dachgesimsen. Innen auf den ersten Blick schlicht, dabei von großer Raumwirkung, im Chor ein gotisches Kruzifix, links Statue des heiligen Martin, rechts Santiago-Statue, größter Schmuck: die über 50 Kapitelle der Säulen, die Tiere und Pflanzenornamente zeigen, aber auch fast wollüstige Nacktheit wie bei der Szene von Adam und Eva rechts oben am Chorübergang, (Öffnungszeiten: 10 - 14 Uhr und 16.30 - 20.00 Uhr, im Winter nur bis 18.00 Uhr), Eintritt 2 Euro.

Iglesia de la Virgen Blanca (Villalcázar de Sirga): monumentale gotische Kirche (13. Jh.), mit riesigem, von Skulpturen überladenem Portal (im Zentrum die namensgebende "weiße Jungfrau"), im Innern gotische Tempelritter-Grabmäler.


Iglesia de Santiago (Carrión de los Condes): romanisch, 12. Jh., aber leider nur noch ein Torso, durch eine Explosion wurde die Kirche zerstört, der moderne Saal beherbergt heute ein kleines Museum, nur das spektakuläre romanische Portal ist authentisch und zeigt Christus als thronenden Pantokrator im Zentrum und die Apostel mit Handwerksinstrumenten als Leute aus dem Volk.

Iglesia de Santa María del Camino (Carrión de los Condes): Romanische Kirche (12. Jh.), Seitenportal mit Stierköpfen, vor dem Hauptportal schöne Madonnen-Säule, innen etwas unpassender Barockaltar und schöne gotische Statue der "Jungfrau des Weges". Stimmungsvolle und bewegende Pilgermesse um 20.00 Uhr.

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Mexiko: Geheimsache Veracruz

Der Taxifahrer konnte einfach nicht glauben, dass wir hier aussteigen wollten, meinte, er wisse es besser und ließ uns direkt vor dem Kraftwerk Laguna Verde aus dem Wagen. Aber wir waren nicht gekommen, um das mexikanische Atomprogramm zu inspizieren, sondern wieder einmal en servicio de Su Majestad. Also mit dem Gepäck die Bundesstraße 180 zurück und einen Feldweg rein in Richtung Küste, an einen Ort mit dem wohlklingenden Namen Punta Villa Rica. Warum wohlklingend? Weil wir auf der Suche waren nach dem ersten Veracruz, das mit vollem Namen einst La Villa Rica de la Vera Cruz del Puerto de Archidona hieß - und somit möglicherweise hier zu finden sein würde.



Abbildung 1
Strand von Punta Villa Rica

Das einstige Veracruz hat bis heute mindestens drei Mal den Ort gewechselt und hier könnte es gewesen sein, wo die Conquistadoren unter Hernán Cortés 1519 die erste spanische "Stadt" auf dem nordamerikanischen Festland errichteten.

Bunt bebilderte, schlecht recherchierte Reiseführer bezeichnen meist das etwas weiter südlich gelegene La Antigua als "die alte" Stelle des einzig bedeutenden Hafens vom einstigen "Neuspanien" (Mexiko) nach Kuba, Hispaniola und Spanien. Im verschlafenen La Antigua speist man angesichts eines Wandgemäldes der marschierenden Conquistadoren und stößt auf einen restaurierten Bau der angeblich ältesten Kapelle Mexikos mit einer Gedenktafel für die "Doce" genannten zwölf Franziskaner, mit denen die systematische Missionierung des Landes begann. Touristenbusse halten an der malerisch mit dicken Wurzeln überwachsenen Casa de Cortés, vor der sogar ein Kanonenrohr aufgebockt ist, das unter Hernán Cortés indianische Heere in die Flucht geschlagen haben soll. Alles Legende! Mit Cortés hat dieses Veracruz so gut wie nichts zu tun.

Wo aber lag die ursprüngliche Conquistadorenstadt, die erste spanische Gründung Neuspaniens? Dies ist heute kaum jemandem bekannt. Ihre Lage war vom erfahrenen Navigator Antonio de Alaminos ausgespäht worden, während Cortés mit der übrigen Truppe noch vor der Insel San Juan de Ulúa am Strand des heutigen und dritten Veracruz lagerte und sich langsam aber sicher von den Mücken zerstechen ließ. Montejo und Alaminos waren schon unter Juan de Grijalva im Jahr zuvor an diesen Küsten gekreuzt. Letzterer kann als der erfahrenste spanische Seemann jener Zeit in mexikanischen Gewässern gelten. Da Montejo 10-12 Tage unterwegs war, muss der fragliche Ort weiter nördlich als La Antigua gelegen haben.



Abbildung 2
Blick von Quiahuiztlán auf Punta Villa Rica


Bei einem genaueren Lokalisierungsversuch hilft die Information des berühmten, schreibenden Cortés-Soldaten Bernal Díaz del Castillo, dass das totonakische Quiahuiztlán, der erste mexikanische Ort, den die Conquistadoren ihrer Herrschaft unterwarfen, eine halbe Wegstunde von Vera Cruz entfernt lag.

Soweit also die Quellenlage. Sind wir hier aber nun richtig? Die einzige staubige Straße ist praktisch tot. Da steht ein Rindvieh bis über die Fesseln im Wasser der sumpfigen Wiesen und kaut und schlägt mit dem Schwanz mechanisch nach allen möglichen Insekten. Ein Esel schreit, dass sich einem die Nackenhaare sträuben. Ein gusseisernes Zufahrtstor trägt die Initialen HC! Zufall oder ein Zeichen? Dann der eindeutige Hinweis: Ein anderes Haus trägt ein Schild: "La Villa Rica de Hernán Cortés." Am Strand ein paar Fischerboote, etwas weiter sogar eine Strandbar - geschlossen. Verschlossen geben sich auch die wenigen Bewohner, auf die wir nach und nach stoßen. Schließlich finden wir jemanden, der uns eine annehmbare Cabaña mit Ventilator vermietet. Auf gelegentliche Strandurlauber ist man offenbar eingerichtet.

Am nächsten Tag endlich der entscheidende Tipp: Pedro fragen. Wer ist Pedro? Pedro kommt. Kleiner, freundlicher Mann in kurzen Hosen. Er führt uns bereitwillig an den Weg zurück, auf dem wir gekommen waren. Geht man den unbefestigten Weg zum Ort hinunter, muss man sich links halten und findet die letzten Ruinen dort, wo das Gebüsch am höchsten wächst. Wer die wirkliche Casa de Cortés sucht, der darf sich also nicht vor Schlangen fürchten, weshalb Pedro mit seinen kurzen Hosen auch auf dem sicheren Weg bleibt. Wir aber schlagen uns ohne zu zögern in die Büsche. Gut 100 Meter muss man sich da seinen Weg bahnen, ehe man auf die Knie hohen Fundamente stößt, die die Truppe der Eroberer zusammen mit den Totonaken legte. Es waren dies die Grundsteine Neuspaniens und der Anfang vom Ende der "aztekischen" Dreibundherrschaft Tenochtitlán-Texcoco-Tlacopán über Zentralmexiko.



Abbildung 3
Fundamente. Detail



Nur wenige Eingeweihte fanden bisher den Ort, über dessen genaue Lage bereits 1580 Unklarheit herrschte. Was ist hier denn nun eigentlich passiert? - Im Mai 1519 zog Cortés auf dem Landweg zu der von Montejo ausgesuchten Stelle. "Man baute eine Kirche, ein Regierungsgebäude; einen Platz; eine Werft; einen Munitionsschuppen, und es wurden Grundstücke verteilt, um Häuser zu errichten [...]. Man baute auch ein befestigtes Haus, oder ein Kastell, alles gemauert", heißt es beim Chronisten Juan de Torquemada. Sie beeilten sich gemäß Díaz del Castillo so sehr, die Fundamente fertigzustellen, damit das Holzwerk darauf gebaut werden konnte, dass der Anführer, Hernán Cortés, der erste gewesen sein soll, der auf dem eigenen Rücken den Aushub für die Fundamente forttrug. Seine Hauptleute und die übrigen Conquistadoren taten es ihm gleich. Einige arbeiteten "an den Fundamenten, andere, indem sie mauerten, Wasser trugen und Kalk brannten, um Backsteine und Dachziegel zu machen, und Nahrungsmittel oder Holz suchten, und die Schmiede, indem sie Nägel herstellten, denn wir hatten Schmiede [unter uns]. Und auf diese Weise arbeiteten wir vom Vornehmsten bis zum Geringsten unablässig daran - auch die Indianer, die uns halfen", so Bernal.

Da Cortés sich von seinem Vorgesetzten und Auftraggeber Diego Velázquez, dem Statthalter Kubas, losgesagt hatte, beruhte seine einzige zweifelhafte Legitimation als rechtmäßiger Oberbefehlshaber seiner Truppe und Oberrichter seines Herrschaftsbereiches auf seiner Ernennung an Königs statt durch den Rat der "Stadt" Vera Cruz.

Zudem mussten eine Verbindung an Velázquez vorbei zum spanischen Mutterland hergestellt, ein erster fester Stützpunkt und ein Ort geschaffen werden, an dem man den bald nötigen Nachschub in Empfang nehmen konnte. All dies leistete La Villa Rica de la Vera Cruz.

Hierher schickte Motecuhzoma seine zweite reiche Gabe. Hier wurden seine Gesandten bewirtet. Noch vor dem Aufbruch des Cortés nach Tlaxkala traf das Schiff des Francisco de Saucedo ´el pulido´ in Villa Rica ein mit 10 Mann, einer Stute und Luis Marín, später einem der fähigsten Hauptleute des Cortés. Um dem geplanten Unternehmen, einen Kriegszug ins Landesinnere zu unternehmen, den Schein von Legitimation zu geben, hielt man es für opportun, wenn der Stadtrat - und nicht Cortés persönlich - einen Lage- und Rechtfertigungsbericht direkt an die Krone verfasste.

Escalante, der oberste Ordnungsbeamte der neuen Stadt, war derjenige, den Cortés mit den Kranken, Alten und Schwachen nebst zwei Pferden und einigen Geschützen während seines Kriegszugs nach Mexiko hinein in Vera Cruz zurückließ.



Abbildung 4
Fundamente des ersten Vera Cruz - dem Vergessen anheimgegeben?


Escalante sollte den Ausbau der Befestigungen vorantreiben und das Umland in Schach halten, d.h. vor allem Cempoala und Motecuhzomas Garnison in Nauhtlán (heute Nautla). Bei Díaz del Castillo heißt es:
"Cortés befahl, alle Kaziken der Dörfer des Berglandes, unsere Verbündeten und Aufständischen gegen den großen Motecuhzoma, zusammenzurufen, und er sagte ihnen, wie sie denen zu dienen hätten, die in Villa Rica blieben, und die Kirche fertigstellten, das Fort und die Häuser; und dort vor ihnen nahm Cortés den Juan de Escalante bei der Hand und sagte ihnen: ´Das hier ist mein Bruder.´ [Und er sagte,] dass sie das tun sollten, was er befehle. Und wenn sie Rat und Hilfe gegen irgendwelche mexicanischen Indianer benötigten, dass sie sich an ihn wenden sollten und dass er persönlich kommen werde, um ihnen zu helfen. Und alle Kaziken erboten sich guten Willens, das zu tun, was er anordne. Und ich erinnere mich, dass sie Juan de Escalante später mit ihrem Weihrauch anräucherten, obwohl er das nicht wollte. Ich hatte schon gesagt, dass er ein sehr fähiger Mann für jedwedes Amt war und zudem ein Freund des Cortés, und mit diesem Vertrauen betraute er ihn mit jener Siedlung und dem Hafen als Hauptmann, damit es Widerstand gäbe, wenn Velázquez jemanden schickte."

Cortés selbst gibt an, 150 Mann zurückgelassen zu haben, doch tatsächlich dürften es weniger gewesen sein. Motecuhzoma zeigte sich ungehalten über den Abfall der erst kürzlich von ihm unterworfenen Totonaken sowie über die baldigen Erfolge des Cortés in Tlaxkala und Cholula. Er wies daraufhin Cuauhpopoca, seinen Kommandanten Nauhtláns, an, gegen Vera Cruz gewaltsam vorzugehen. Nun kam alles auf Escalante an, denn wenn er seine Stellung nicht hätte halten können, hätte Cortés umkehren und seinen Plan aufgeben müssen. Statt sich in Vera Cruz zu verschanzen, entschied Escalante, hombre de sangre en el ojo - so Díaz del Castillo -, dass Angriff die beste Verteidigung sei, und rückte mit den halbwegs Gesunden seiner kleinen Truppe, zwei Kanonen und beiden Pferden aus. Zusammen mit einem ängstlichen totonakischen Heer griff er Cuauhpopoca an. Mindestens sechs Spanier, viele Totonaken und eins der Pferde kostete dies das Leben. Escalante starb schwer verletzt drei Tage nach seiner Rückkehr in Vera Cruz. Man sieht also, dass die Aufgabe der Besatzung von Vera Cruz nicht ungefährlich war. Als Cortés Kunde von deren kritischer Lage in Vera Cruz erhielt, gab es für ihn zwei Möglichkeiten: Entweder zur Golfküste zurückzueilen, um Cuauhpopoca auszuschalten, oder Cuauhpopoca musste zu ihm gebracht werden. Nur Motecuhzoma hatte die Macht, dies zu veranlassen. - War also die Gefangennahme Motecuhzomas, die spätestens am 14. November 1519 erfolgte, (auch) aus der Notwendigkeit heraus geschehen, Einfluss auf die Garnison in Nauhtlán zu gewinnen und die Zerstörung des überlebensnotwendigen Vera Cruz zu verhindern?

Wenig später, im Mai 1520, tauchte Pánfilo de Narváez mit stolzen 1400 Mann, 20 Kanonen und 80 Pferden auf, um die Herrschaft des Diego Velázquez (oder auch die eigene, je nachdem, wie es lief) in Mexiko durchzusetzen. Das war eine riesige Streitmacht für die damaligen Verhältnisse in Amerika. Der neue, Cortés treue Kommandant Sandoval mit seinen 60 Invaliden behielt aber die Nerven und blieb in Vera Cruz, während Narváez den Fehler beging, schon bei San Juan de Ulúa anzulanden und zunächst nur Parlamentäre nach Vera Cruz zu schicken, die Sandoval sofort verhörte und gefesselt und in Hängematten von indianischen Läufern nach Tenochtitlán schickte. Dennoch lag es auf der Hand, dass Cortés nun doch zur Küste zurückkehren musste. Mit weit unterlegenen Kräften konnte er die Truppe des Narváez überrumpeln, aber als er wieder in die Lagunenstadt Tenochtitlán einzog, dem heutigen Mexiko-Stadt, fand er die zurückgelassene Besatzung im Belagerungszustand vor. Der verlustreiche Ausbruch während der Noche Triste hätte leicht das Ende der Conquista bedeuten können, wenn die Tlaxkalteken ihm nicht die Treue gehalten und in Vera Cruz nicht neue Verstärkung eingetroffen wäre. Sie war noch für den bereits geschlagenen Narváez bestimmt, doch den Schiffsbesatzungen war es ziemlich gleich, unter wessen Befehl sie Motecuhzomas Schätze erobern und reich werden würden.




Abbildung 5
Die Conquistadoren auf dem Marsch ins Landesinnere

Inzwischen hatte Cortés seine Herrschaft in Zentralmexiko wieder gefestigt und sich darangemacht, Tenochtitlán zu belagern. Dazu benötigte er kleine Segelschiffe, die er in Tlaxkala bauen ließ. Mit Lastenträgern wurden hierfür aus Vera Cruz das bis dahin sorgfältig aufbewahrte Takelwerk, Segel und Anker geholt. Zu dieser Zeit gelangte auch ein Schiff nach Vera Cruz, das direkt von Spanien kam und drei Pferde, Kugeln und Pulver geladen hatte. Offenbar hatte sich auch im spanischen Mutterland durch die Veröffentlichung der Cartas de relación herumgesprochen, dass man in Mexiko über viel Gold aber wenig Kriegsgerät verfügte.

Am 20.12.1522 stach das Schiff von Vera Cruz aus in See, das den dritten Bericht an Kaiser Karl V. sowie die Goldbeute aus dem geplünderten Tenochtitlán trug - und dem französischen Freibeuter Jean Florin in die Hände fallen sollte. (Dumm gelaufen!)

Die oben genannten Doce, die zwölf Franziskaner, sind am 13.05.1524 wohl schon im nach La Antigua umgesiedelten Vera Cruz (2) an Land gegangen, oder ist auch dies ein Irrtum der dortigen lokalen Geschichtstradition? In dem am 15. Oktober 1524 verfassten vierten Bericht des Cortés heißt es, er habe die Siedlung Vera Cruz (1) inspiziert, um dort einige notwendige Angelegenheiten zu regeln. Der Hafen von Vera Cruz (1) habe sich als nicht sehr gut erwiesen, da er nur wenig Schutz vor den Nortes-Winden bot und bereits mehrere Schiffe dort verloren gegangen seien. (Ob man da einmal tauchen sollte?) Daher habe er sich nach San Juan de Ulúa begeben, um einen besseren zu suchen. In der Konsequenz gaben die Bewohner von Vera Cruz (1) ihre alte Stadt spätestens 1525 auf und siedelten zum Ort des heutigen La Antigua bzw. Vera Cruz (2) über. Die Stadt konnte sich behaupten und blieb bis zu ihrer erneuten Verlegung an die Bucht von San Juan de Ulúa, wo einst ihre ersten Stadträte gewählt wurden und die Gründung der Stadt beschlossen wurde, der bedeutendste Hafen Neuspaniens.

Auch wenn einem bei der Geschichte der Eroberung Mexikos die kleine Siedlung durch die spannenden Ereignisse im Binnenland leicht aus den Augen und dem Sinn schwindet, war sie doch der Angelpunkt der Conquista, von dem aus Motecuhzomas Herrschaft ausgehebelt wurde.

Die heutige Begehung des Areals zeigt Spuren von Probegrabungen, doch eine veröffentlichte archäologische Untersuchung ließ sich nicht ermitteln. Erhalten haben sich oberirdisch nur die steinernen Grundmauern, die zahlreiche größere und kleinere rechteckige Räume markieren. Von einer umlaufenden steinernen Verteidigungsmauer ließen sich keine Reste feststellen, vermutlich bestand diese entgegen des zitierten Zeugnisses von Torquemada nur aus einer hölzernen Palisade mit einigen Wachtürmen und eventuell einem Graben. Möglicherweise war die sich ins Meer erstreckende erhöhte Halbinsel, die man auf den Fotos sieht, mit einem Beobachtungsposten oder einer kleinen Befestigung versehen. Das Areal, in dem sich die steinernen Grundmauern feststellen lassen, beläuft sich auf ungefähr 150 m2. Es muss sich um die kleine Kirche, das Stadtratgebäude, Wohnräume und Lagerbauten gehandelt haben, in denen Nahrungsmittel, Pulver und das wertvolle Takelwerk der demontierten Schiffe aufbewahrt wurde. Es wird auch die bei Díaz del Castillo erwähnte Schmiede gegeben haben, ein Gefängnis, einen Galgen, vielleicht einen Stall für die Pferde und einen kleinen Landungssteg.



Abbildung 6
Blick in den Vorratsspeicher oder Brunnen

Aber kein Gebäude ist ohne Grabung einer genauen Bestimmung zuzuordnen. Eine Ausnahme bildet ein kreisrunder unterirdischer Bau. Hier handelt es sich entweder um einen Brunnen oder, was aufgrund des relativ großen Durchmessers wahrscheinlicher ist, um einen Vorratsspeicher. Das Klima von Vera Cruz ist so feucht und heiß, dass ein solcher etwas kühlerer Lagerraum für Leichtverderbliches wie beispielsweise Getreide unabdingbar gewesen sein dürfte. - Dachten wir und gingen erst einmal ausgiebig baden.

Leider behandelt Mexiko die Stätte nach wie vor wie eine geheime Staatsaffäre. Indianische Ruinen wie die erwähnten von Quiahuiztlán sind in sehr gepflegtem Zustand. Aber zu Cortés hat man in Mexiko noch immer ein - gelinde ausgedrückt - gespaltenes Verhältnis. Besser man wartet den richtigen Augenblick ab, um sich als criado del marqués zu outen. Aber ein Besuch lohnt sich für einen jeden solchen - und sei es, um den Gang hinauf nach Quiahuiztlán zu erleben, die ersten Meter der Conquista Mexikos, und einen Atem beraubenden Ausblick auf die grüne Küste und die sich anschließende Lagune zu genießen. Oder sei es, um einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass Punta Villa Rica, diese historisch bedeutsame Stätte, für die Zukunft etwas würdiger konserviert wird.

Text + Fotos + Videosequenz: Felix Hinz

Website: Wenn euch das Thema interessiert, besucht die Website des Autors: www.motecuhzoma.de/start-deu.html

Buchtipp: Dr. Felix Hinz ist Autor der dreiteiligen Abhandlung
"Hispanisierung" in Neu-Spanien 1519-1568. Transformation kollektiver Identitäten von Mexica, Tlaxkalteken und Spaniern

Gebundene Ausgabe: 874 Seiten

Verlag: Kovac, J; 1. Auflage: Oktober 2005
ISBN: 3830020708

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]






[art_3] Ecuador: Musik von dort
Interview mit Daniel Orejuela

Der in Ecuador geborene Musiker und Tonmeister Daniel Orejuela betreibt das Label "Allá" (http://www.musicadealla.com/), das unbekannten Künstlern aus Lateinamerika in Europa zum Erfolg verhelfen soll. Mit ihm sprach Torsten Esser.

Was hat Dich nach Deutschland verschlagen?
Ich wollte immer Tonmeister werden, und das konnte man 1994 in Ecuador nicht studieren; heute allerdings schon. In Quito habe ich 1993 als Assistent im größten Tonstudio der Stadt gearbeitet und war sehr interessiert an den technischen Geräten. Irgendwann bekam ich die Bedienungsanleitung einer Studer-Bandmaschine in die Hand. Auf Deutsch! Ich konnte kein Deutsch, habe sie aber trotzdem "gelesen" und dachte mir, dass die Deutschen sehr viel Ahnung von Tontechnik zu haben scheinen, darum wollte ich hierhin. Zuerst habe ich in Köln an der Musikhochschule studiert und dann in Holland meinen Tonmeister gemacht. Seit 2005 lebe ich wieder in Köln und arbeite frei für den WDR.

Warum gründest Du im Digitalzeitalter noch ein analoges Label?
Im Jahr 2006 habe ich an der Produktion eines schönen Albums der Gruppe Latin Sampling, fünf Jungs aus Kolumbien, mitgewirkt. Und dann wollten wir ein Label finden und es klappte nicht. Aber weil ich dachte, dass solche Musik einen Platz auf dem Markt verdient, habe ich mein eigenes Label gegründet. Bei allen meinen Produktionen denke ich das, aber das Label ist nicht meine Hauptarbeit, als Tonmeister und Produzent betrachte ich es als "Schaufenster" für die Produkte.

Wie kamst Du auf den Labelnamen "allá"?
Zunächst dachte ich an die Listen, auf denen Labels stehen, und die fangen halt ganz oben mit "A" an, also musste es etwas mit "A" sein. Im Gespräch mit einem Freund kamen wir dann auf "artistas latinos” und dann auf "artistas latinos luchando en Alemania", aber letztendlich ist "allá" tatsächlich Musik von "dort". Denn ich arbeite ja fast nur mit Musikern aus Lateinamerika, also von "drüben".

Wer finanziert die Produktionen?
Die meisten der Produktionen finanzieren die Künstler selbst, aber ich habe auch schon für Alben öffentliche Mittel organisiert, zum Beispiel vom Kulturministerium in Ecuador. Die wollen natürlich schon vorher etwas sehen, also war es gut, schon einige fertige CDs präsentieren zu können. Der Vertrieb funktioniert heute nur noch über das Internet, die Titel sind in rund 300 Shops erhältlich. Die CDs werden nur bei Konzerten verkauft.

Und wie wählst Du die Projekte aus?
Zunächst einmal muss ich eine Sache musikalisch interessant finden, das Label hat keine Richtung, die Musik muss einfach nur authentisch sein. Es sollten die ethnischen Wurzeln zu hören sein in der Musik. Ich habe mexikanische Jazzmusiker aufgenommen, Musik aus Kolumbien, gemischt mit Jazz, und auch folkloristische Musik aus Ecuador, aber kein pasillo o.ä., sondern Folklore, wie sie die jungen Leute von heute sehen und spielen. Es ist Musik, die etwas ist, nicht etwas sein will. Manchmal schicken mir Leute etwas, oft aber finde ich sie auch selbst. Pies en la tierra z.B., vier Musiker aus Ecuador, die eine Vorstellung von folkloristischer Musik haben, die ich faszinierend fand, habe ich auf dem Jazzfestival 2008 in Guayaquil gehört und sofort gedacht, dass ich das in Europa vorstellen möchte. Es ist Jazz, aber Jazz aus Ecuador, und das kann man im positiven Sinne hören. Darum haben wir das Album "Chungo" aufgenommen.

Manchmal spielst du auch mit...
Ja, als Produzent begleite ich den kreativen Prozess meistens von Anfang an. Dann hakt es hier und dort und ich bringe mich ein. Bei Mariela Condo z.B. hatten wir schon einen Studiotermin, aber sie hatte zu einer schönen Melodie noch keinen Text, den habe ich dann geschrieben. Oder wenn ein Gitarrist fehlt, spiele ich schon mal mit. Ich habe auch schon Cover gestaltet, weil es zeitlich eng wurde, aber das war nie mein Ding… Jetzt arbeite ich mit einigen Künstlern aus Lateinamerika zusammen, die die Cover kreieren.

Existieren Unterschiede in der Produktion in Lateinamerika und Deutschland?
Na klar! In Deutschland ist die Technik besser, in Lateinamerika fehlt es manchmal an guten Mikrophonen o.ä., da muss man improvisieren. Aber das ist es nicht allein, es sind auch andere Dinge wichtig: In Deutschland fehlt oft die Zeit etwas noch mal zu überdenken, vor allem weil die Sachen hier insgesamt viel teurer sind, Studiomiete etc.

Nun erzähle mal etwas über einige der Künstler auf "Allá"!
Mariela Condo ist eine ecuadorianische Sängerin, die mir Melodien, Texte und Gedichte gemailt hat. Und irgendwann bin ich nach Ecuador geflogen und habe die Platte dort produziert. Für einige Lieder habe ich die Musik geschrieben, vom Klang her wollte ich etwas Neues ausprobieren, Folkloreinstrumente gemischt mit Cello, modernen Bläsern etc. Die Platte ist in Ecuador gut angekommen, sie wurde im Radio und Fernsehen vorgestellt.

Bei La Mala Maña handelt es sich um Salsa aus Ecuador, 13 Musiker, die ihre eigenen Stücke komponieren. Sie kommen aus Quito und touren in vielen Ländern. Als Produzent war es eine schöne Arbeit, denn ich konnte viele meiner Ideen zur Musik beisteuern. Viele denken ja, dass alles am PC machbar ist, aber das stimmt nicht. Um beeindruckende Musik zu gestalten, sind viele "analoge" Korrekturen nötig.

Filip Bulatovic ist einer der wenigen Nicht-Lateinamerikaner bisher auf "Allá". Diese Platte wurde im Bechstein-Centrum in Köln aufgenommen, wo wir mit einigen Pianisten eine Konzertreihe veranstaltet haben. Und da fiel mir auf, wie gut der Klang dort ist und dann haben wir die Platte gemacht. Was man hört ist live, und darum ehrlich. Vielleicht gibt es ein paar falsche Töne, aber das macht nichts. Echtheit ist wichtiger als Perfektion. Und bald erscheinen auf "Allá" zwei neue CDs mit Musikern aus Puerto Rico bzw. Kolumbien, die im weitesten Sinne Latin-Jazz präsentieren.

Allá-Produktionen (Auswahl):
Mariela Condo – Vengo a ver (2013)
La Mala Maña - Manual de urbanidad y buenas costumbres (2012)
Marco Antonio Sanchez – Lo que trajo el barco (2010)
Pies en la Tierra – Shungo (2010)
Taurinta – Susitikimai (2010)
Filip Bulatovic – Live at Bechstein-Centrum (2009)
Latin Sampling – Secrets (2007)

Text + Foto: Torsten Eßer

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: ecuador]





[art_4] Spanien / Teneriffa: Teide im Februar 2014 (Bildergalerie)
 
Das erste, das letzte und das für die gesamten neun Tage zwischendurch ewig den Blick bannende, weil allgegenwärtig, gigantisch und spektakulär schön, ist der Teide. Der 3718 Meter hohe Vulkan erhebt sich aus einem gewaltigen Krater-Plateau auf 2300 Meter Höhe mit einem Durchmesser von 16 Kilometern.

Diesen durchfahren wir in den späten Nachmittagsstunden von La Orotava im Norden kommend. Den Krater in Richtung Los Gigantes verlassend, tauchen wir ein in einen unvergleichlichen Sonnenuntergang. Aus den Wolken erhebt sich die Nachbarinsel La Gomera. Im Rückspiegel entzündet der Teide ein braun-rot-orangenes Farbenspiel, Seite an Seite mit dem aufsteigenden Vollmond. Nach einer regnerischen Nacht auf Meereshöhe sind Teide und Krater am nächsten Morgen in Weiß gehüllt.

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Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]




[kol_1] Amor: Yemanjá ruft
2. Februar in Rio Vermelho

Die ersten Böller hörte ich irgendwann zwischen ein und zwei Uhr in der Früh, doch statt aufzustehen, schlug ich mir die Decke über den Kopf in meinem bequemen Hotelbett - in der Hoffnung weiteren Schlaf zu finden. Mein Plan bestand darin, gegen sechs Uhr zum Strand von Rio Vermelho zu gehen, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. Mit den Böllern aber nährten sich die Zweifel: kommen wir zu spät, geht die Prozession schon früher los? Doch die Müdigkeit siegte.

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Dieses Jahr fiel der 2. Februar, der Tag von Yemanjá, auf einen Sonntag. Fällt er auf einen Wochentag, so meine Theorie, fahren die Menschen schon morgens früh vor der Arbeit zu dem kleinen Fischerhäuschen, um ihre Blumen abzulegen. Da heute Sonntag ist, werden sie sich Zeit lassen. Theorie, wie gesagt.


Als wir dann gegen sechs Uhr in Rio Vermelho ankamen, jenem durch den weltberühmten Schriftsteller Jorge Amado bekannten Stadtteil an der Atlantikküste in Salvador da Bahia, warteten bereits Menschenmassen in der Schlange. Davor priesen Blumenverkäufer ihre Ware an. 

Man kauft sich Blumen, stellt sich zwischen einer und zwei Stunden in der Schlange an, bis man zu dem kleinen Häuschen hoch über dem Meer vorgedrungen ist. Dort legt man die Blumen und eventuell vorhandene andere Geschenke für die Meeresgöttin ab. Stetig füllen fleißige Helfer geflochtene Körbe mit den Dreingaben, die dann in kleinen Booten hinaus aufs Meer gefahren und dort Yemanjá übergeben werden.

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Wer nicht stundenlang Schlange stehen will, mietet sich am Strand ein kleines Boot und bringt das Geschenk für Yemanjá persönlich hinaus aufs Meer. Als die Sonne über den Häusern von Rio Vermelho aufgeht und den Strand in wundervolle Orangetöne taucht, ist das Meer bereits mit Blumen übersät. 

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Immer mehr Menschen strömen an den Strand. Sie wollen danken für all das Gute, das ihnen im letzten Jahr widerfahren ist. Und Ähnliches für die Zukunft erbitten. Wir haben unsere Blumen bereits abgelegt. Jetzt unterziehen wir uns einem Reinigungsprozess am Strand. Es heißt, dass dieser schlechte Energie aufsauge und Körper und Geist befreie.

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Wir kehren zurück ins Hotel, das Frühstück ruft. Auf dem Weg kommen uns immer mehr Menschen entgegen – singend, trommelnd. Eine Gruppe trägt ein kleines Holzboot auf den Schultern, angefüllt mit weißen Blumen. Salvador da Bahia, 2. Februar. Yemanjá ruft.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]






[kol_2] Grenzfall: Barcelona - Acht Jahre in der Fremde

Die Personen, die wie ich in einem Moment ihres Lebens entscheiden, ihre angestammte mit einer freigewählten Heimat zu tauschen, setzen sich einer völlig neuen Sichtweise, einer ungewohnten Werteskala und einem zum Teil sehr anderen Lebensrhythmus aus.

Mich hat es vor acht Jahren, beinahe zufällig, nach Spanien verschlagen – oder nach Katalonien, wie ich später herausfand. Aus einem momentanen Gefühl heraus wählte ich Barcelona und dessen historischen Stadtkern, den barri gòtic. Mitte Januar erreichte ich dieses Ziel. Nun hatte ich also meinen Traum wahr gemacht und war in Spanien: aber was nun?

Auswanderer berichten immer wieder, dass der Prozess der Integration in Wellen verläuft. Die ursprüngliche Begeisterung flaut ab und wird von einer zunächst meist linguistischen Frustration überschattet, die wiederum – wenn die Sätze länger und flüssiger werden – von einer erneuten Begeisterung für das Gastland abgelöst wird.

Allerdings beginnt man dann bald zu begreifen, dass die größten Barrieren nicht sprachlicher sondern kultureller Natur sind.

Als ich nach Spanien auswanderte, hatte ich keinerlei Idee, was mich dort erwarten würde. Woran ich damals dachte, ist schnell aufgezählt: Sonne, Sand und Meer, Flamenco und Sangría, Velazquez und Quijote. Wenig genug also. Vielleicht dachte ich in meinem uneingestandenen Inneren sogar leicht überheblich und meine Unwissenheit zeigend: was ist das schon im Vergleich zu dem, was mein Herkunftsland zu bieten hat? Welche Überraschung, als ich herausfand, was für ein reiches kulturelles Leben Spanien in der Vergangenheit prägte und in der Gegenwart besitzt. Natürlich entdeckte ich das erst nach und nach. Auch brauchte ich anfangs dieses Wissen nicht, denn für den "Anfänger" sind die Unterschiede zwischen den europäischen Großstädten verschwindend klein. In Berlin sind es die Schrippen, in Barcelona die cruasans, die man beim Bäcker kauft. Die Essens- und Ausgehzeiten verschieben sich nach hinten, die Leute scheinen ausgelassener und die Lautstärke ist deutlich höher. In diesen Oberflächlichkeiten erschöpft sich die erste Betrachtung. Wer nach einem oder zwei Jahren zurückkehrt, wird kaum mehr zu berichten haben. Diejenigen jedoch, die die anfängliche fiesta überwinden, müssen – oder dürfen – sich mit einer ganz anderen Lesart auseinander setzen. Nicht alles ist Gold, was glänzt – nirgendwo.

In dieser zweiten Phase beobachtet man dann häufig die ersten Anzeichen einer Glorifizierung der eigenen Heimat, denn als Ausländer hat man immer die Möglichkeit, alles Schlechte auf das Gastland zu schieben und alles Gute dem Herkunftsland zuzuschreiben. Davon keinen Gebrauch zu machen, erfordert ein gutes Stück Bescheidenheit.

Wer aus dem selbsternannten Land der Dichter und Denker stammt, für den ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass der Roman nicht dort, sondern in Spanien erfunden wurde. Wer den deutschen Laubwald liebt, wird in den hiesigen Pinienwäldern nicht das Gesuchte finden. Wer das sonntägliche, ausgedehnte Frühstücksbüfett schätzt, wird sich enttäuscht dem kläglichen Gebäck ausgesetzt sehen, das man hier Frühstück nennt. Wer gewohnt ist, dass Familie ein notwendiges, meist aber vermeidbares Übel ist, wird den sonntäglichen Mittagessen in Spanien mit Geschwistern, Tanten, Onkeln und Großeltern verwundert und vielleicht sogar unwillig gegenüber stehen. Das einzige Antidot ist Offenheit, gepaart mit Respekt.

Wer sich dem verschließt, wird keine gute Zeit verleben. Wer sich dem öffnet, bekommt die Möglichkeit an die Hand, einen ganz neuen Weg – den eigenen – über die Synthese der beiden Kulturen zu finden.

Anfangs sprach ich lediglich von einem oder zwei Jahren, die ich hier verbringen wollte. Ich wollte Neues entdecken, eine andere Haltung dem Leben gegenüber kennen lernen. Erst heute, nach acht Jahren also, beginne ich zu begreifen, was meine eigenen kulturellen Wurzeln sind und worin die so subtilen und doch so wichtigen Unterschiede zu der Kultur meines Gastlandes bestehen. Ich weiß jetzt, dass ich niemals ganz dazugehören werde – weder hier noch dort. Ich weiß auch, dass es nicht einfach ist, zwischen den verschiedenen Werteskalen und Lebensrhythmen hin und her zu schalten. Ich habe erkannt, wie schwierig es ist, zu akzeptieren, dass die eine, die richtige Sichtweise auf das Leben nicht existiert. Ich kenne auch meine kulturellen Grenzen besser – denn nicht alles geht, auch wenn man noch so viel Bereitschaft für das Andere zeigt.

Wer sich mit einem anderen Land wirklich in seiner ganzen Tiefe und Breite auseinander setzen will, hat sich eine schwere und langatmige Arbeit aufgebürdet, die letztendlich zu einem Dilemma führt. Wo gehöre ich hin? Selbst wenn man in der Lage und noch dazu bereit wäre, sich vorbehaltlos in das Gastland einzufügen und die eigene Kultur aufzugeben, so bleibt man doch in den Augen der Gastgeber stets ein Ausländer – positiv oder, grauenhafte Vorstellung, negativ diskriminiert.

Es ist bekannt, dass Ausländer neben der erwähnten Glorifizierung auch zu einer gewissen Ballung neigen. Dieses Phänomen – oft als Bedrohung empfunden – ist zum Teil schlicht die Konsequenz des komplizierten Aktes der Integration. Es ist so viel einfacher, sich den alten Ideen zu verschreiben als die neuen zuzulassen. Und es ist so schwierig, aus neuen und alten eigene Ideen zu machen.

Konfrontiert mit der Erkenntnis, dass eine vollständige Integration schlicht unmöglich ist, stellt sich die Frage, was das Gastland eigentlich von den Gästen erwarten darf. Ich persönlich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Beste, was ich meinen Gastgebern entgegen bringen kann, die Achtung ihrer Werteskala und das Verständnis für ihren Lebensrhythmus ist. Die einfache Erkenntnis, dass an jedem Punkt der Erde das Leben anders interpretiert wird und dass diese Interpretation von uns Reisenden oder Ausgewanderten a priori akzeptiert werden muss, sollte der wichtigste Grundsatz sein.

Der gute Teil der Nachricht ist schließlich, dass wir in der Lage sind, selbst zu entscheiden, wie viel wir davon in unser eigenes Leben einfügen möchten.

P.S.: Wen dieses Thema interessiert und wer Gelegenheit hat, sich den spanischen Film "Al sur de Granada" anzusehen, sollte diese nicht ungenutzt verstreichen lassen. Der Wert des Films besteht weniger in der etwas folkloristisch-vereinfachenden Darstellung eines südspanischen Dorfes Anfang des Jahrhunderts, sondern eher in der Behandlung des Themas "In der Fremde".

Text: Nil Thraby

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_3] Traubiges: Hommage an das Rebhuhn
Bodegas Palacio Rioja Reserva 'Viña Perdiz' 2008
 
100 Prozent Tempranillo, 100 Prozent pure Rioja – das ist die Reserva ‚Viña Perdiz’ des traditionsreichen Weinguts Bodegas Palacio aus dem Herzen der Rioja. Unter Weinkennern gilt die 120 Jahre alte Bodega sogar als legendär, weil sie schon Maßstäbe in Spaniens bekanntester Weinbauregion setzte, als es die meisten der heutigen renommierten Bodegas noch nicht einmal gab. Die Weinberge liegen in den besten Lagen der Rioja und der Keller gehört mit mehr als 12.000 Fässern zu den größten auf der Iberischen Halbinsel.

Mit der Edition Viña Perdiz hat die Bodega den in der Rioja unter Weinmachern besonders beliebten Rebhühnern eine Hommage gewidmet. Denn dort betrachtet man sie als einen Indikator für ein gesundes Umfeld im Weinberg. Die Entscheidung, diesen Wein zu 100 Prozent aus Tempranillo zu vinifizieren, ist eine weitere Hommage – an die älteste aller spanischen autochthonen Rebsorten. Zugleich ist sie die Hauptrebsorte der Rioja. Untersuchungen ergaben, dass es sich bei Tempranillo um eine Kreuzung der weißen Rebsorte Albillo Mayor mit der roten Benedicto handelt.

Der Name leitet sich vom Wort temprano ab. Tempranillo heißt deswegen so, weil die Beeren kleiner sind und etwas früher reif werden. Die dickhäutigen Schalen helfen dabei, dunkle, langlebige Weine zu erzeugen. Sie verleihen dem Wein seine kräftige Struktur und seinen duftig-intensiven Charakter. Die Weine haben ein großes Reifepotential im Holz und zeichnen sich durch ihre weichen Tannine aus. Ihr besonderer Charakter kommt vor allem durch den Ausbau im Eichenfass zur Geltung. Das trifft auch auf die Reserva ‚Viña Perdiz’ zu. Der Ausbau in den 225 Liter-Barriques aus amerikanischer und französischer Eiche dauerte ein Jahr, auf den weitere zwei Jahre Flaschenreife folgten.

Es lohnt sich, diesen Wein einige Zeit atmen zu lassen. Dann entsteigen dem Glas ganze Wogen üppiger Aromen. So intensiv, dass es zuerst schwer fällt, sie zu einordnen. Aber ganz sicher sind darunter Anklänge an dunkle Beeren, rote Kirschen, Tabak und feinste Gewürze, vor allem Nelken. Am Gaumen präsentiert sich eine erstaunliche Fülle mit herrlich saftigen und reifen Walbeerennoten, Wacholder und grüner Paprika. Zugleich erinnert der Wein an Pflaumenmus, und einen Sud aus Kardamom und Nelken, Lavendel, Rosmarin und Thymian. Seine Gerbstoffe sind ganz zart, ganz weich präsent und werden vermutlich in den kommenden Monaten weiter abschmelzen. Zum Schluss beeindruckt ein leichter, angenehmer Abgang mit zart rauchigen Noten.

Viva la Rioja!

Text + Foto: Lars Borchert

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges]





[kol_4] Lauschrausch: Andine Folklore modern arrangiert – Mariela Condo
 
Aus Ecuador stammt die Sängerin Mariela Condo. Ob sie Sally Oldfield kennt, weiß ich nicht, aber ihre Stimme und ihr Gesang klingen exakt so. Ihre surrealen Texte über den Tod, das Leben und die Liebe werden vorrangig von andinen Flöten und Saiteninstrumenten begleitet, gut gemischt mit zeitgenössischen Bläsersätzen und / oder Cello. Instrumental und rhythmisch andine Folklore, deren moderne Arrangements stilistisch partiell aber auch an einen Schumann-Liederabend oder an Neue Musik erinnern.

Vengo a ver
Mariela Condo
Allá Rec.

In Erinnerung an ihre Großeltern interpretiert Condo zwei Klagelieder ("Manila", "Kikilla") in Kichwa, einer regionalen Mundart des Quechua, in denen es um die Einsamkeit und einen verstorbenen Sohn geht. Ein schönes Album moderner ecuadorianischer Folklore, das man sehr bewusst und nicht nebenher hören sollte.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 03/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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